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Alexis
Es ist immer das Gleiche mit ihm! Ich stelle mich ans Fenster und starre auf den Hinterhof. In den anderen Wohnungen gehen langsam die Lichter an. Ein friedlicher Frühlingsabend. Als Jugendliche habe ich oft so dagestanden und beobachtet, wie sich die Konturen der Welt um mich herum langsam auflösten, von der Dunkelheit verschluckt wurden und dann neu geboren werden in einem beleuchteten Fenster hier und einem da, wenn in den Häusern der Nachbarschaft die Lichter angingen wie kleine Inseln. Ich habe mir vorgestellt, jemand steht hinter mir und hält mich eng umschlungen. Nur wir beide. Das ist das Glück!
Ben macht immer nur sein Ding. Wenn ich mitmache, gut. Wenn nicht, dann eben nicht. Anfangs habe ich das bewundert, weil er so ganz bei sich ist. Wir sind jetzt über ein Jahr zusammen und nächstes Wochenende will ich ihn endlich einmal meinen Eltern vorstellen. Bisher hatte er immer eine Ausrede. Ma hat gefragt, ob wir mit Ihnen zu den Gregers gehen, die geben eine Party. Es ist ewig her, dass ich sie gesehen habe. Aber wenn Ben mitkommt, wird wohl eher nichts draus. Er ist nicht so der Familientyp.
Ich drehe mich weg von all den heimeligen Lichtern, nehme mir ein Glas Wein und setze mich an den wackeligen Küchentisch. Ich ziehe die Knie an und kuschele mich zusammen, wie ein kleines Paket, tröstlich, mich selbst zu spüren. Meine Mitbewohner sind nicht da. Auf Ben brauch ich auch nicht zu warten. Der wird in meinem Zimmer weiter mit seinen Freunden chatten. Er ist mir noch kein einziges Mal nachgekommen, wenn wir uns gestritten haben. Wahrscheinlich ist ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich sauer bin. Gut so! Ich will jetzt einfach meine Ruhe haben, trinke einen Schluck von meinem Wein und denke an die Gregers.
Thomas Greger war ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters und daraus ist eine richtige Freundschaft entstanden. Eigentlich die einzige, die meine Eltern so hatten. Denn sie hatten ja einander und das genügte ihnen. Doch Greger hat es irgendwie geschafft, sie ab und zu aus ihrer Zweier-Welt hinaus zu locken. Und dann tauchte auch ich auf aus der Stille meines Kinderzimmers und ließ mich mitreißen vom Trubel des Gregerschen Hauses. Sabina Greger ist Griechin und sobald ich ihr Haus betrat, wurde ich zum Teil ihrer Gemeinschaft. Zum griechischen Osterfest oder zu einem der vielen Geburtstage wimmelte das Haus vor Gästen: die sechs Kinder, Oma, Opa, die Onkel, Tanten, Freunde der Kinder und dazwischen unser Kleinfamilie: Mama, Papa und ich. Es wurde immerzu gegessen und viel gespielt und wir Kinder hatten alle Freiheiten. Ich habe mich immer gefragt, wie in einer so großen Familie noch Platz für mich sein konnte, aber es gab ihn.
Während ich mein Glas austrinke, überlege ich, wann ich die Gregers das letzte Mal gesehen habe, aber eigentlich weiß ich es ganz genau: es war das Abschiedsfest, mit dem die Familie sich für fünf Jahre in die USA verabschiedete und ich war fünfzehn.
Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, rollte sich Ben wie ein zufriedener Kater in meinem alten Kinderbett zusammen und studierte die neusten Basketballergebnisse auf seinem Handy. Er hat sogar eingewilligt auf diese „blöde“ Party zu gehen, wenn wir danach noch durch die Altstadtkneipen ziehen.
Ich gehe unter die Dusche. Lasse das Wasser über meinen Kopf rinnen. Und mache den Mund auf. Das Wasser läuft wie ein Vorhang daran vorbei. Nicht hinein. Die Greger-Kinder waren alle ganz unterschiedlich. Jeder war auf seine Art besonders und Teil eines großen Familienpuzzles, während ich mir manchmal fast unsichtbar vorkam, immer auf der Suche nach meinem Platz in der Welt. Doch wenn ich an die Abschiedsparty der Gregers denke, ist da wieder dieses Kribbeln im Bauch. Für einen Moment bin ich ganz real, sehe mich in seinen dunklen Augen, spüre wie seine Hand eine Strähne meines Haares aus dem Gesicht streicht. Es fühlte sich so anders an, anders als alles, was ich bis dahin kannte. Seltsam, dass ich so viele Jahre nicht daran gedacht habe und dieses Gefühl doch so deutlich ist, als würde alles genau jetzt geschehen, in diesem Moment.
Dann spüre ich, wie Ben hinter mich tritt. Und ich sehe es in Alexis Augen. Sie werden ganz dunkel. Das Gold verschwindet. „Das ist mein Freund Ben.“ Sage ich und drehe mich zu ihm um. „Ben, das ist Alexis Greger. Es ist seine Party. 18. Geburtstag.“ „Na dann, alles Gute zum Geburtstag, Alter“, sagt Ben und drückt ihm den Blumenstrauß, den ich für Sabina gekauft hatte, an die Brust. „Danke“, Alexis macht einen Schritt zurück und lässt uns ins Haus. Er war schon immer das schweigsamste der Greger – Kinder.
Marta, die Mittlere der Schwestern, kümmert sich derweil um Ben und hält mir den Rücken frei für all die vielen Fragen und Umarmungen. Er scheint ganz zufrieden und erzählt ihr vom Basketball. „Ich fass es nicht, dass du mal wieder auftauchst“, sagt Niklas und drückt mir ein Mixbier in die Hand, um mit mir anzustoßen. „Wie ist es so in Berlin? Wenn ich das Abi fertig habe, will ich auch in die Großstadt. Köln oder Berlin. Das wäre cool.“ Er will wissen, welche Clubs gerade in sind und ob er mich mal mit einem Kumpel besuchen kann. Ich freue mich, dass er nichts von seiner quirligen Art verloren hat, obwohl er jetzt 16 und ein Teenager ist und versuche all seine Fragen zu beantworten. In meinem Rücken spüre ich die Blicke von Alexis.
Ein hübsches blondes Mädchen mit langen Haaren zieht Alexis zur Tanzfläche. Er sträubt sich, gibt aber dann nach. Wie groß er ist und wie gut er sich bewegt! Die Kleine macht ihn richtig an. Sie sind ein schönes Paar. Ich habe mich von Niki abgeseilt und gehe in die Küche. Auch hier stehen überall Grüppchen. Es gibt Unmengen von Leckereien. Ich schnappe mir ein paar Oliven und ein Stück Brot, schließe die Augen und kaue. Die Oliven sind herrlich würzig und voller Öl. Ich höre das Lachen und Reden. Als ich die Augen öffne, sehe ich Ben mit ein paar Mädels flirten. Er trinkt schnell und ich beschließe, es bei meinem einen Bier zu lassen, weil er uns mit Sicherheit nicht nachhause fahren kann.
Die Party ist anders, als beim letzten Mal. Es fehlen die Kinder. Damals haben wir Fange gespielt. Eigentlich war ich schon zu alt dazu. Marta, die genauso alt ist, wie ich, hatte damals ihren ersten Freund und ich war ein bisschen neidisch auf sie. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich es genossen, mit Niki und seinen Freunden zu toben. Und mit Alexis. Ich war noch so kindlich. Wir waren beide noch Kinder. Er hat es längst vergessen. Ich hatte es längst vergessen. Es hatte nichts zu bedeuten.
Ich stehe an den Türrahmen der Küche gelehnt und beobachte das Treiben um mich herum. Es ist eine gute Party. Alle haben Spaß. Sogar Ben. Alexis steht jetzt am Rand der Tanzfläche. Das blonde Mädchen, dicht neben ihm, erzählt und lacht. Seine Freunde stoßen mit ihm an. Er schaut zu mir herüber, wenn er denkt, ich sehe es nicht. Die Kleine wirft mir einen bösen Blick zu.
Ben kommt zu mir. „Können wir den Kindergeburtstag jetzt verlassen?“ fragt er viel zu laut. Er ist betrunken und erntet ein paar irritierte Blicke. Ich habe noch keine Lust zu gehen, aber mit Ben hat es keinen Sinn zu bleiben. „Ich sag noch schnell tschüss und dann gehen wir, o.k.?“ „Dann leg mal los, Süße!“ sagt er und schnappt sich noch ein Bier. Ich tausche mit Marta schnell noch die Handynummern, bedanke mich bei Sabina und Thomas, sage Niki, er soll sich auf jeden Fall melden, wenn er Lust auf einen Trip nach Berlin hat. Ma informiere ich, dass wir noch in die Stadt fahren und dann gehe ich rüber zu Alexis.
„Ich muss los.“ Ich nicke in Richtung Ben.
„Klar!“ sagt er. Seine Stimme klingt heiser. „Ich bring dich noch …“
„Nein, lass mal. Ich finde schon raus. Hab noch viel Spaß mit deinen Freunden!“ Ich dreh mich um, Ben steht schon an der Tür und wir gehen.
Ich erinnere mich, wie Alexis mich fast eingeholt hatte, als ich über den Teppich gestolpert bin. Ich landete langgestreckt auf dem Bauch und Alexis fiel auf mich. Wir mussten kichern. Seine Locken kitzelten an meiner Nase, als ich versuchte mich umzudrehen. „Ich hätte auch gern Locken!“ „Aber du hast so schöne rote Haare!“ Er nahm eine Strähne und strich sie mir aus dem Gesicht. Ganz sanft. In seinen Augen gab es nur mich. So hatte sich noch nie etwas angefühlt. Mein Herz klopfte und ich lag da und hielt den Atem an.
„Jippey!“ Nicki schmiss sich mit Kriegsgeheul auf uns. Und dann rief Ma, wir mussten los und Alexis ging für fünf Jahre in die USA. Ich bekam meinen ersten Kuss. Hatte meinen ersten Freund. Zog rum. Traf Ben. Alexis war vergessen. Warum ist er jetzt in meinen Gedanken? Warum schickt er diese What´s App-Nachricht? Er ist viel zu jung. „Kindergeburtstag“ hat Ben gesagt.
Es klingelt an der Tür. Ich zucke zusammen. Ben? Es wäre das erste Mal, dass er etwas nicht einfach aussitzt. Aber egal, es ändert nichts! Ich öffne die Tür und schaue in braune Augen halb verdeckt von schwarzen Locken.
„Was machst du denn hier? Hast du nicht Prüfungen?“ In meinem Kopf purzelt alles durcheinander. „Die sind erst in zehn Tagen. Maja, ich kann so nicht lernen, ich kann mich auf nichts konzentrieren. Ich kann an nichts anderes denken, als an dich.“ Seine Lippen sehen so weich aus. Sie zittern. Er steht vor mir trotzig, unsicher, groß. So verletzlich, so offen und so jung. Er hat eine Sporttasche über der Schulter, die er krampfhaft festhält. Seine Augen schauen tief in mich hinein. Forschend, selbstbewusst, mutig. Er weiß, was er will. Und ich?