Alex - Alex
So, das ist jetzt meine erste Geschichte hier. Hoffe, sie ist einigermaßen was und ich bekomme viele Kritiken. Würde mich freuen
ALEX
für A.J.S.
Gott, wo soll ich hier jemanden finden?
Es ist so voll. Und normalerweise gehe ich nicht in solche Clubs. Sie sind mir zu laut und zu dreckig und zu billig. Ich hab nur zugesagt weil man auf mich eingeredet hat. Und zuhause rumsitzen ist auch nicht besser. Wenn ich heimkomme habe ich jetzt wenigstens einen Grund mich selbst zu bemitleiden.
Menschen. Verschiedene. Vom Banker bis zum Stricher. Cool. Hübsche Frauen. Nicht schlecht. Aber... nicht so nahe, bitte. Ich kann nicht atmen, nicht denken. Hört auf. Und dann:
„Hey Chris! Hier sind wir!“ Sie hat mich gesehen. Zerrt mich zur Clique und stellt mir irgendwelche Leute vor, die ich gar nicht kennen will. Redet auf mich ein. Lacht schrill, sagt was von unbefriedigendem Sex. Kneift mich in den Hintern weil ich wohl zu teilnahmslos dastehe. „Das ist Josè! Er und sein Bruder haben mich zu einem Drink eingeladen.“ Ich mustere den Latino, „Wie schön.“ wende mich ab und versuche der Welt zu entkommen. „Halt! Wo willst du hin? Ich muss dir doch noch Coco zeigen. Sie hat erzählt, Sandra würde... blablabla...“ Ich verstehe ihre Worte nicht und bin froh darüber. Irgendwo kotzt ein Besoffener. Ein paar Nutten tanzen und ich stehle mich in einem geeigneten Augenblick davon als sich eine größere Gruppe zwischen uns drängt.
Das Schlagzeug dröhnt und die E-Gitarren röhren. Lichter zucken. Mein Herz versucht dem Rhythmus des Krachs zu widerstehen - schafft es nicht – setzt aus, schlägt weiter. Ich vergesse zu atmen. Zuckende Körper. Wo bin ich hier? In einem Irrenhaus? Alles schweift weit weg. So weit weg... Die Geräusche klingen dumpf an meinem Kopf vorbei. Tausend Stimmen... als wäre ich unter Drogen. Bin es aber nicht. „I would die for you, I would die for you... I’ve been dying just to feel you by my side...“ haucht die Sängerin hypnotisierend auf mich runter. Sie lächelt und zwinkert mir zu. Der tiefere Sinn dieser Worte bleibt mir verborgen. Ich habe keine Gelegenheit länger darüber nachzudenken. Einer schubst mich...
Normalerweise gehe ich ja nicht in solche Clubs... Ich pralle gegen Fleisch. Haare, harte Muskeln, Haut voller Schweiß und kann mich nicht halten. Verliere das Gleichgewicht und bin mit den Armen schon am Boden, werde getreten. Gleichgültigkeit. Ja, mir ist alles gleich... So bin ich und so sind sie... die Schweine! Ich gehe ja nie in solche Clubs.
Ein Schrei, und dann merke ich, dass es mein eigener ist. Die grinsenden Schatten kichern und hallen nach in meinem Kopf... hallen nach wie Wahnvorstellungen oder Flashbacks und ich kämpfe nicht. Wenn es mein Schicksal ist jetzt zu sterben... dann soll es so sein.
Aber plötzlich werde ich in Sekundenbruchteilen wieder von starken Armen hochgerissen. Es tut weh wie man meine Rippen quetscht. Nicht so sehr weh, dass ich es nicht verzeihen könnte. Es ist erschreckend süß und weich und irgendwie nicht real.
Ich kralle mich an dem zierlichen Körper fest und frage mich, wie er mich halten kann und sich selbst, ohne zu fallen. „Idiot, bist du lebensmüde?“ brüllen die Lippen durch den Krach. Ich schätze ich sollte ihnen dankbar sein. Benommen blicke ich mich um. Scheiße, was mach ich hier? Mein Retter verschwindet. Später sehe ich wie er mit irgendwelchen Typen geht.
Ein letzter verzweifelter Blick zu mir - durch mich hindurch. Oder sonst wohin. Jetzt wo er weg ist fühle ich mich allein und verloren im Meer der Welt und der Menschen. Halb zwei. Normalerweise gehe ich ja nicht in solche Clubs.
Hab den Club verlassen. Was morgen ist? Ich weiß es nicht. Was heute ist? Draußen liegt die Welt in Trümmern, sonst nichts. Und mir ist, als gäbe es keine Gefühle mehr. Aber doch! Es gibt sie zu Tausenden und ich hasse sie.
Dauernd denke ich an den Kerl der mich vor Gott weiß was für Verletzungen bewahrt hat. Und ich? Hätte ich ihm helfen können? Wer weiß das schon? Egal jetzt.
Seine Augen... und überhaupt. Ich wollte nicht, dass er mit diesem Monster mitgeht. Aber was ist ihm geblieben? Noch weniger als mir. Irgendwie fühle ich mich schuldig. Und irgendwie könnte ich ihm tausend Liebeslieder widmen. Irgendwie war er schön und irgendwie so wie ich niemals sein möchte. Oder auch nicht. Nein. Nuttig war er.
Egal jetzt. Ich bin müde. Um über so was nachzudenken rast die Zeit zu schnell an mir vorbei.
Ich sitze hier in meinem Auto, habe die Musik bis zum Anschlag aufgedreht und heule innerlich weil ich erkannt habe wie falsch ich bin. Keine Ahnung wo ich hinfahre. Irgendwohin halt. Nichts zu verlieren. Nichts zu gewinnen. So ist es immer... Ich biege rechts ab.
Neben mir fährt eine blonde Frau mit ihren Kindern. Was sie wohl so früh unterwegs macht? Vor wem mag sie wohl flüchten? Ich beneide sie um den plagenden Balg der ihr lachend und kreischend - jetzt jedoch tief schlummernd - die Nerven raubt, um den Ehemann der sie betrügt und schlägt. Sie liebt ihn. Und irgendwie liebt er sie auch... sicher. Er wird es ihr nur nicht sagen. Bis es zu spät ist.
Ihr Wille kann nicht länger mit meiner schizophrenen Ausweglosigkeit mithalten und ich sehe sie nur noch im Rückspiegel, wie sie über mich flucht - wallende Locken im Gesicht - und es nicht fassen kann, dass man solchen Leuten wie mir überhaupt einen Führerschein gibt. Zu schade, ich hätte sie gemocht. Bei der nächsten Ausfahrt biege ich ab. Was soll ich noch tun? Halb vier. Gibt es etwas? Links ein Industriegebiet: Winkelmann AG, ein Puff, wenige, graue Häuser, eine Baufirma. Rechts ein riesiges Maisfeld, ebenfalls grau im dämmernden Nachtlicht. Wie spannend. Ich frage mich wie viel die Nutten kosten. Aber ich steh ja nicht auf so was. Kein Interesse. Mein Bedarf nach Lügen ist vorerst gestillt.
Es regnet - ich bin alleine. Ist nicht ganz dunkel - ich bin alleine. Vollmond am frühen Morgen. Doch. Ich bin alleine. Der Weg ist einsam, abgelegen. Überall Beton. Wenige Schlampen am Wegrand. Sie ist leergefegt wie nach einem Sturm. Rohes Fleisch bietet sich an. Ein kalter Weg. Die Mädchen denken erst ich sei ein Kerl und winken mir zu. Rufen etwas. Ich fahre weiter. Bis keine mehr auf der Straße steht.
Und dann... da läuft er. Als hätte ich die ganze Nacht hindurch nur ihn gesucht. Groß, schlank. In rotem T-Shirt, zerrissener Jeans, die an ihm klebt und seine Haut aufreibt. Seine Hände in den Taschen vergraben, aus einer anderen Welt. Mein Savior. Wie kann es sein, dass ich ausgerechnet an der letzten Kreuzung nach rechts und nicht nach links gefahren bin? Wie kann es sein, dass ich nicht einfach daheim in meinem behüteten Leben geblieben bin?
Ich fahre langsamer, beobachte seinen angespannten Körper. Dann treffen sich unsere Blicke. Er wirkt wie ein verlorengegangenes Kind. Es macht ihn jünger. Achtzehn. Sein Gesicht, anmutig, wie das eines Mädchens. Eine nasse Strähne verdeckt die blutige Stirn und fällt hinab bis zum Kinn. Leichte Kratzer an der Wange, Schnitte von Rasierklingen an den nackten Unterarmen. Aber diese Narben sind alt. Sein schwarzes, leicht gewelltes Haar wird vom Wind zerzaust. Mit abwertendem Blick mustert er mich als ich die Fensterscheibe runter kurble, angeekelt von den Erlebnissen dieser Nacht und von meinen vermeintlichen Absichten. Er scheint mich nicht zu erkennen. Wie widerlich muss er sein Leben finden... und mich?
„Hey Cowboy! Willst du mitfahren?“ frage ich. Er sieht sich irritiert um und steigt nach sekundenlangem Zögern ein. Unantastbar und unwirklich. Riecht nach Alkohol und Regen. Und ganz leicht, vermutlich noch vom Vortag, nach Coolwater.
„Was machst du hier so alleine?“ Er schweigt. Es ist offensichtlich was er macht. Im Radio läuft irgendein Quatsch. Als ich los fahre, keine Reaktion, doch das vorbeihuschende Licht lässt seine blasse Haut zu Beethovens Mondscheinsonate graublau illuminieren. Bevor ich auf die Autobahn biege, biete ich ihm eine Zigarette an. Er zieht sie aus der Packung - ich rauche nicht, zu viele Erinnerungen an vergangene Zeiten - und zündet sie sich mit zitternden Fingern an. Was für ein Junkie, denke ich und habe irgendwie Mitleid.
„Im Handschuhfach sind Schokoriegel, wenn du Hunger hast... ich hab leider nichts anderes dabei.“ Er öffnet es skeptisch und findet sie zwischen Parkscheibe und einer Landkarte, meiner Brieftasche und meinem Notizblock. Augenblicklich schnappt er sich die Teile und stöbert unverfroren weiter in dem Fach rum. Liest meine Notizen die meinen Irrsinn spiegeln - leere Worte. Legt sie weg, als wäre es eine Einkaufsliste. Dann durchwühlt er meine Brieftasche. Liest meine Personalien auf dem Führerschein. Liest, dass ich etwa so alt bin wie er - dass wir in der selben Schulklasse hätten sein können, vor Jahren. Legt alles wieder weg und schließt das Handschuhfach. Seine Respektlosigkeit ist mir egal. Ich fühle mich hundsmiserabel.
„Wie spät ist es?“ fragt er schließlich.
„Gleich halb sieben.“
„Wo fahren wir hin?“
„Ich habe kein Ziel. Soll ich dich irgendwo hinbringen?“ Er lächelt kühl.
„Hör auf so zu sein! Du musst dich nicht einschleimen. Ich weiß was ich bin, und ich weiß was du über mich denkst.“
„Was denke ich denn über dich?“
„Du verachtest mich weil ich auf den Strich gehe und kämpfst mit deinem Gewissen.“
„Ich wollte nur...“
„Das will jeder.“
Wir schweigen uns an. Er öffnet das Handschuhfach noch einmal und nimmt meinen Ausweis raus.
„Wir haben am selben Tag Geburtstag. Im selben Jahr. Komisch, nicht? Aber wahrscheinlich sind das nicht die einzigen Gemeinsamkeiten die wir haben. Ich hab mir mit fünfzehn die Pulsadern aufgeschnitten.“ Sagt er und zeigt mir mit stolzem Blick die Nähte an seinen zierlichen Handgelenken. Seine Augen glänzen dabei als wäre die vernarbte Haut eine Tapferkeitsmedaille. Mein Gott, es ist als spiegle sich der nackte, pure, hässliche Wahnsinn in seinem Blick. Er ist wie die Ausgeburt MEINER tiefsten, schwärzesten Schmerzen - nachts wenn ich nicht schlafen kann. Ich hab es auch getan... mit fünfzehn... aber ich schweige und ziehe meine Ärmel weiter runter.
„Übrigens, danke dass du mir vorhin im Club hochgeholfen hast.“
„Ach du warst die Irre. Ich dachte schon, du willst dich umbringen.“
„Wäre das so schlimm gewesen?“
„...Nein.“
Ein großer Laster brummt uns entgegen. Ich frage ihn: „Warum hast du das gemacht?“ und deute auf seine Arme, auf die Narben. Er zieht an der Zigarette.
„Lange Geschichte. Glaub nicht, dass du’s hören willst.“
„Würde ich sonst fragen?“
„Leute fragen oft und wollen die Antwort nicht wissen.“
„Ja.“ Schweigen. „Wie heißt du?“
„Alex.“ Wir schweigen. Aber es ist eine gute Wortleere.
„Ich hatte mal einen Bruder. Der hieß auch Alex. Aber er ist gestorben als wir noch kleine Kinder waren."
„Wie nett. Fängst du jetzt an mir deine Lebensgeschichte zu erzählen?“
„Nein.“ Ich muss die Scheibenwischer einschalten. Langsam beginnt er den Schokoriegel auszupacken, mit konzentriertem Blick auf die Straße, dann auf mich.
„Ich hab heute noch nichts gegessen. Ich hab keinen Hunger. Menschen behandeln mich wie Abschaum. Vermutlich bin ich’s auch. Egal.“
Er streicht die Strähne hinters Ohr, so dass die Platzwunde auf seiner Stirn sichtbar wird.
„Ich muss das in Kauf nehmen. Das ist mein Weg. Irgendwann...“ Er unterbricht sich selbst und sieht wieder nach draußen. Es beginnt zu schütten. Dicke Tropfen knallen auf die Windschutzscheibe. Er beißt in den Schokoriegel.
„Hast du jetzt Schiss?“ Ich nicke. „Wegen mir?“ Ich schüttle den Kopf. Trotz der Jacke und der Heizung friert er. Ich glaube er würde gerne noch eine rauchen.
„Und die Wahrheit?“ frage ich.
„Was?“
„Na die wahre Geschichte.“
„Welche wahre Geschichte?“
„Deine! Erzähl sie mir!“
„Nein. Du weißt wer ich bin. Du kennst mich mindestens so gut wie dich selbst und ich kenne dich, also... halt an! Ich...“
Alex kaut nervös an den Fingernägeln.
„Wie meinst du das?“
„Bitte lass mich aussteigen!“
„Ich hatte nicht vor irgendwas mir dir zu machen. Keine Angst, ich will nichts von dir. Ich wollte nur nicht dass du da draußen im Regen rumläufst.“
„Ich kann auf mich selber aufpassen.“ Motzt er mich an. „Und jetzt halt verdammt noch mal an!“
„Das hoffe ich...“ Wir starren uns sekundenlang an. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
„Halt bitte an! Lass mich raus! Bitte...“ Ihm steigen Tränen in die Augen... Ich gehorche. Drücke ihm mein letztes Geld in die Hand und bitte ihn zu warten. Wieder sehen wir uns an. Und ich denke an alte Gefühle die ich nicht mehr fühlen wollte. Ich weiß nicht warum. Aber er macht mich so hilflos. Wenn ich schon nicht mein Leben auf die Reihe kriege, vielleicht... Aber er hasst mich... sicher. In mir bricht alles los. Ich beginne zu schluchzen. Alex küsst mich auf die Wange und steigt aus. Heulend und zitternd lasse ich ihn alleine im strömenden Regen stehen und fahre weg. Hasse mich dabei. Er in der blauen Jacke, den Wind in den Haaren mit klarem Blick. Ich muss gehen! Den blassen Drogenjunkie hinter mir lassen. Fahren und fahren.
Fahre dreihundert Meter - weiter bringe ich es nicht. Warte Minuten. Er ist mein Bruder. Er ist ich. Der Teil in mir der die ganze Zeit gefehlt hat.
Ein roter Wagen fährt an den Bordstein, Alex verhandelt mit dem Insassen.
Ich drehe mit quietschenden Reifen um und weiß eigentlich nicht was ich tue.
Er könnte ich sein. Und er hat mich nicht fallen gelassen.
[Beitrag editiert von: Alexis am 13.03.2002 um 15:13]