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Alexandra fährt nach Rom
Kann Alexandra Wien für eine Zeit nicht lieben, fährt sie nach Rom. Wenn nicht in Wahrheit, so dann im Geiste. Tauchen sie wieder auf, jene unheilvollen Gestalten ihrer Vergangenheit, oder wird ihr das geliebte heimatliche Wien ein wenig zu eng, muss Alexandra nach Rom. Rom kann sie auch lieben, und wie sie es lieben kann. Auf das Innigste, doch auf ganz andere Art, als die Stadt ihrer Geburt.
Diesmal fährt sie wahrhaftig nach Rom, nicht nur im Kopf. In Rom weiß sie, gibt es keine Gespenster aus dem Damals, hat sie doch dort nicht ihr gesamtes Leben verbracht, keine Jugend durchlitten, keine Nattern als Begleiter gehabt. Deshalb schmeckt ihr Rom, deshalb riecht es ihr so gut. Neue Zeit gibt es dort kaum, auch Neue Welt nicht. Beiden gelingt es nicht, die dicken Mauern zu durchdringen, sind doch Jahrtausende alt die meisten, hatten widerstanden, nahmen nichts auf. In ewiger Gleichmut stehen sie da, die Ruinen, die Paläste. Zumindest in den Rioni innerhalb der Stadtmauern.
Andere Orte hat sie versucht, keiner erwies sich als zulänglich. Rom ist ihr geblieben, als einziger Fluchtpunkt. Alexandra wird sich dort in den Ritzen und Spalten verkriechen, sich vor dem vor dem Neuen dort verbergen. Das eigene Vergangene wird für kurze Zeit verschwinden, sich auflösen im Dunst der Ewigen. In Rom kennt sie niemand, sie hat daher nichts zu befürchten. Manches Mal scheint es ihr, als ob ihr die Stadt alleine gehöre. Erträglicher scheint ihr die Welt, wenn sie sich Rom erläuft auf altem Pflaster, durch lärmige Straßen und enge Gassen. Lange Stunden ertritt sie sich die Stadt, Meter für Meter, bis die Füße schmerzen. Kein Glück, kein Unglück überrascht sie hier, kein Ungemach, keine Wut vergiften sie. Rom nimmt sie nicht einmal zur Kenntnis, Alexandra kann sie selbst sein.
Beschenkt wird sie reichlich mit Düften, Geräuschen und unscheinbaren Schönheiten, an welchen der Zahn der Zeit bereits jahrhundertelang nagt. Alexandras Rom besteht aus verwitternden Kleinigkeiten, filigranen Figuren in Hinterhöfen, auf Fassaden, aus Säulen und Bögen umwuchert von Gewächs, aus Grashalmen, die aus den Ritzen der Gemäuer hervorsprießen, aus Brunnen an einsamen Plätzen.
Die Schreie der Gemarterten hört sie im Kollosseum, das Wehklagen der Kriege, der Schlachten, das Gegröle der Triumphe am Forum, doch ist es nicht ihr Schmerz. Bilder verlebendigen sich in ihrem Kopf. Viel Schönes, so manch Grausames. Jedoch sind es die Bilder Roms, nicht ihre. In Wien auferstehen ihre Peiniger aus heiterem Himmel, unvorhersehbar, schneiden Fratzen, drohen sie mit ihren Krallen zu reißen. Rachegedanken keimen in ihr auf. Richter sitzen mit ernster Miene zu Gericht und verurteilen ihre Peiniger zum Tode durch qualvollste Strafen. Leiden lässt sie jene, die ihr angetan haben. Gelenke knacken aus auf den Streckbänken, Häupter werden von Rümpfen getrennt, langsam schneidet das Beil, Feuereisen brennen auf Haut. Blut spritzt, Fleisch wird zerfetzt, das schmerzerfüllte Brüllen, das Wehklagen und Wimmern schaffen ihr Genugtuung. Die Richter sehen zu, kein einziges Zucken in ihren Gesichtern. Es geschieht Recht. Alexandra hat es sich antun lassen, sie braucht deshalb die Richter. Sie hat es nicht zu Stande gebracht, sich zu wehren, um sich zu schlagen, die Peiniger zu verjagen, so wendet sie sich an die Richter, jedes Mal, wenn die Geister erscheinen. Sie benötigt die Verhandlungen, die Sprüche, denn sie kann ihre Schmach nicht ertragen.
So manche Gasse, so manches Haus in Wien ruft die Gespenster. Erinnerung ist jede Straße, jeder Stein, jeder Baum. Wiens Gestein hat sich ihr einverfleischt in jede Faser. So bereitet ihr Wien Süßes wie Bitteres.
Jetzt fährt Alexandra nach Rom, läuft davon vor den Gespenstern, vor den Richtern, vor der Lust nach Vergeltung. Die Ewige wird ihr ins Gesicht lachen, auf ihre Art, teils hämisch, teils aus Freude am Dasein, wird lärmen und sie aufsaugen in ihre Unvergänglichkeit. Alexandra wird sich aufsaugen lassen, vergessen, für kurze Zeit, damit sie Wien wieder lieben kann, damit sie sich wieder lieben kann.
In Rom braucht sie die Richter nicht. Dort hat man ihr nichts angetan, auch nichts Gutes und Schönes erwiesen. Rom ist ihr gegenüber gleichgültig. Die Abendsonne wird auf die braunen Gemäuer der Engelsburg strahlen, am Tiberufer wird Alexandra stehen. Auf der Piazza di Spagna wird sie die Spanische Treppe hochsteigen, sich vor der Santa Trinità dei Monti auf eine der Stufen setzen und das Nachtwerden abwarten. Sie muss sich selbst vergeben, noch gelingt ihr das nicht. So muss sie eben den ihr einzig verbliebenen Ort der Zuflucht aufsuchen. Alexandra fährt nach Rom.