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Albtraum

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04.08.2002
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Albtraum

Warum setzt sich dieser Mann in mein Abteil? Draußen regnet es. Er ist schön. Ich krame nach einem Buch. Wo ist dieses verdammte Buch. Da. Ich hab es. Ich habe gedacht, ich kann in Ruhe heimfahren. Ich wollte lesen. Endlich einmal in Ruhe lesen. Es ist ja immerhin schon 10 Uhr abends. Da kann man schon auf ein eigenes Abteil hoffen. Er sieht mich an. Ich lese. Ja. Und ich lese jetzt. Er sieht mich an und er durchschaut mich. Ich kenne diese Sorte von Männern. Diese Typen, die einem selbstgefällig bis auf den Grund der Seele blicken. Er lächelt. Von sich selbst überzeugt. Präpotenter Kerl! Was willst du von mir? Ich werde verlegen. Es regnet, sage ich leise, erröte. Du bist nicht warm angezogen. Er sieht auf meine Beine. Was bildet er sich ein? Die Stiefel sind hoch genug. Oh, verdammt was sage ich da? Seine Augen sind warm. Warm und überlegen. Herzlich und präpotent. Er ist älter als ich. Er ist kräftig. Eine Zigarette, schnell eine Zigarette. Meine Hände wühlen ziellos in meiner Tasche. Endlich. In den Mund mit dieser blöden Zigarette. Du rauchst? Was will der Kerl. Das ist ein Raucherabteil. Meine Hände zittern leicht. Ja, ich rauche. Jetzt noch das Feuerzeug. Ein Königreich für ein Feuerzeug. Ich finde es nicht. Er sieht mir zu, bewundernd und abschätzig. Er soll doch zum Teufel gehen. In meinen Jackentaschen habe ich es vielleicht. Dieses Feuerzeug. So. Die Zigarette brennt. Er hustet. Er steht auf. Will er gehen. Ich will nicht, dass er geht. Ich sage, ich könnte sie ausdämpfen, die Zigarette. Bin ich noch bei Trost? Rauche ruhig. Er zieht die Vorhänge des Abteils zu, schweigt. Ich starre ihn an, bin verwirrt. Er wühlt in seinen Taschen. Nimmt ein Buch heraus. Er liest. Der Zug setzt sich in Bewegung. Er beachtet mich nicht. Ich dämpfe aus. Ich wippe mit den Beinen. Draußen gibt’s keine Landschaft. Nur Nacht. Ich spiegle mich im Fenster. Ich lächle mich an. Ich schlage die Beine übereinander. Lege den Kopf auf meine Schulter. Schließe meine Augen. Wie heisst du? Die Stimme. Diese tiefe Stimme. Ich sage ihm meinen Namen. Und du? Sein Name. Er sitzt mir gegenüber. Der Zug schaukelt. Die Welt herum versinkt. Dieses Gefühl. Nur er und ich. Es ist wie ein Sog. Ich kann mich diesem Sog nicht entziehen. Er und ich in einem Zugabteil. In der Nacht. Ich greife in meine Haare, lächle, blicke auf meine Schuhe. Er liest wieder. Das ist nicht fair. – In meiner Verwirrung lese ich auch, stelle mich lesend, warte dass er etwas sagt. Sag was. Sag endlich was. Noch eine Zigarette, stelle mich lesend. Dann seine Hand auf meinem Knie. Seine Augen –liebevoll und kalt. Keine Chance. Meine Gedanken sausen durch den Kopf. Das ist nicht die Wirklichkeit. Was mache ich hier? Mein Atem. Komm. Ich komme zu ihm. Es ist zu spät. Ich bin bei ihm. Die Berührungen. Ich kann nicht mehr denken. Ich habe keine Wahl. Jetzt. Und es geschieht. Und es ist zu spät. Es ist geschehen.

Ich bin völlig durcheinander. Was habe ich gemacht. Warm liegt sein Arm um meinem Hals. Das war jetzt nicht mein Plan, das alles, sage ich. Ich weiss, Mädchen. Er küsst mich zärtlich.

Ich kenne diese Sorte Männer. Sie schauen bis auf den Grund der Seele.
Sich mit ihnen einzulassen ist ein Albtraum.

 

Servus Klara !

Wie bringe ich es auf den Punkt?

Du schreibst: sie ist verwirrt.
Nun - ich auch.

Dieses Mädchen ist völlig zerrissen. Sowohl in der Betrachtung des Mannes, der Blick ist warm - er ist kalt, sie will lesen - er tut es, er stört durch seine Anwesenheit - er soll nicht gehen.
Dann zieht er sie in seinen Soog, wodurch eigentlich, wobei sie seine Nähe nicht mag. Dann scheint sie mit ihm zu schlafen. Weil er schön ist, oder was? Was ist denn ihre Motivation, liegt es daran, dass sie nichts einordnen, über keine eigenen Bewertungsmaßstäbe verfügt. Einfach tut was man ihr sagt?
Das was du gut beschrieben hast, ich denke das war dir auch irgendwie wichtig, ist die Stressituation in die sie sich mit ihren hin- und herjagenden Gedanken selbst hineinmanövriert. Ihn nun als Albtraum zu bezeichnen find ich passend zu ihrem ganzen Chaos, denn alles was sich zugetragen hat ist durch ihre Unsicherheit geschehen. Irgendwie scheinen sich hier zwei passende Puzzlesteine getroffen zu haben.


Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo schnee.eule!

Danke für dein Kommentar. Deine Interpretation des Textes trifft ins Schwarze. Es freut mich, dass dieses Hin- und Herjagen der Gedanken und ihre Zerissenheit, fast schon Hysterie, rüberkommt. Auch ich wollte keine heile Welt vermitteln. :-)

klara

 

Hi klara, deine Geschichte gefällt mir.
Die intensieve Stimmung aus Chaos, Angst und Sehnsucht, eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Stärke, wirkt und zwingt den Leser weiter zulesen.
Besonderst interesant finde ich die Beschreibung des Mannes, er ist ruihg stark und Gehimnissvoll, also ein krasser Gegensatz zur Protagonistin.
Das einzige was mich stört ist die absolute Verurteilung des Mannes. Warum ist sie sich so sicher , dass er ein Alptraum ist, warum kann sie mit einem wie ihm nicht glücklich werden?

 

hallo klara,

eigentlich schon alles gesagt - Hin und Hergerissen trifft es und diese hektik spürt man fast. an einigen Stellen hatte ich probleme auf den ersten blick zu durchschauen, ob etwas gesagt oder gedacht wird. Bin mir nicht sicher, ob anführungszeichen der geschichte schaden würden (oder hast du sie alle verbraucht bei deinem letzten dialog?? - *smile*)

die gegensätze der gedanken finde ich sehr gut..weil sie gerade das chaos vermitteln..

ansonsten beginnt mir die hektik nur etwas zu früh - vielleicht hätten drei ruhige sätze am anfang in denen sie sich alein im abteil entspannt noch emhr wirkung gebracht.

ansonsten aber: geschichte gelungen..

liebe grüße, streicher

 

Liebe Klara !

Dein Seitenhieb ist angekommen und wird mit einem Grinsen in den Tag mitgenommen.

Lieben Gruß - Eva

 

@Marot
Vielen Dank für dein Kommentar. Freut mich wirklich, wie du die Geschichte aufnimmst.
Ich muss da aber was richtig stellen. Sie verurteilt nicht ihn. Das sich auf ihn einlassen ist für sie ein Albtraum. Es wäre wohl eine ziemlich unausgewogene Sache, oder? Dann müßte ich Fortsetzungsgeschichten schreiben "Sie sieht fern. Das Telefon läutet nicht. Wo ist er? ....." ;-)

@Streicher
Freut mich, wie die Geschichte bei dir ankommt. Das mit den Anführungszeichen .. Hmm .. Irgendwie bin ich da radikal. Nach der letzten Kg hatte ich wohl genug von ihnen. ;-)
Das mit einem ruhigen Beginn ist ein gute Idee. Ist notiert.

@schnee.eule
Naja. Seitenhieb. Hmm. Freu mich jedenfalls schon auf deine nächste Geschichte. :-)

lg
klara

 

Liebe Klara,

ich habe Deine Geschichte gerade nur einmal gelesen, daher wird jetzt mein Kommentar nicht sehr ausführlich ausfallen.

Hast Du schonmal "Fräulein Else" von Schnitzler gelesen? Bestimmt...

Nicht, dass ich Dich des Abschreibens beschuldigen will, aber so eindrucksvoll wie Du hier den Inneren Monolog formuliert hast ... - fast wie Schnitzler!

Die Motivation des Mädchens, der Frau - wie auch immer - war für mich nicht ganz klar, aber eben das macht die Geschichte so interessant.

Danke.

mfG,
Sascha

 

Abend Sascha!

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich "Fräulein Else" nicht gelesen habe, werde es aber nachholen. Aber der Vergleich freut mich natürlich ziemlich. :-)

Beim Schreiben hatte ich ehrlich gesagt eher Zeruya Shalev im Hinterkopf. Es ist mir auch nicht allzusehr um den Inhalt selbst gegangen. Ich wollte eher Zerrissenheit, Stress und Anspannung darstellen bzw. mit diesem atemlosen hektischen Stil experimentieren.

lg
klara

 

Hi Klara,

die wild umherschweifenden Gedanken deiner Protagonistin hast du gut rübergebracht. Man fühlt richtig mit ihr mit. Ich würde keinen ruhigen Beginn einarbeiten - damit wäre die ganze Hektik - die ein absoluter Pluspunkt der Geschichte ist - beim Teufel.

Liebe Grüße
Liz

 

Tag Liz!

Danke für deinen Kommentar. Das mit dem ruhigen Anfang find ich schon reizvoll. Ruhiger Anfang, dann Hektik, dann surreal, dann wieder real und ruhig.
Vielleicht bring ich da ja was zusammen. :-)
klara

 

Hallo Klara!
Konnte mich ausgezeichnet mit Deiner Protagonistin identifizieren. Na gut, ich bin Nichtraucherin, aber dieser innere Monolog kam mir doch sehr bekannt vor. Ich führe manchmal ganze Streitgespräche im Kopf; mit mir selbst oder anderen (die natürlich eigentlich völlig schweigen). Und dabei wiedersprech ich mir selbst andauernd oder mache den anderen stumm nieder.
Wie dem auch sei, ein gelungener innerer Monoglog, dem Anführungszeichen in gewissen Situationen tatsächlich nicht schaden würden.
Des weiteren würde ich den Text vielleicht in einer anderen Kategorie ablegen, da er MMn nichts romantisch/erotisches hat. passt ganz gut zu Alltag.
Viele Grüße Catharina alias MadameJack

 

Hallo MadameJack!

Du hast eines der Dinge gesagt, die mich am meisten freuen, wenn jemand meine Geschichten kommentiert, nämlich dass du dich darin wiederfindest.

Ich hatte die Geschichte ursprünglich in die Rubrik Gesellschaft gestellt, weil ich glaube, dass diese inneren Kämpfe (aus welchem Grund auch immer) viele Menschen mit sich führen, bzw. diese Zerrissenheit schon ein gesellschaftliches Phänomen ist. In Alltag würde sie wahrscheinlich auch passen. Hmm ..

Egal, danke für dein Kommentar!! :-)

klara

 

Hallo Klara,


Du hast eine sehr interessante und tiefgründige Geschichte geschrieben... Man muß sie mehrmals lesen, um sie zu verstehen, wie es sich bei Literatur von großem Kaliber gehört... Ich mag diese Geschichte sehr.

 

Tag Wolfsbane,

naja, das ist aber auch schon das einzige was meine Geschichte mit Literatur von wirklich großem Kaliber gemeinsam hat ..
Es freut mich jedenfalls, dass du die Geschichte magst. :-)

lg
klara

 

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