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01.10.2002
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Hendrik kaute am Toastbrot, das er glücklicherweise im Schrank gefunden hatte. Während die anderen noch schliefen, war er in die Gemeinschaftsküche geschlichen und hatte auf einen der letzten sauberen Teller etwas Käse und ein paar kleine Tomaten gehäuft.
Jetzt saß er im leeren Seminarraum umgeben von Mariannas Blumen, die sie zum Malen mitbrachte.

Es war ein Aktzeichenkurs, den beide besuchten. Doch Marianna hatte beschlossen, keins der häßlichen Modelle mehr zu zeichnen, die Uli, der Kursleiter, im Dorf besorgen mußte, nachdem Hendrik sich als einziger nicht hatte ausziehen wollen. Uli hatte sich aufgeregt, die Gruppe würde nur funktionieren, wenn sich jeder Teilnehmer auszöge, um Modell zu stehen. Jeder, ohne Ausnahme. Bisher hätte es nie Schwierigkeiten gegeben. Er, Hendrik, sei der erste, der das Kurskonzept nicht verstünde. Er galt jetzt als schwierig. Verklemmt, traute sich niemand zu sagen. Natürlich waren die meisten sauer, dass sie nun jeden Morgen zwei Euro in das kleine Schälchen neben der Tür legen mussten. Geld, das besser in Grappa angelegt wäre, als in Lohn für Modelle, die lustlos den Kontrapost erst üben mussten.

Hendrik fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte. Aber er hatte keine Lust etwas zu erklären. Das sah er gar nicht ein. Er wollte zeichnen, mehr nicht. Was konnte er dafür, dass Uli sein Konzept im Programmheft so nachlässig erklärt hatte? Vielleicht hätte er Uli sagen sollen, was mit ihm los war.

In der Nacht hatte Hendrik gebadet. Während er im Dunkeln im Wasser lag, hörte er von draußen Gemurmel und Gelächter, nur wenige Meter von sich entfernt. Die anderen feierten auf der Terrasse eine Party, während der Sternenhimmel sich über ihnen wölbte. Ein Mädchen war ins Bad gestürzt, als er gerade das Wasser einließ. Als sie ihn erkannte, rannte sie enttäuscht davon. Im Wasser fiel alle Schwere von ihm. Für Momente dachte er an das Mädchen. Wenn sie ihn gesehen hätte, nackt, das Ding vor ihm im Wasser schwimmend wie bei einem Opa im Krankenhaus. Aber sie beachtete ihn auch sonst nie. Keins der Mädchen. Es war ihnen egal, wenn er ihnen in den Ausschnitt starrte. Und Marianna trug ihr übergroßes, unter den Achseln ziemlich weit nach unten rutschendes T-Shirt bestimmt nicht, um gerade ihn zu beeindrucken. Hendrik mochte es nicht, wie unverschämt locker sie mit ihren Körpern umgingen. Nicht, dass er älter wäre. Aber er fühlte sich in ihrer Gegenwart müde und ernster, als er eigentlich war.

Er wunderte sich, warum bisher niemand von den anderen erschienen war. Sie genossen bestimmt noch ihr Frühstück unter den Bäumen und brühten vielleicht gerade eine weitere Kanne Espresso. Er sah sie vor sich: lachend, ein Mädchen mit einem Topf geschlagener Milch und er war froh, dass er die letzten Scheiben Toastbrot genommen hatte - von dem selbstgebackenen Ökobrot, das Uli beim Bauern nebenan besorgte, bekam er Blähungen.

Neben seinem Teller sah Hendrik die verblaßten Kreidestriche, die dem Modell halfen, seine alte Position zu finden. Hendrik hatte die etwas unbeholfene Frau gefallen, die aussah, als hätte sie mindestens zwei kleine Kinder zu Hause. Aber Marianna hatte sich bei Hannes beschwert, was für eine Zumutung es sei, diese Person zeichnen zu müssen, mit ihrem breiten Bauernhintern und "hast du erstmal das Giraffenmuster auf ihren Oberschenkeln gesehen?"

Die junge Frau war beim zweiten Mal nicht erschienen und Uli war nervös losgezogen, um Ersatz zu beschaffen. Alle waren gespannt, wen er diesmal mitbringen würde. Hannes und die anderen Jungs hofften auf so ein weibliches Wunder wie die zierliche Zahnarzthelferin mit dem frechen Pferdeschwanz, deren kecke Brüste noch weiter den Seminarraum tapeziert hätten, wenn sich nicht plötzlich ihr Dienstplan geändert hätte. In den zwei Wochen darauf hatte es nur noch Reinfälle gegeben. Zwei dicke, höchstens siebzehn Jahre alte Freundinnen, die aufdringlich nach Deo und Seife rochen. Ein Soldat auf Urlaub, der mit rotem Kopf ängstlich an sich hinab schaute, wo sich ein Tropfen zu einem immer länger werdenden Faden spann.
Danach hatte Marianna nur noch Blumen gezeichnet.

Hendrik dachte an die letzte Modellstunde. Alle hatten neugierig spekuliert, wen Uli diesmal mitbringen würde. Es war die Gärtnerin gewesen. Sie war ihm schon einmal aufgefallen, ihre Arme tief gebräunt, ihr Zopf lang und störrisch, hatte sie im Gemüsebeet hinter dem Seminarhaus gehockt.
"Das ist Maja." Die anderen Modelle hatte Uli nicht vorgestellt. Sie hatte sich mit einer Selbstverständlichkeit ausgezogen, die Hendrik verlegen machte. In der Pause war sie in ein Handtuch gehüllt zwischen den Staffeleien her gewandert, ab und zu etwas bemerkend. Hendrik wunderte sich auch jetzt, woher sie so viel vom Zeichnen verstand.

Er wollte nach dem Unterricht noch in die Stadt. Er hatte Sehnsucht nach einem Chat im Cröhnchen-Club und überlegte eine Antwort auf Janas Frage, wie sie ihrem sechzehnjährigen Freund erklären könnte, was Morbus Crohn ist. Aber er hatte mit seinen zweiundzwanzig Jahren viel weniger Erfahrung als sie, eigentlich keine. Auch nicht mit Mädchen. Er wunderte sich, wie locker Jana mit dem Thema umging und war ein wenig neidisch.

"Wo sind die anderen?", riß ihn jemand aus seinen Gedanken. Hendrik schaute auf, es war Maja, die sich wunderte, warum niemand zum Unterricht kam. Hendrik wollte ihr erklären, dass die anderen noch draußen saßen, aber das wusste sie sicherlich auch selbst.
"Du kannst mich allein zeichnen. Komm mit", sagte sie lächelnd.
Hendrik zögerte einen Moment. Sie konnten doch nicht einfach verschwinden? Aber die Aussicht ohne störendes, albernes Gekicher zeichnen zu können, war verführerisch, er hatte immer schon davon geträumt, ein Modell für sich allein zu haben.

Er folgte Maja über die Wiese des Seminarhauses, durch den Garten, an den sich ein verwildertes Grundstück anschloss, voller merkwürdiger Blumen, und als er die Lücken in den Rabatten sah, wußte er woher Marianna ihre ‚Modelle' bezog.
Aus der Ferne sah er die anderen, sie frühstückten immer noch und er war froh, dass sie nicht auf ihn achteten. Weder auf ihn, noch auf Maja.
"Wir können oben zeichnen", sagte Maja und er folgte ihr durch eine schattige Wohnküche, die Treppe hinauf in einen weißgestrichenen Dachboden. Ein gewächshaushelles Atelier, voller Zeichnungen an den Wänden. Auf manchen war Maja selbst zu sehen. Ihr schwarzer Zopf floß über schwere Brüste und einen Bauch, den Marianna einer Liposuktion unterziehen würde.
"Dann bist Du gar nicht Gärtnerin?" fragte er.
"Doch, aber nur als Nebenjob", erklärte Maja. "Uli und ich kennen uns vom Studium. Ich helf ihm aus, wenn er kein Modell hat."
Hendrik bewunderte ihre Zeichnungen, ihre sicher gesetzten Schraffuren, die feinfühlig beobachteten Details und er schämte sich, als Anfänger eine Künstlerin zu zeichnen. Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, lächelte Maja ihn an: "Ich würde dich auch gern zeichnen."
"Aber –."
"Ich weiß."
Was wußte sie?
Vielleicht hatte das Mädchen vom Abend zuvor, im Bad mehr gesehen, als ihm lieb war. Und ihr Blick war nicht enttäuscht gewesen, wie er zunächst angenommen hatte. Und sicherlich hatte sie ihr Entsetzen gleich teilen müssen. Kein Wunder, dass auch Maja Bescheid wusste.
"Ich war nicht immer Malerin", sagte Maja ruhig.
Was wollte sie damit andeuten?
"Ich habe erst mit 30 angefangen zu studieren", sagte sie behutsam. "Davor war ich Krankenschwester."
Gärtnerin, Modell, Malerin. Und jetzt noch ein Beruf mehr.
Hendrik wunderte sich über diese Vielseitigkeit, er würde sie danach fragen, später.

Maja verschwand, um Kohle und Papier zu holen und Hendrik stand im Raum, wie erstarrt und auch ein wenig aufgeregt und während Maja hinten in der Ecke nach einem unbenutzten Stück Papier suchte, überlegte er hin und her, und mit einem kleinen Zögern begann er sich auszuziehen.

 

Hallo petdays,

ich habe deine Geschichte gerne gelesen, sie macht nachdenklich und zeigt mal wieder, wie wenig selbstverständlich viele Dinge für Menschen sind, die ein Handikap haben - und wieviel leichter man alles lösen könnte. Mit Reden und Handeln und einem natürlichem Umgang mit den Gegebenheiten.

Viele Grüße
Déjà-vu

 

Hallo Déja-vu,
hab mich über Deine Rückmeldung gefreut.

LG Petra

 

Hallo Kristin,
Danke für Deine sorgfältige Beschäftigung mit dem Text.
Zu den Fragen:
1.
Die Kursteilnehmer kommen nicht, weil sie noch beim Frühstücken sind und es mit dem Unterrichtsbeginn nicht so genau nehmen.
Uli ist ein ziemlich dominant-engstirniger Kursleiter, ein Prinzipienreiter. Es gibt tatsächlich solche Aktzeichenrunden, wie oben beschrieben, wo sich alle gegenseitig zeichnen und wo jemand, der nur Zeichnen will, nicht aber Modell steht, rausfliegt. (Es zum Teil auch sicherlich seine Berechtigung hat.)

2.
MArianna ist eine andere Kursteilnehmerin.

3.
Maja ist ebenso wie H. genervt, dass die anderen es mit dem Zeichnen nicht so ernst nehmen. Deshalb kommt ihr der Einfall, nicht auf die anderen zu warten und H. allein mit in ihr Atelier zu nehmen.

4.
Da hast Du Recht. Hendrik und Maja müssten schon an irgendwelchen Hecken vorbeischleichen, damit die anderen sie nicht sehen.... Gut beobachtet!

5.
Ich weiß nicht, wie gut Du dich in Künstlerkreisen auskennst. Die meisten, auch guten!! Künstler sind gezwungen Nebenjobs zu übernehmen. In Rezessionszeiten geben die wenigsten Leute Geld für Kunst aus, mittelbar betrifft es dann auch die Künstler.

Hoffe, Deine Fragen beantwortet zu haben.
Liebe Grüsse Petra

 

Hey,
schöne Geschichte, liest sich ganz gut und zaubert einem irgendwie ein Lächeln ins Gesicht, trotz der nicht so lustigen Botschaft. Ich finde das Ende macht Hoffnung.
Ich stimme Kristin in ihrer Kritik absolut zu. Auch wenn deine Antworten weitergeholfen haben, solltest du vielleicht nochmal an der Geschichte etwas arbeiten, damit das was du hier geantwortet hast aus der Geschichte selber klar wird.
Alles in Allem aber eine wirklich nette Geschichte.
Gruss Roman

 

Hallo Roman, hallo Kristin,
vielen Dank für Eure Anregungen!

Argument 5: da ist schon was dran. Bist aber auch spitzfindig... find ich aber gut! Ja, ich müßte erklären, warum sie nicht mehr als Krankenschwester arbeitet oder die log. Lücke anders schliessen.

LG Petra

 

Hallo Pe,

eigentlich wurde zu deiner Geschichte schon alles gesagt, was zu sagen ist.

Auch ich fand deine Geschichte gut. Sie lies sich flüssig lesen und zog sich nicht unnötig in die Länge. Ne nette kleine Geschichte für Zwischendurch eben!

Die Beschreibungen mit den vorrigen, angeheuerten Modellen fand ich amüssant, auch wenn ich nur widerstrebend glauben kann, dass angehende "Künstler" wirklich so oberflächlich denken, aber das tut wohl jeder Mensch.
Jeder hat lieber nen schlanken, geil aussehenden nackten Menschen vor sich sitzen, als einen "Bauernhintern", da machen wohl auch Künstler keine Ausnahme.

Zur 2. Frage von Kristin:

Ich hab mir das so erklärt, dass Hendrik der einzige männliche Teilnehmer ist, kann da aber auch was überlesen haben.

Was mir irgendwie gefehlt hat, war ne Aussage! Oder soll dein Text überhaupt ne bestimmte Aussage enthalten!

Alles Gute in 2003!

Kev2

 

Hallo Kevin,

Danke fürs Lesen!

Zu deinen Fragen:
Hendrik ist nicht der einzige Mann; im Text wurden an einer Stelle "Hannes und die anderen Jungs" erwähnt.

Zum Thema/ Aussage, die eher angedeutet zwischen den Zeilen steht:
Hendrik leidet unter Morbus Crohn, einer Darmkrankheit (>deswegen auch der erwähnte Chat im "Cröhnchen-Club") und hat einen künstlichen Darmausgang (das "Ding" vor seinem Bauch, ein Plastiksäckchen), was er aber gegenüber der Zeichengruppe nicht zugeben kann + weshalb er nicht Modell stehen möchte.

Ich gebe aber zu, dass ich das Thema etwas stärker hätte verdeutlichen müssen, so überliest man schnell die Andeutungen. Müsste entweder ein kurzes Vorwort vorangestellt oder die Geschichte verlängert werden.

Dir auch ein schönes + kreatives 2003!

Pe

 

Hallo petdays,

mir gefällt die Geschichte recht gut, weil sie sensibel und ruhig geschrieben ist. Der Satz „Er fühlte sich in ihrer Gegenwart müder und ernster, als er eigentlich war“ sagt viel über die seelische Verfassung des Protagonisten aus, seine Isolation (die Mädchen sind an ihm nicht interessiert, er feiert die Party nicht mit), aber auch Resignation ist zu spüren.
Interessant ist auch, wie schnell er das „Konzept nicht versteht“ und deshalb als Quertreiber dasteht.
Darf ich noch eine spitzfindige Bemerkung machen? „... losgezogen, um Ersatz zu beschaffen ...“ - das hat für mich so geklungen, als ob eine Sache aufgrund von Verschleiß ausgetauscht wird. (Vielleicht weil ich letztens in der Autowerkstatt war ?).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

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