Alain Vaine - Die Kälte des Silbers
Zäher Rauch hing an der Decke des weiten Raums. Hier und dort glühten Zigarren auf und nährten die zähe graue Suppe, die unter zitternden Lichtern hing. Sie zerteilten die Dunkelheit der Kneipe wie glühende Schwerter. Leise Gespräche vermischten sich zu einem einheitlichen monotonen Hintergrundgeräusch, durchbrochen nur von ausbrechendem Gelächter und dem Klirren abgestellter Krüge. An den braungetäfelten Wänden reihte sich Sitzgruppe an Sitzgruppe. Die Tische waren alt und wiesen bereits diverse Verzierungen ehemaliger Gäste auf.
In einer Ecke zog sich der Tresen wie eine knochige hölzerne Schlange die Wand entlang. Regale hinter den Zapfhähnen der Theke ächzten unter dem Gewicht zahlreicher Flaschen und Gläser. Im Großen und Ganzen wirkte die Kneipe auf neue Gäste nicht sehr sympathisch, was sie wiederum für ihre Stammgäste umso anziehender machte. So auch für den Mann, der im Schein einer einzelnen flackernden Kerze Solitär spielte. Er trug einen schwarzen Smoking.
Das Wachs verlief bereits in den Rillen eines Herzens, welches mit wenig Elan in die geschwärzte Tischplatte geritzt worden war. Schummriges Licht spiegelte sich auf dem kahlen Schädel, während lange behandschuhte Finger mit monotoner Gelassenheit immer neue Karten griffen. Ernste Augen, umrahmt von buschigen Brauen, spähten im Raum umher.
Sie erblickten Henry den Barmann, der murrend sein Ebenbild in einem schmutzigen Spiegel betrachtete. Er war ein hagerer, knochiger Mann, dessen Haar bereits in weißen Spitzen endete. Falten zerfurchten das Gesicht. Der Mann in Schwarz musterte ihn nicht weiter, er kannte den Barmann schon lange. Sein Blick wanderte wieder zu den Karten. Schweigend fand eine weitere Karte ihren Platz. So bemerkte er nicht, wie sich die Tür öffnete und die Dunkelheit der Kneipe nach dem schimmernden Licht des Tages schnappte. Eine imposante Gestalt betrat den Raum und ging auf ihn zu. Henry nickte dem Fremden grimmig zu, während er mit akribischer Hingabe Bierkrüge reinigte. Doch dieser beachtete ihn nicht. Ein kantiger Schädel tauchte in seinem Blickfeld auf und starrte ihn an. Schwarze Brillengläser verbargen die Augen. Eine weitere Karte fand ihren Platz.
Die Gestalt räusperte sich.
Keine Antwort.
Die Gestalt räusperte sich ein zweites Mal.
Keine Antwort. Neue Karte.
„Alain Vaine?“
Neue Karte.
„Ja, der bin ich“, erwiderte der Mann in Schwarz.
„Ein Auftrag erwartet Sie“
„Warum sollte mich das interessieren, Mr. Crombey?“
„Sie haben eine Schuld abzutragen. Das wissen Sie“
„Achja“, brummte Alain Vaine, „Wieso sollte ich Ihrer Aufforderung folgen?“
„Sie kennen die Bedingungen und die Konsequenzen von Ungehorsam“
Hätte funktionieren können, dachte Alain Vaine, manchmal schicken sie Neulinge…
Neue Karte.
Blitzartig griff Alain Vaine in sein Jackett. Ein bronzener Revolver erschien in Hand. Sein Gegenüber zuckte nicht einmal und hob eine Augenbraue.
„Sie können mich nicht töten, auch das wissen Sie. Selbst mit Ihren magischen Revolvern nicht“
„Ich kann vieles“
„Deswegen leben Sie noch“
Knisternde Stille unterbrach das Gespräch. Henry, der Barmann, beobachtete sie mit unbeeindruckter Miene. Die Mündung des Revolvers senkte sich.
„Gut legen Sie los“, zischte Alain und verstaute die Waffe wieder. Er fühlte die Narbe auf seiner linken Wange. Sich mit diesen Typen anzulegen war nicht gut, dennoch ließ er keine Gelegenheit aus, sie zu provozieren. Sie hatten ihm alles genommen, er hatte nichts mehr zu verlieren.
Ein Grinsen verdrängte die Ausdruckslosigkeit des rauen Gesichts.
„Ich wusste, Sie würden zur Besinnung kommen“, er faltete die Hände auf der Tischplatte, „ Sie wissen wie die Sache abläuft. Wir haben einen Bericht aus Moskau erhalten. Dort treibt ein Monster sein Unwesen“
„Wieder mal“, murmelte Alain Vaine.
„Wie bitte?“
„Nichts“
„Wie auch immer. Unseren Informationen nach ist es ein Tiermensch, ob es sich um einen Werwolf oder etwas anderes handelt wissen wir nicht. Machen Sie das Ding ausfindig und erledigen sie es, bevor die Konkurrenz es macht“, er hielt ihm ein unscharfes Foto vor die Augen.
Auf dem schwarzweißen Hintergrund war die verschwommene Gestalt einer Frau zu erkennen. Auf dem Rücken der sichtbaren Hand prangte, wie ein pechschwarzer Fleck, das Zeichen. Es wirkte beinahe hypnotisch auf Alain. Eine Art Dreieck, aber zu vollkommen, um Menschenwerk zu sein. Er kannte diese Frau, er kannte das Symbol. Geschichten aus der Vergangenheit, schmerzhafte Geschichten.
„Dieses Foto wurde vor zwei Tagen auf dem Moskauer Flughafen geschossen. Also finden sie das Monster vor der Seraph, dann wird ein Teil Ihrer Schuld revidiert“
Alain Vaine sagte nichts.
„Viel Erfolg“, sprach der Mann emotionslos, ehe er rumpelnd aufstand und aus der Taverne in das Licht des Tages trat.
Ein weiterer Job, dachte Alain, ein weiteres Stück Seele zurückgewinnen. Er steckte das Kartenspiel in sein Jackett und ging zu Henry an den Tresen.
„Wieder ein Auftrag, wie?“, fragte der Barmann.
„Ja. Ein Glas Gin, bitte“
„Ein weiteres Monster nehm‘ ich an“, sagte Henry nebenbei, während er eine große Flasche mit einer klaren Flüssigkeit hervorzauberte und entkorkte. Es ploppte, als der Kronkorken klirrend auf das schmutzige Holz des Tresen fiel und irgendwo zwischen einem eingeritzten, beinahe unlesbaren Namen und einem undefinierbaren Kunstwerk, welches wohl Ergebnis von Wut, Depression und Trunkenheit war.
„Exakt“, antwortete Alain. Er wunderte sich kaum mehr, woher Henry das immer wusste. Der Mann schien das Gehör einer Fledermaus zu haben. Auf jeden Fall war er mehr, als er preisgeben wollte. Es plätscherte, als die klare Flüssigkeit auf den Boden eines gesprungenen Schnapsglases traf. Wohltuend legte sich im der alkoholische Geruch in die Nase.
„Wo arbeiten Sie eigentlich, Himmel oder Hölle?“, sagte Henry.
„Himmel oder Hölle“, wiederholte Alain Vaine, „Himmel oder Hölle…“
„hm‘?“
„Irgendwo dazwischen“, sagte Alain und stürzte den Gin herunter, „ Meiner Erfahrung nach gibt es solche Dinge nicht“
„Sehr richtig erkannt“, meinte Henry und grinste.
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Frostige Kälte empfing ihn als er aus dem Flughafengebäude schritt. Vor ihm lag die geschäftige Moskauer Innenstadt. Mit kyrillischen Buchstaben beschriftete Taxen warteten auf Kundschaft, fuhren ein oder aus. Menschen liefen die schmalen Fußgängerwege entlang, unterhielten sich auf Russisch per Telefon und beachteten den kahlköpfigen Mann vor dem Quader aus Glas und Beton kaum. Schneereste zierten, wie weggeworfene Papierfetzen die Straßen- und Gebäuderänder. Alain Vaine sah sich um und erblickte, was er suchte. Er sprach den Kioskbesitzer auf Russisch an. Dieser nickte und händigte ihm eine Ausgabe der aktuellen Tageszeitung aus, die Alain sogleich bezahlte.
Ohne den grinsenden Verkäufer weiter zu beachten, drehte Alain sich um und ging auf eines der Taxen zu. Der Fahrer stand draußen und rauchte. Sein Atem kondensierte an der kalten Luft. Schwarzgraues Haar umrahmte ein faltiges Gesicht mit buschigen Brauen und klaren blauen Augen. Handschuhe und Mantel schützten ihn vor der Kälte. Alain Vaine nannte ihm die Adresse seines Hotels und stieg ein.
Der Fahrer schnippte die Zigarette in den Schnee und stieg ebenfalls ein. Mit einem lauten Knall schlug die Tür zu und der Motor röhrte auf. Das Geräusch erstarb wieder, bis der Mann unter mehreren russischen Flüchen die Maschine schließlich zum Anspringen bewegen konnte. Alain Vaine achtete nicht darauf, legte seinen Aktenkoffer neben sich, entfaltete die Zeitung und fand die Schlagzeile, die er suchte. ‚Unbekannter tötet zwölf Menschen. Einziger Überlebender behauptet Werwolf gesehen zu haben‘
Darunter war ein Bild eines ungefähr dreißigjährigen Mannes zu sehen. Stoppeln dominierten das Antlitz. Die kurzen Haare waren unter einer Wollmütze verborgen. In seinem Gesicht spiegelte sich Angst wieder. Alec K. entnahm Alain dem Bericht. Dort werde ich ansetzen, dachte er. Geschickt riss Alain den Bericht samt Foto heraus und verstaute den Papierfetzen in einer der Jackettaschen. Sein Fahrer kommentierte währenddessen den Innenstadtverkehr mit allerlei russischen Flüchen und dem Heulen der Hupe.
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Das Hotel war ein mehrstöckiges Haus mit gläserner Fassade. Sie hielten an, wobei der Fahrer beinahe in eine Straßenlaterne fuhr und dabei wild fluchte. Als Alain Vaine das Geld hervorholte, besserte sich seine Laune von einer Sekunde auf die Nächste. Als Alain ihm auch noch ein hohes Trinkgeld gab, rang er sich sogar zu einer Dankesgeste durch, bevor er sich wieder mit quietschenden Reifen und derben Flüchen in den Verkehr einreihte. Alain Vaine beachtete ihn nicht wieder, nahm seinen Koffer und betrat die Lobby des Hotels. Sie war nur mäßig gefüllt, was daran liegen mochte, dass sie sich in der Mitte der Woche befanden. Die Gäste waren hauptsächlich Geschäftsleute in Anzug und Krawatte, die mit ausdruckslosen Mienen an ihm vorbeizogen. Eine gutaussehende junge Frau mit langem blondem Haar begrüßte ihn. Mit einem Lächeln grüßte Alain zurück.
„Ich habe ein Zimmer reserviert“
Alain bemerkte ein kurzes Aufzucken von Ärger in ihrem Gesicht.
„Ist etwas mit Ihnen?“, fragt er.
„Ach … Ich habe nur eine Kette verloren, die mir sehr wichtig ist“
Sie wühlte in den Dateien des Lobbycomputers.
„Eine Kette mit einem silbernen Kreuzanhänger. Ist sehr teuer gewesen“
„Ich werde die Augen offen halten“, zwinkerte Alain.
Sie lächelte
„Vergangenheit ist Vergangenheit. Es ist nur ein Schmuckstück, ich werde darüber hinwegkommen“
„Daran zweifele ich nicht“
„Wie heißen Sie denn?“, wechselte sie das Thema.
„Vaine, Alain Vaine und Sie?“. Er lächelte.
„Valeria, wenn Sie es unbedingt wissen wollen“, antwortete sie verlegen und lächelte. Die junge Frau räusperte sich und nahm wieder einen formalen Ton an: „Willkommen Mr. Vaine, ihr Zimmer befindet sich im dritten Stock, im linken Flur Nummer 341“
„Ich danke Ihnen vielmals, Valeria“, Alain nahm den Schlüssel und ließ ihn in die Hosentasche gleiten. Nach einem Moment der Stille holte er den Papierfetzen hervor. Sein feines Gehör vernahm ein zischendes Geräusch, als die Hotelangestellte Luft einzog. Ihr Blick zuckte.
„Ist was?“
„N-Nein“. Sie schien sich wieder zu fassen. „Ich war nur kurz weggetreten“
Warum ist sie zusammengezuckt, als ich den Artikel herausgeholt habe, dachte Alain Vaine, sie weiß etwas.
„Kennen Sie diesen Mann, Valeria?“, hakte er nach.
„Nein“. Eine Schweißperle, die von ihrer Stirn aus dem Weg der Schwerkraft folgte, verriet jedoch das Gegenteil.
„Ich glaub schon, dass Sie ihn kennen“
„Nun gut, ich fürchte, ich bin keine besonders gute Lügnerin. Ich kenne ihn. Wir waren mal … befreundet“. Sie schluckte.
„Kennen Sie eine Adresse oder den Nachnamen?“
„Ja, was wollen Sie denn von Alec?“
„Ich würde mit ihm gerne über den … Vorfall sprechen“. Er tippte auf den Artikel.
„Sind Sie ein Psychologe?“
„Ja“, log Alain Vaine prompt. Sich schnell in Rollen einzufinden, war eine seiner Stärken, weswegen sie, diese Organisation über die er selbst so wenig wusste, ihn so sehr schätzten. Vielseitigkeit war für die Jagd auf Kreaturen von höchster Wichtigkeit.
Sie nickte betroffen und sagte: „Der Vorfall hat ihn verändert. Ich gebe ihnen seine Adresse, weil ich ihnen vertraue. Aber belasten Sie ihn nicht zu sehr. Er ist sehr traumatisiert“. Sie verstummte und schien abwesend an ihm vorbei zu starren. Dann zückte die junge Frau einen Kugelschreiber und die Mine kratzte unbeholfen über die Rückseite des Papierfetzens, auf der ein Bericht über Alkohol am Steuer abgedruckt war. Das halbe Gesicht eines alten Bekannten grinste ihn weggetreten an. Mulmig wurde Alain zwar nicht zu Mute (Dazu war er zu viel gewöhnt), aber er wusste nun, wessen Fahrdienste er in Zukunft nicht mehr nutzen sollte. Und dir Drecksack hab ich auch noch ein gutes Trinkgeld gegeben, dachte Alain.
Schmunzelnd sagte er: „Ich danke Ihnen, Valeria“
Valeria sah auf, lächelte verlegen und schob ihm den Fetzen Papier wieder zu.
„Keine Ursache. Ich helfe gern, vor allem wenn es hilft, Alec wieder gesund zu machen“, erwiderte sie.
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Jurij Marnov beobachtete wie sich Motten todesmutig gegen die matten Straßenlaternen warfen. Seine Ellenbogen ruhten auf seinem Taxi und Jurij wartete auf Kundschaft. Er wartete immer auf Kundschaft. Seine Festnahme wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss hatte sich nicht gerade positiv auf seinen Ruf ausgewirkt, somit hatte er viel Zeit die Motten zu beobachten. Seufzend zog er an einer Zigarette. Der Rauch fühlte warm und angenehm seine Lungen und half ihm die Kälte zu ignorieren.
Es war aber auch ein Dreckstag gewesen. Die zweite Mahnung wegen seiner Miete war eingetroffen, er hatte sich mit seiner Frau gestritten. Wütend war Jurij mit seinem Dienstwagen in die nächste Kneipe gefahren und verbrachte dort den Abend. Er hatte noch nicht einmal Fahrgäste befördert, trotzdem hatten die Bullen ihn angehalten und er durfte in die Ausnüchterungszelle. Grummelnd kratzte er sich an seinem stoppeligen Kinn und rückte die Wollmütze zurecht. Seine Augen starrten in den kalten Schnee Moskaus, der im elektrischen Licht unheimlich zu funkeln schien. Außer dem jaulenden Wind war kaum etwas zu hören. Ein kehliges Lachen entfuhr ihm.
Kein Wunder um vier Uhr morgens, aber sein Chef hatte ihn zu Überstunden verdonnert. Dann hörte Jurij etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte. Es klang wie das Zerschellen einer Flasche, welches ihm von zu Hause all zu gut bekannt war. Eine Sekunde lang meinte der Taxifahrer ein Paar große gelbliche Augen im Dunkel einer Gasse zu erkennen. Er blinzelte. Nein, da war nichts mehr. Trotzdem war seine Neugier geweckt, die Autoschlüssel verschwanden in den rissigen Taschen seiner Jeans. Langsam bewegte sich Jurij in Richtung der dunklen Gasse. Nervös stellte er fest, dass er sein Taschenmesser im Inneren seiner Hosentaschen fest umklammert hielt. Das alte Jagdmesser hatte schon seinem Großvater gehört, nun half es ihm in den ruppigen Straßen Moskaus nachts zu überleben.
Er hatte einmal einen Zeitungsartikel über die Todesrate russischer Taxifahrer gelesen, seitdem trug er dauerhaft ein Messer in der faltigen Jeans verborgen. Es roch nach Eis, Schnee und Tabak, sowie den üblichen Gerüchen einer Stadt. Unter einem Gullideckel gluckerte die Kanalisation und irgendwo in der Ferne hupte ein entnervter Fahrer und sandte Flüche hinterher. Jurij Marnovs Blick wanderte durch die finstere Gasse und fand nichts. Er spuckte verächtlich und zog erneut an der Zigarette. Nur ein Trugbild.
Etwas stöhnte zu seinen Füßen. Erschreckt zuckte der Taxifahrer zusammen. Vor ihm lag ein Betrunkener auf seinem Mantel im Schnee und wälzte sich herum. Der Mann hatte lange schwarze Haare und verfaulte Zähne.
„Verdammt nochmal“, fluchte Jurij, „Hast mich fast zu Tode erschreckt! Verdammter Suffkopf! Heb deinen Arsch hoch und beweg dich nach Hause, sonst erfrierst du noch hier draußen!“. Als der Mann nicht auf sein Gerede reagierte, verdeutlichte Jurij sein Anliegen mit zwei Tritten.
Taumelnd erhob sich der Mann. „Isch ja schon gut“. Ein Rülpser entfuhr ihm und er bewegte sich schwankend Richtung Straße, den Mantel mehr oder weniger unbeholfen angezogen.
„Ein Danke wäre angebracht!“, knirschte Jurij. Nach einem letzten großen Zug warf er die Kippe in den Schnee, wo sie zischend einsank. Dann nahm er ein weiteres Geräusch wahr, ein dumpfes Poltern. Zuerst dachte Jurij, der Betrunkene wäre erneut hingefallen, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Der Mann musste mittlerweile die Hauptstraße entlang torkeln und außer Hörweite sein.
Ein kehliges Knurren. Jurij drehte sich schlagartig um und wurde nervös. Da war nur die kahle schmutzige Ziegelwand eines kleinen Lagerhauses. Unwillkürlich musste der Taxifahrer an den Wolfsmenschen denken, den die Medien für den Massenmord anprangerten, der vor ein paar Tagen geschehen war. Aber nein das konnte nicht sein, schließlich gibt es keine Werwölfe, oder? Etwas Zähes, Glibbriges tropfte auf seinen Mantel. Furchterfüllt fuhr er mit der Hand darüber. Es war warm und roch widerlich. Panisch begann er zu rennen. „Es gibt keine Werwölfe!“, versuchte er sich einzureden während er die Gasse zurück stolperte, „Es gibt keine Werwölfe!“
Schließlich erreichte Jurij seinen Wagen, zitternd tastete er nach den Schlüsseln, aber bekam sie nicht ins Schloss. Ein Zähnefletschen hinter ihm. Ein weiterer Fehlversuch. Jurij begann wie von Sinnen zu schreien. Noch ein Fehlversuch. Seine Hände zitterten so stark, dass er, anstatt das Schloss zu treffen, die Fensterscheibe zerkratzte. Dann war es zu spät. Mit lautem Gebrüll stürzte sich eine haarige Bestie auf den Taxifahrer und zerfetzte seinen Mantel mit monströsen Klauen. Er spürte den beißenden Schmerz mörderischer Fangzähne in seiner Schulter, dann wurde es dunkel um ihn. Das letzte was er sah waren zwei große gelbe Augen über den Kratzern. Sein letzter Gedanke war kurioserweise, wie er den Schaden an der Scheibe bloß seinem Boss erklären sollte. Der Schrei verebbte ihn der frostigen Nacht und Stille sank über dem Parkplatz nieder. Die Geräusche der Nacht, das Gluckern der Kanalisation und den fernen Laute der Hauptstraße übernahmen wieder die Oberhand.
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Alain Vaine begutachtete die Blutlache im Schnee. Sein Blick wanderte zu der eingedellten Tür und der gesprungenen Fensterscheibe. Der Körper musste mit hoher Geschwindigkeit gegen die Seite des Fahrzeugs geworfen und dann einige Meter fortgezerrt worden sein. Eine dicke rote Schleifspur beschrieb den Weg. Spritzer auf dem Metall der Straßenlaternen und im Schnee betonten den grausigen Anblick. Alain erkannte die Spuren scharfer Reißzähne. Eine Bestie musste hier am Werk gewesen sein. Zweifelsohne dieselbe, welche für den Massenmord verantwortlich war, ein Wolfswesen. Wahrscheinlich wusste der Betroffene nicht einmal, dass er mittlerweile dreizehn Menschen ermordet hatte. Auch wenn er an diesen Anblick bereits gewöhnt war, traf es ihn dennoch jedesmal wie ein Donnerschlag und brachte seinen Verdauungstrakt zum rebellieren.
Es war früher Morgen und Alain Vaine hatte die Leiche aufgrund eines anonymen Tipps bekommen. Er hatte Informationen über diesen Alec zusammengetragen und war wohl auf seinem Laptop eingeschlafen. Schließlich hatte der Telefonanruf ihn geweckt. Alain hatte die Stimme sofort erkannt. Die zarte, melodische Stimme der Frau, dessen verschwommenes Antlitz ihn vom Foto aus angeblickt hatte.
Alain kannte die tätowierte Frau, mit ihr hatte alles begonnen. Seit ihrem ersten Zusammentreffen, hatte sich sein Leben nur noch verkompliziert. Alain Vaine war nie ein sehr emotionaler Mensch, aber die Gedanken an sie erfüllten ihn mit Sehnsucht.
Die Frau nannte ihm den Ort der Tat und obwohl sie beide unterschiedlichen Fraktionen angehörten vertraute Alain ihr, denn sie beide waren Gefangene. Gefangene ihrer Organisationen und Gleichgesinnte betrogen sich nicht.
„Guten Morgen, Alain“, ertönte die Stimme hinter seinem Rücken, „ Lang ist es her“
„Sirena“, antwortete er bedächtig und erhob sich.
Sirena begann zu schmunzeln: „Schwelgen wir in Nostalgie?“. Ihre Arme waren vor den Brüsten verschränkt. Sie trug keine Handschuhe, sodass das dreieckige Mal Alain anzustarren schien. Ihr seidiges blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und klare goldene Augen sahen ihn an. Sie schienen wie kleine Sonnen in der Finsternis der Nacht zu strahlen. Sie war in einen langen Mantel gehüllt, der sie vor der Kälte schützte, ihre grazile Figur aber verbarg.
„Nein, uns verbinden nur einige Erinnerungen … positive wie negative“, er schwieg einen Moment, „Warum sind wir hier, Sirena?“
Sirena ging auf den Leichnam zu und strich mit dem Finger über die Spuren des Angriffs. Bedächtig zerrieb sie das gerinnende Blut.
„Wir sind hier weil ein Dämon seine Ketten abgelegt hat. Ob sein Wirt mit Absicht handelte oder aus Versehen in diese Situation gelangt ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir ihn aufhalten müssen. Die Kraft des Bannzaubers ist zwar stark geschwunden, aber noch zum Teil existent. Das Hervortreten des Dämons ist von etwas abhängig“
„Das wäre?“
„Schau nach oben, Alain“
Alain tat es und blickte in einen sternenklaren Himmel mit einer silbernen Mondsichel, die grotesker Weise hämisch zu lachen schien.
„Die letzten beiden Nächte, die Nächte zwischen dem Massenmord und dem heutigen Zwischenfall waren bewölkt und schneereich. Das Mondlicht scheint den Zauber zu beeinflussen und ermöglicht es dem Dämon die Barriere im Geist seines Wirtes endgültig zu durchbrechen“. Sirena schwieg einen Moment, dann sprach sie: „ Es ist unwahrscheinlich das der Betreffende von seinem zweiten Leben weiß. Es könnte so gut wie jeder in dieser Stadt sein“
„Was könnte den Zauber durchbrochen haben?“
„Ein emotionaler Schock zum Beispiel, der die Stärke der Persönlichkeit schwächt“
„Könnte Aggression der Auslöser sein?“
„Möglicherweise, es gibt zu viele Arten von ihnen, um das genau sagen zu können. Silber entlarvt sie und bannt sie, sodass der Mensch die Oberhand behält. Gegen die Bestie an sich wirkt es tödlich. Dort sollten wir ansetzen“
„Ich habe vielleicht einen Verdächtigen. Dir ist sicherlich dieser Alec, der einzige Überlebende des Massenmordes bekannt, oder?“. Sie nickte und Alain fuhr fort während er gebannt ins Mondlicht starrte: „Ich habe ein wenig recherchiert. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, mehrfach wegen kleinen Delikten und Prügeleien hinter Gittern gewesen“. Valeria hatte allen Grund misstrauisch zu sein, als ich sie zum ersten Mal nach Alec fragte, dachte Alain. Der Mann hatte genug getan, sodass man selbst lieber nicht in seine Machenschaften hineingezogen werden wollte.
„Eine plausible Annahme. Aber gib Acht bei all zu schnellen Vermutungen“
„Es ist keine Vermutung, es ist ein fester Verdacht“
„Du willst ihn töten, nicht wahr“, sagte sie abwesend.
„Wenn er das Wolfsblut in sich trägt, ja, so will es Crombey“
Sirena wandte sich zum Gehen. Ihr Atem kondensierte an der eisigen Luft und zog in Richtung des nächtlichen Himmels. Ihre Stimme ertönte wieder: „Wir waren zwar früher einmal verbunden, aber ich werde es verhindern müssen, falls es soweit kommt“
„Du verstehst nicht … er hat mich in seiner Hand“
„Auch eine Organisation wie die von Crombey kann getäuscht werden, Alain“, sagte sie und dann noch: „Wir sehen uns wieder“
Schweigend verschwand sie in einer dunklen Gasse, während das Mondlicht silbern und kalt auf sie herab schien.
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Die goldenen Revolver lagen auf dem geschliffenen Holz des edlen Tisches. Lichtreflexionen spielten auf der glänzenden Oberfläche, erzeugten immer neue Muster, je nachdem von welchem Blickwinkel man sie betrachtete. Zwielichtig schien das Sonnenlicht durch die halbzugezogenen Rollladen und kündete vom weit fortgeschrittenen Tag. Alain Vaine betrachtete die goldenen Strahlen, in denen Staubkörner zu tanzen schienen. Sein Blick wanderte zurück zu den Waffen, schweigend verschwanden sie in den Taschen des eleganten Jacketts. Krawatte und Manschetten wurden zurechtgerückt. Den Laptop hatte er im Koffer verstaut, der nun unter dem Schreibtisch stand. Ansonsten wirkte das Zimmer ordentlich, sauber, unbenutzt, dachte er, so war er, so verließ er alle Orte, die er betrat. Ein guter Jäger hinterließ selbst keine Spuren, während er jede noch so kleine seiner Beute deuten konnte.
Während Alain Vaine den Fahrstuhl am Ende des mit rotem Teppich ausgelegten Ganges betrat, dachte er über sein Leben als Phantom nach. Warum ließ er sich darauf ein? Alain wusste darauf keine Antwort, wieder einmal. Es gab nur wenige Menschen die ihn kannten, bei diesen war Alain nicht mal sicher ob es Menschen waren. Henry, der alte Barmann, der immer mehr über seine Gesprächspartner zu wissen schien als diese selbst. Dann natürlich die mysteriöse Sirena und der dubiose Mr. Crombey. Beide waren ihm bekannt, doch fremd zugleich. Summend setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Eine Anzeige blinkte auf und gab die momentane Stockwerknummer wieder. Der Aufzug war ein plumper Metallkasten, dessen bedrückende Enge eine klaustrophobische Angst hervorzurufen vermochte. Seine Gedanken wanderten zu dem jungen Mann, diesem Alec, dem er heute ein paar Fragen stellen wollte. War er die Kreatur? Wusste er von seiner schizophrenen Existenz? Alain Vaine wusste darauf keine Antwort, aber er hatte vor es herauszufinden.
Rumpelnd kam der Fahrstuhl zum Stehen. Ein heller Ton schallte durch den Metallquader, Erdgeschoss. In der Lobby empfing ihn dieselbe junge Frau, die ihn am vorherigen Tag schon begrüßt hatte und ihm die Informationen über Alec gab.
„Guten Morgen, Alain“
„Morgen, Valeria. Wie geht es ihnen?“
Sie sah ihn aus müden Augen an.
„Ich habe nicht gut geschlafen. Dieser verdammte Moskauer Nachtverkehr! Jetzt halt ich mich mit Kaffee über Wasser“. Sie nickte ihm mit einem dampfenden Becher zu und nahm einen großen Schluck.
„Dafür werden sie heute Abend umso besser schlafen“
„Kann schon sein“, sagte sie gähnend, „Müde bin ich ja schon. Sie wollen heute zu Alec?“
„Ja, ich will ihm ein paar Fragen stellen“. Und tun was ich tun muss, fügte er innerlich hinzu.
„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg dabei“, lächelte sie.
Ich werde Erfolg haben, dachte er, wie immer. Die Revolver schlugen ihm gegen die Brust, als er festen Schrittes das Hotel verließ.
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Die Adresse führte ihn in ein heruntergekommenes Viertel, unweit der Stelle, an der sie die Leiche des Taxifahrers gefunden hatten. Schmutzigrote Ziegelwände erhoben sich beidseitig von Alain und verschluckten das rote Licht der Abendsonne. Straßenlaternen bildeten hellleuchtende Inseln im wabernden Zwielicht der düsteren Nebenstraße.
Schnee, alte Flaschen und Scherben dominierten die Ränder des Fußgängerwegs. Alain kam an verwahrlosten Autos und überfüllten Müllcontainern vorbei. Auf einer mit Eisblumen bewachsenen Windschutzscheibe, erkannte er sogar mehrere Einschüsse. Die fingerbreiten Löcher waren von einer Korona aus zersplittertem Glas umgeben. Alain dachte sich seinen Teil. Der Besitzer war wohl ein Schuldner der russischen Mafia gewesen. Alain Vaine hielt vor einer Tür, über der die Nummer 49 in silbernen Lettern prangte. Der Dämonenjäger stieg die von schwarzem Geländer flankierten Stufen hoch. Abgesplitterte Farbe klebte an seinen Schuhen und Alain fragte sich woher sie wohl kommen mochte. Dann betrachtete er die Tür näher. Alain konnte die frische Farbe riechen. Da hatte sich jemand die Mühe gemacht, diese Tür gründlich zu streichen. Aber warum? Eitelkeit? Trotz?
Alain Vaine kniff die Augen zusammen und strich mit der Hand über die raue Maserung des Holzes. Splitter bohrten sich in seine Haut und ließen ihn stechenden Schmerz spüren, aber er achtete nicht darauf, viel interessanter war das, was seine Hände erfühlten. Eine kaum zu erkennende Kerbe, an der die frische Farbe matter zu sein schien. Genauer gesagt zählte Alain drei Kerben, sie sahen aus wie die Spuren mächtiger Klauen. Aber egal was es gewesen war, der Besitzer des Hauses hatte es eilig gehabt die Spuren zu entfernen. Misstrauisch beäugte er den backsteinernen Fußboden. Er erkannte zwischen mehreren weggeworfenen Kippen und Schneeresten das Gesuchte. Die Abdrücke eines Tieres. Oder eines Tiermenschens, dachte Alain.
Er klingelte. Ein schriller, unangenehmer Ton. Quietschend öffnete sich die Tür.
Alain Vaine schritt einen gekachelten Flur entlang. Zu seiner Rechten schraubte sich eine hölzerne Treppe zu höheren Stockwerken. Der Windzug der geöffneten Tür versetzte den alten Lampenschirm hoch über ihm in Schwingungen. Die Elektrik rebellierte knisternd gegen die Bewegung und brachte das schummrige Licht zum Zittern.
Schweigend, immer den monotonen Widerhall seiner Schuhe im Ohr, ging er die Wohnungstüren ab. Vor einem Namensschild blieb er stehen: Krushtnov. Aus dem Türspion funkelte ihm eine blaue Iris entgegen. Alain konnte hören, wie nervöse Finger eine Kette einhakten. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit.
„Wer sind Sie?“, verlangte eine Stimme zu wissen. Pechschwarze Haare umrahmten ein von Angst und Schlaflosigkeit gezeichnetes Gesicht.
„Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Alec, über die Vorfälle in der letzten Zeit. Also wenn ich reinkommen dürfte“
„ Einen Moment“. Ein Kramen und Klirren war zu vernehmen, dann warf Alec ihm eine Halskette vor die Füße. Ein silbernes Kreuz blitzte im elektrischen Licht. „Vorher will ich sicher gehen, dass der Mond Sie nicht mit dem Verlangen nach Blut zu mir schickt“
Vielleicht hat er mit dem Verlangen nach Blut nicht so Unrecht, dachte Alain. „Ich will nur mit Ihnen reden“, sagte er. Ein Klicken ertönte: „Wenn Sie keine Silberkugel in den Kopf gejagt bekommen wollen, heben Sie die Kette auf und drücken Sie das Schmuckstück fest in Ihre Hand. Ich habe keine Ahnung, ob Silber wirklich hilft, aber ich habe keine Bedenken es einzusetzen“
Alain hob das silberne Kreuz auf. Es sah so aus, wie Valeria ihre verlorengegangene Kette ihm gegenüber geschildert hatte. Alec musste es ihr gestohlen haben. Alain tat wie ihm geheißen und drückte das Schmuckstück fest in die Fläche der offenen Hand. Das Metall fühlte sich kalt an, aber weiter geschah nichts.
„Gut, Sie haben den Test bestanden“. Ein weiteres Klicken ertönte, als Alec die Waffe wieder sicherte. Die Tür schloss sich, die Kette wurde entfernt und die Tür öffnete sich widerspenstig. Entschuldigend sagte er: „Ich bin vorsichtig geworden, seit es mich jagt. Den Trick hab ich aus ’nem Horrorfilm. Silber entlarvt sie. Ich weiß es ist Fiktion, aber ich weiß nicht mehr was ich glauben soll. Er … es jagt mich, da ist mir jedes Mittel recht um sie mir vom Leib zu halten“
Silber, dachte Alain, Silber … „Danke für Ihre Zeit“, murmelte er. Was hatte Sirena noch erwähnt? Silber entlarvt sie, bannt sie …
Alain Vaine folgte ihm in eine chaotische Wohnung. Bücher stapelten sich an den Wänden, auf Tischen und Regalen. Alec schien seit Wochen nicht geputzt zu haben, eine Staubschicht hüllte jeden Wälzer mit einem grauen Schleier ein. Es war ein schmaler Flur. Neben Büchern und Kartons stapelten sich Mäntel und Hemden auf kleinen Kommoden. Das Gesamtbild verriet, dass der Besitzer der Wohnung nicht viel wert auf Ordnung legte.
„Ich setz Tee auf“, brummte Alec und ging in einen Raum, der sich in Wohnzimmer und Küche teilte. Eine lange überfüllte Theke bildete die Trennlinie.
Eine Sitzgruppe aus zwei schwarzgepolsterten Sesseln und einem ebenfalls schwarzen Ledersofa dominierten den Raum. Die Couch war über und über mit Büchern und Dokumenten beladen, so sehr dass es schien, als würde sie jeden Moment kollabieren. Alain erkannte auch die Berichte, die in den letzten Tagen in den Zeitungen erschienen waren. Sie waren an eine kleine Pinwand geheftet, direkt neben dem alten Röhrenfernseher. Alain Vaine strich den Staub beiseite und betrachtete einen Ledereinband, auf dem die Worte „Charakteristika eines Werwolfs“ standen. Der Mann scheint besessen von dem Vorfall zu sein. Eine Stimme sagte ihm, wenn er die Bestie wäre, würde er wohl kaum sich selbst jagen oder? Zumindest würde er die Zeichen deuten können, wenn er bisher nicht gewusst hat, dass das Tier in ihm lauert. Außerdem das ganze Silber … es passte alles nicht …
Aber der Schein konnte auch trügen …
Silber bannte sie, es tötete sie nicht zwangsweise, ertönte die zarte Stimme Sirenas in seinem Kopf. Sie setzten sich in die beiden Sessel und lauschten dem Wasser, das dampfend im Heißwasserbereiter zu Blubbern anfing. Dann begann Alec: „Wie geht es Valeria?“
„Gut, nehme ich an. In welcher Verbindung stehen sie mit ihr? Sie wurde nervös beim Aussprechen ihres Namens“
„Ja … Valeria … Ich habe sie geliebt. Wir haben uns getrennt, kurz vor diesem Vorfall, bei dem zwölf Menschen starben“. Eine Träne rollte über sein von Schlaflosigkeit fahles Gesicht.
Eine Stimme klingelte in Alains Kopf. Ein emotionaler Schock … Er verdrängte den Gedanken wieder und fragte: „Alec ich habe erfahren, dass Sie früher mal in kriminelle Handlungen verwickelt waren“
„Ja, aber das ist schon ewig her und ich habe meine Strafe längst abgesessen. Ich bin ein anderer Mensch geworden durch Valeria“
„Haben Sie Aussetzer während der Nacht. Unerklärliche Träume, Zeitfenster an die Sie sich nicht erinnern können, oder wachen sie an Orten auf, von denen sie nicht wissen wie Sie dort hingekommen sind?“
„Nicht, dass ich wüsste“. Sein Blick wurde ernst, hart und undurchdringlich wie Eis. „Sie glauben, ich wäre der Werwolf. Glauben Sie das tatsächlich?“, brüllte Alec, „Wie erklären Sie sich dann, dass ich der Bestie direkt in ihre grausamen gelben Augen geschaut habe und ansehen musste, wie sie mit ihrem geifernden Maul den Opfern ihre Gedärme herausriss? Ich werde die Schreie niemals wieder vergessen, sie verfolgen mich wie die Bestie selbst in ihrer unermüdlichen Gier nach Blut. Und Sie kommen ernsthaft hier rein und behaupten, ich wäre die Bestie?“
„Sie könnten halluziniert haben, das ist nicht selten. Falsche Erinnerungen schleichen sich häufig ein“
Alec kommentierte die Aussage mit einer ausschweifenden Handbewegung. „Halluzination… Ich fasse es nicht“ Erst jetzt bemerkte er, dass das Wasser aufgehört hatte zu blubbern. Sich allmählich beruhigend stand er auf und goss den Tee in zwei Tassen. Das Porzellan der einen war bereits gesprungen.
„Entschuldigen Sie bitte. Es macht mich fertig, ohne Valeria zu sein und dann auch noch die Sache mit der Bestie“. Er fuhr sich über das stoppelige Kinn, bevor er mit den klirrenden Tassen zum Wohnzimmertisch zurückkehrte.
„Schon gut, ich verstehe Sie“. Oh ja, das tat er, dachte Alain. Im Kopf notierte er, emotionaler Schock …
„Pfefferminztee …“, sagte Alec. Er nahm einen Schluck und fuhr fort: „Wissen Sie, es war merkwürdig in diesem Laden. Die Bestie hat sie ohne Gnade zerfleischt, doch als das Tier mich sah, hielt es inne. Als wäre sie versteinert, irgendetwas hat sie abgeschreckt. Ob es das Jaulen der Polizeisirenen war und mein strenges Rasierwasser, ich habe keine Ahnung“. Bei der letzten Aussage formte sich sogar kurzzeitig ein Lächeln auf dem gezeichneten Gesicht, bevor es wieder verschwand.
Ein schrecklicher Verdacht kam Alain. Erschrocken stieß er aus: „Sie war es!“
Alec war so überrascht, dass er die Tasse fallen ließ. Sie zersprang auf dem Teppichboden und benetzte ihn mit Scherben und dampfendem Tee.
„Wer?“
„Valeria“
Kurz fürchtete Alain, Alec könnte wieder einen Wutanfall bekommen. Aber dem war nicht so.
Mit schockiertem Blick, sah er den Dämonenjäger an. „S-Sie kann es nicht gewesen sein … nein nicht sie. Sie ist ein friedfertiges Wesen …“
Alain packte Alec am Kragen. „Wo ist sie jetzt?“
Alec fasste sich wieder aus seinem traumaartigen Zustand. „N-Normalerweise arbeitet sie heute in der Spätschicht im Hotel“
„Ich muss gehen“
„Halt was werden Sie mit ihr tun?“
„Ich werde tun, was ich tun muss“, sagte Alain verbittert.
„Nein … nein. Das dürfen Sie nicht!“
„Es muss sein sonst wird sie noch mehr Menschen umbringen. Es ist nur eine Frage der Zeit bis die Bestie komplett von ihr Besitz ergreift. Wir müssen sie aufhalten, bald wird nichts mehr von ihrer Valeria übrig sein!“
Alain Vaine stürmte aus Alecs Wohnung, das silberne Mondlicht spiegelte sich auf seinem kahlen Schädel. Alec sah ihm nach. Geschockt versuchte er immer noch zu begreifen. Er saß in seinem Sessel und trank seinen Tee. Er fühlte die Kälte des Durchzugs, bis die Tür mit lautem Knall zuschlug.
Auf einmal fühlte er sich allein gelassen. Dann fasste er einen Entschluss. Schluchzend suchte er das Versteck. Er fand es und hängte den Bilderrahmen ab. Dahinter war eine geheime Tür in die Wand eingelassen. Alec öffnete sie und holte den Revolver hervor, den er bereits dem Mann mit der Glatze vor die Nase hielt, als dieser ihn aus seiner abendlichen Melancholie geholt hatte. Da war sie nur mit normaler Munition beladen gewesen, die Silberkugel war ein Bluff gewesen. Ein sicherer Bluff, denn Alec wusste schon vorher, dass der Mann kein Werwolf war. Es passte nicht zu dessen Gestalt. Nun holte er eine Schachtel aus der hinteren Ecke des Tresors. Kalt glitzerten silberne Patronen darin. Ein Freund hatte sie für ihn gegossen, es hatte ihn fast sein gesamtes Monatsgehalt gekostet und sein Freund hatte ziemlich verdutzt geguckt, als er mit der Bitte an ihn herangetreten war, aber er hatte den Auftrag erledigt.
Alec entfernte die normalen bronzenen Patronen und füllte die Kammern des Revolvers mit silberner Kälte. Acht Schuss, Alec war sich nicht sicher, ob er überhaupt schießen konnte.
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Im kalten Schein der Neonröhren saß Valeria vor ihrem Computer. Ihre Finger glitten über die Tastatur und erzeugten ein beinahe hypnotisches Geräusch. Sie war müde, aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich auch besser. Als würde ihr eine unsichtbare Kraft Halt geben. Seufzend hielt sie inne und betrachtete ihren Kaffeebecher. Kleine Wolken heißen Dampfes krochen die volle Tasse hoch, bis sie schließlich mit der warmen Raumluft verschmolzen und verschwanden. Von der häufigen Benutzung hatten sich dunkelbraune Ränder von Kaffeesatz an den Wänden gebildet. Sie sahen aus wie die Jahresringe eines Baumes, fand Valeria. Es war bereits ihr sechster Kaffee heute und die Nacht war noch lang. Der wohltuende Duft gerösteter Kaffeebohnen drang ihr in die Nase. Sie sog ihn gierig auf. Es war angenehm warm und seltsam intensiv. Vor ihr stapelten sich Listen und Abrechnungen zu unförmigen Papiertürmen, die sich skurrile weiße Hochhäuser in die Höhe schraubten.
Es war kurz vor Zwölf. Eine Tür öffnete sich. Sie konnte das Quietschen und Ächzen der Scharniere deutlich hören. Sie hob den Kopf und rechnete damit, dass ein Kunde in der Eingangstür stand und sie jeden Moment ansprechen würde, aber da war nichts. Sie vernahm Schritte. Sie pochten laut in ihrem Schädel, als würde die Person direkt hinter ihr stehen. Doch auch dort war nichts, stand niemand.
Stirnrunzelnd sah sie zur Treppe. Es war nur ein Instinkt gewesen, eine unbewusste Handlung, dass sie die Quelle des Geräusches dort ausmachte, doch im selben Moment, als sie darüber nachzudenken begann, warum sie dorthin sah, öffnete sich die Tür. Ein Mann, Valeria schätzte ihn um die vierzig, betrat den Raum. Die Schritte pochten laut in ihren Ohren.
Sie nahm Gerüche wahr, die so nie zuvor bemerkt hatte. Sie roch das säuerliche Rasierwasser des gepflegten Mannes, roch seinen Schweiß. All diese Gerüche vermischten sich zu einem Ganzen und blieben doch verschieden und deutlich erkennbar. Valeria registrierte, wie sich die Pupillen hektisch bewegten und schließlich an ihr haften blieben. Sie vernahm wie sich die Halsschlagader im Viervierteltakt hob und senkte, hypnotisch stark, verlockend.
Sie spürte auf einmal ein Verlangen, einen gierigen Hunger. Hastig griff sie in die Schublade und holte eine Schachtel Kekse hervor. Sie verschlang sie, doch das Gebäck vermochte ihren Hunger nicht zu stillen. Die Sinne meldeten ihr, dass der Mann ihr zunickte und nach draußen ging. Sie vernahm einen Hauch von Tabak. Vermutlich wollte er eine rauchen gehen, dachte sie. Das Pochen seiner Schritte und das Rauschen seines Atems durchfuhr Valeria
Was geschieht mit mir? Sie stand auf und widerstand dem Drang mit den Händen den Boden zu berühren. Stolpernd erreichte sie die Damentoilette. Ihr Schatten verfolgte sie auf Schritt und Tritt, aber er war irgendwie anders. Sie stellte das Licht an, das Knistern der Elektrizität konnte Valeria deutlich heraushören. Was war mit ihren Sinnen los? Schwer atmend stützte sie sich auf das Porzellan des Waschbeckens.
Valeria klatschte sich Wasser ins Gesicht, es war angenehm kühl, vermochte aber nicht die Hitze zu löschen die sich nun durch ihren Körper zog.
Valeria sah ihr Spiegelbild und wich zurück. Hatte sie nicht blaue Augen gehabt? Aus dem Spiegel starrten ihr gelbliche, runde Scheiben entgegen. Mit ihrem offenen Haar sah sie auf einmal wild, animalisch, aus. Was geschieht mit mir? , fragte Valeria sich wiederholt. Sie stolperte in die Lobby zurück, während ihr Kopf zu kreisen schien. Dann erblickte sie ihn. Wie eine höhnisch grinsende silberne Scheibe hing er am pechschwarzen Firmament. Valerias Atem ging stoßweise, Anfälle von Schüttelfrost erfassten sie. Ihr wurde kalt und sie schlang die Arme um den Körper. Ihre Hände fühlten förmlich wie die Haare wuchsen …
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Ein Motorrad erschien in seinem Blickfeld. Der schwarze Lack spiegelte den vollen Mond wieder, der nun am Nachthimmel hing. Ein Lied pfeifend wollte der Besitzer gerade losfahren.
Alain schrie, um auf sich aufmerksam zu machen: „Hey, Sie!“. Der Fahrer drehte sich um, klappte das Visier hoch, da wurde er auch schon aus dem Sattel geworfen und fand sich auf dem Gehweg wieder. Schnee klebte an seiner Bikerjacke. „‘Tschuldigung“, brummte Alain, bevor er den Motor aufheulen ließ und sich in den Verkehr warf. Die Flüche des Fahrers ignorierte Alain gewissenhaft. Er durfte keine Zeit mit langen Erklärungen und Rechtfertigungen vergeuden. Mit kreischendem Motor schlängelte sich die Maschine durch den dichten Verkehr, begleitet von einer Kakophonie aus Autohupen.
Schließlich erreichte Alain den Vorhof des Hotels. Die matten Spiegelbilder der Straßenlaternen begleiteten seine Fahrt. Alain bremste. Die Räder der Maschinen kreischten vor Schmerz und hinterließen schwarze Spuren auf dem Asphalt. Hastig sprang Alain ab, die Maschine fiel polternd in den Schnee. Sein Jackett flatterte im Wind, Alain entsicherte die Revolver und betrat das Hotel. Die Griffe legten sich angenehm vertraut in die Hand. Die Lobby war verlassen. Es roch stark nach Kaffee und dem Schreibtisch neben der Tastatur stand eine Tasse mit dampfender Flüssigkeit.
Vorsichtig schlich Alain in den Raum und schloss geräuschlos die Tür. Die Ledersohlen bewegten sich lautlos in Richtung Schreibtisch. Vor ihm lagen Zettel auf dem Boden verstreut und dunkle Kratzspuren fanden sich an den Wänden. Er nickte, es hatte begonnen, seine Vermutung erwies sich als richtig.
Aber die Bestie fand er nicht in seinem Blickfeld. Ein leises Rauschen, schlagartig drehte er sich um. Nichts. Seine Konzentration blendete alle unwichtigen Gedanken aus. Alain hatte nur noch Augen für die Umgebung, achtete auf das kleinste Geräusch. Ein huschender Schatten, Alain drehte sich wieder um.
Ein kehliges Knurren, er blickte direkt in das Antlitz der Bestie. Große schmutziggelbe Augen starrten ihn an. Lange Speichelfäden liefen die tödlichen Reißzähne hinab und bildeten dunkle Flecken auf den roten Teppich. Mit routinierter Schnelligkeit hob er die beiden Revolver. Kugeln donnerten der Bestie entgegen. Die Werwölfin ließ sich davon kaum beeindrucken. Das Tier hob die mächtige Vorderpranke und zerfetzte Alains Hemd. Dann versuchte es ihn zu Boden zu reißen. Gekonnt wich Alain Vaine zur Seite und der Angriff ging ins Leere. Der Kampf zerrte an seinen Kräften, Schweiß perlte von seiner Stirn. Mit donnernder Lautstärke barst die Wand, als die Bestie hineinstolperte. Putz und Staub färbten das dunkle Fell in ein staubiges Weiß.
Irgendwo im Raum verlor ein Blumentopf den sicheren Stand und zerschellte auf dem Boden. Alain lud hastig die Revolver nach, um bereit zu sein, wenn die Werwölfin aus ihrer Benommenheit erwachte. Doch er war hatte nicht mit der übermenschlichen Zähigkeit der Bestie gerechnet, geifernd stürzte sie sich auf ihn. Gemeinsam schlugen sie durch die Glasscheibe der Fronttür, was Alain Anzug den Rest gab. Das Kleidungsstück hin ihm in Fetzen vom Laib und die Kälte der Nacht griff nach ihm. Zitternd versuchte er sich aufzurappeln und hielt die Revolver schützend vor sich, bereit den entscheidenden Schuss abzufeuern.
Es krachte, verfehlt. Die Bestie war nun bei ihm und schlug die Revolver in den Schnee. Wieder sah er in die dunkelgelben Augen und erkannte darin die Reflexion des silbernen Mondes. Geifer tropfte auf die Fetzen seines Anzugs und verwusch die roten Blutflecken zahlreicher kleinerer Schrammen. Stöhnend versuchte Alain nach der Waffe zu greifen.
Dann hörte der Dämonenjäger einen Schuss donnern. Ein silberner Blitz durchstieß das Herz der Bestie. Aufjaulend presste sie die Hände an die Wunde. Sie dampfte und Blut sickerte durch das Fell. Taumelnd wich die Werwölfin zurück. Das Fell bekam Lücken, schließlich fiel es ganz aus. Klauen und die mit Reißzähnen bestückte Schnauze verschwanden. Schließlich fiel eine nackte Valeria in den Schnee. Ihr Blick war leer. Mit der linken Hand hielt sie die Wunde, aus der rotes Blut sickerte.
Alain erkannte Alec, sein Gesicht nur halb von der Mondscheibe beleuchtet. Sein Revolver rauchte. In dem Gesicht des jungen Mannes stand die Trauer. Tränen rollten die eingefallenen Wangen hinab und er sank auf die Knie.
„Warum Valeria?“, seufzte er.
Zuerst bemerkte niemand die schlanke Gestalt die sich ihnen näherte. Der goldenen Augen Sirenas suchten stumm den Blick Alains. Alain erwiderte ihn grimmig.
„Sie ist tot, Sirena“
Die Angesprochene ging zu Valerias Körper. Worte murmelnd legte sie die tätowierte Hand auf Valerias verletzte Brust. Das Dreieck glühte auf, während sich die Wunde allmählich schloss. Knisternde Stille lag auf dem Parkplatz.
Schließlich erwachte Valeria bibbernd zu neuem Leben.
„Was ist mit mir passiert. Ich habe ein Licht gesehen, wie in einem entfernten Taum, wie durch die Augen eines Anderen“. Sie schlang die Arme um die nackten Brüste und bemerkte erst jetzt, dass sie nichts anhatte. Ihr Atem kondensierte an der frischen Nachtluft. „Es ist so kalt“
Alec warf den Revolver weg und lief auf Valeria zu, schlang seinen dicken Wintermantel um sie, gemeinsam gingen sie in das Hotel. Die zerbrochene Glastür glitt still zur Seite und schloss sich wieder.
„Sie ist geheilt von ihrem Fluch. Zum Glück hat Alec das Herz der Bestie getroffen. Jetzt braucht sie das Silberamulett nicht mehr zu tragen. Das Tier in ihr ist vernichtet“
„W-Wie?“, brachte Alain krächzend hervor. Ihm schmerzten alle Knochen und das Brennen der zahlreichen Schnittwunden wurde nur mäßig durch die Kälte betäubt.
Sirena betrachtete ihre Hand. „Es gibt vieles was du noch lernen musst, Alain. Geh nun zu Crombey und sag ihm, die Bestie ist vernichtet. Ich muss jetzt gehen, und dich erwarten noch viele weitere Jagden“
Alain nickte.
Er war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen, aber es gab auch nichts mehr zu sagen.