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Airport City
Um genau sechs Uhr begann die Wanduhr zu läuten. Sie sah aus, wie ein urtümliches Holzhäuschen. Vergilbte Farben erinnerten an eine einst frohe und reiche Bemalung und verrostete Federn an verschwundene Figürchen, die vor dem Häuschen befestigt waren.
Mit einem gezielten Schlag auf den Kamin beendete Julius den quälenden Weckton, richtete sich im Bett auf und rieb sich die verschlafenen Augen.
Montag, dachte er angewidert und überlegte sich, seinen Körper wieder auf die Matratze – welche aus alten Kleidern bestand – fallen zu lassen, doch er wusste, dass es das Wachwerden nur schlimmer machen würde und zwang sich hoch.
Er wusch sich die Augen in einem Eimer, in welchen Wasser von irgendwo aus der Decke hineintropfte. Darum müsste ich mich auch noch kümmern, dachte Julius und betrachtete kurz das kleine Loch in der stark korrodierten Wasserleitung.
Er stopfte sich widerwillig einen an ein Ohr erinnernden, gebratenen Pilz in den Mund und ergänzte das Mal mit einigen Blättern Lauch und einer winzigen Tomate. Aus einem zahlreiche Male gebrauchten Pappbecher trank er einen von gestern übriggebliebenen Löwenzahntee, spuckte vor Bitterkeit in den Abwassereimer und drehte sich wieder zum Behälter mit dem sauberen Wasser, wo er sich die Zähne mit den Fingern und einer Alkali-Lösung reinigte.
Julius zog sich seine verwaschenen Jeans und eine alte, schwarze Lederjacke an, nahm den Abwassereimer und ging nach draussen. Er fand sich in einer schmalen Passage wieder, wo früher die Zuggeleise gewesen waren. Links und rechts davon drängten sich schmale Hütten aus Holzbalken und Plastikplanen.
Hier wohnte der Mittelstand der unterirdischen Stadt Airport City. Lebensmittelproduzenten, Wissenschaftler, Techniker und andere Menschen dieser Art. Die Häuser waren allesamt sehr einfach gebaut, besassen seltener auch eine zweite Etage.
Julius blickte hoch und betrachtete missmutig die schwarze Decke, die sich nur wenige Meter über dem Boden befand. Lampen hingen an Kabeln von der Decke herab und beleuchteten die Umgebung mit einem orangen, kalten Licht. Während der Nacht wurde die Beleuchtung gedimmt und sie begann nun stetig heller zu werden.
Er nickte einer ihn misstrauisch beobachtenden Nachbarin zu und begab sich hinter sein Haus. Dort leerte er den Abwassereimer in eine Rinne, wo die Flüssigkeit schnell im Boden verschwand. Julius wusste, dass alle Abwasserrohre in einen tiefen Schacht mündeten, der extra für diese Zwecke im östlichen Teil der Stadt ausgehoben wurde. Er war so tief, dass ihn die Einwohner als ein bodenloses Loch bezeichneten. Alles Abwasser fand dort sein Ende. Und auch einige Unglückliche, deren Pech es war, mit der Todesstrafe verurteilt zu werden.
Julius fand diese Exekutionen unmenschlich und falsch. Glücklicherweise lag die letzte solche Menschenbeseitigung mehr als fünf Jahre zurück. Denn man musste schon etwas sehr Schlimmes verbrochen haben, um zum Tode verurteilt zu werden.
Julius ging zurück in die Hütte, versorgte den Eimer, nahm seine Umhängetasche und sein Schweizer Taschenmesser und ging wieder auf die Strasse. Sein Messer war seinem Stand entsprechend nicht ein einfaches Basismodell mit zwei Klingen und den sinnlos gewordenen Flaschen- und Dosenöffnern, sondern es besass dazu noch eine Säge, eine Feile und eine kleine Schere.
Die Taschenmesser in Airport City repräsentierten, wie wohlhabend jemand war. Die Reichen besassen oft grosse, klobige Modelle mit mehr als 30 Funktionen oder Multitools und haufenweise Zubehör und das in mehrfacher Ausführung. Die Ärmeren dagegen waren froh, wenn sie sich ein einfaches Basismodell leisten konnten.
Da die Messer Standessymbole waren, galt es als höchste Ehrverletzung, wenn man sie stahl. Im schlimmsten Falle wurde man für solches Fehlverhalten mit dem Tode bestraft.
Julius blickte auf seine Armbanduhr – ein umgebautes, altes Modell – bei dem ein externer Akku angeschlossen war, und vergewisserte sich, dass er noch Zeit hatte, bevor er zur Arbeit musste.
Er folgte der Passage, bis eine Abzweigung kam, bog ab und gelangte nach einer steilen Treppe auf den Bahnsteig, der rund einen halben Meter höher lag, als das Viertel des Mittelstandes. Auch hier war alles voller Hütten, die aber viel edler Aussahen und zum Teil sogar Stützen aus ehemaligen Schienen oder aus Steinsäulen besassen.
Julius ging an Häuserreihen vorbei, überquerte einen viermal vier Meter grossen Platz mit einer Bank und einem verkrüppelt aussehenden Strauch und passierte die Überreste einer Rolltreppe. Die Treppe war grösstenteils auseinandergenommen worden, Hütten befanden sich an dessen Stelle, doch einige Säulen und Träger waren noch da.
Hier brauchte es keinen Weg nach oben mehr. Die wenigen Schächte, die noch an die Oberfläche führten befanden sich an den Rändern der Stadt und waren gut gesichert, damit keine Kreaturen von der Oberfläche nach unten gelangen konnten. Sogar die Luft oben war kontaminiert mit Dingen, die die wenigen Wissenschaftler der Stadt bis heute nicht identifizieren konnten. Die Luft musste durch Luftfilter gepumpt werden. Diese wiederrum wurden jeden Monat auf komplizierte Weise gereinigt. Das war sicherlich kein angenehmer Job, weshalb er auch nur von Angehörigen des niedrigsten Standes ausgeführt wurde.
Als vor mehreren Jahrzehnten der Krieg ausbrach und sich schnell über weite Gebiete ausbreitete, dachte noch niemand in der Schweiz, dass jemand das traditionsgemäss neutral stehende Land angreifen würde. Schnell wurde klar, dass das nicht der Fall war, als die ersten Bomben schweizerische Städte in Schutt und Asche legten. Und als chemische, biologische und nukleare Waffen hinzukamen gab es für die Menschen nur noch einen Ausweg: den Untergrund.
Die Eltern von Julius – sie kannten sich damals noch gar nicht – waren gerade am Flughafen von Zürich, als die Erde durch eine Bombardierung erbebte. Eine Gaswarnung spornte die Leute an, im unterirdisch liegenden Teil des Flughafens, wo die Bahngeleise angelegt waren, Unterschlupf zu suchen. Rund 900 Personen konnten sich in Sicherheit bringen, als direkte Bombeneinschläge alle Ebenen des Gebäudekomplexes, abgesehen von der untersten Etage, zum Einsturz brachten. Ein breiter Schacht auf der Westseite des Gebäudekomplexes, welcher die Gleise direkt mit der Oberfläche verband wurde ebenfalls verschüttet, was schliesslich die Leute unter der Erde gerettet hatte, als eine Ladung biologischer Bomben auf das Flughafenareal traf. Einige wenige Angehörige der Armee, die sich in den Untergrund gerettet hatten, hatten daraufhin richtig reagiert und den übriggebliebenen Eingang im Osten mit einfachen Mitteln gesprengt. Das alles war innerhalb eines Tages passiert und so war Airport City entstanden.
Die Menschen lebten zuerst in einfachen Verhältnissen, direkt auf den Bahnsteigen, unorganisiert und in ständiger Hoffnung, dass Rettung kommen würde. Doch sie kam nicht. Einige wenige Draufgänger, die sich in improvisierten Schutzanzügen und Kohle-Luftfiltern auf die Oberfläche wagten, kamen entweder gar nicht zurück, oder erreichten die unterirdische Stadt im halbtoten Zustand. Sie berichteten über eine veränderte Umwelt auf der Oberfläche, von der völligen Abwesenheit von Menschen und bekannter Strukturen und über furchteinflössende Mutanten, die alles jagten, was sich bewegte.
Den Menschen wurde klar, dass das Leben würde nie mehr so sein, wie früher und sie begannen sich anzupassen. Sie begannen zu bauen. Die Materialien nahmen sie sich aus ihrer düsteren Umgebung. Sammler gingen in Vollschutzanzügen an die Oberfläche und besogten alle noch brauchbaren Gegenstände aus den eingestürzten Teilen des Gebäudekomplexes und der Umgebung. Zeitungen, Markenkleider, Konservendosen, Duty-free-Artikel und Elektronikartikel; Günstiges und Teueres wurde plötzlich gleich wichtig und nur nach seinem funktionellen Wert bewertet.
Und während die Stadt im Untergrund immer kompliziertere Ausmasse annahm und immer besser organisiert wurde, durchstreiften sogenannte Hicker die Umgebung an der Oberfläche in weiten Kreisen, um weitere brauchbare Gegenstände zu finden und vor allem, andere menschliche Überlebende. Denn es musste sie geben, daran glaubten die Meisten. Es gab andere Orte, wo sich Menschen hätten retten können. Schon der Hauptbahnhof in Zürich besass mehrere unterirdische Ebenen und viel längere Tunnels, mit einer Kapazität für mehrere Tausend Menschen. Doch die wenigen Hiker, die soweit gekommen waren, schafften es nicht, in den stark zerstörten Bahnhof einzudringen oder Spuren von Menschen in seiner Nähe aufzufinden. Dafür brachten sie nicht nur seltene und nützliche Gegenstände zurück, sondern auch spannende Abenteuergeschichten, die sie stundenlang den Menschen in Airport City erzählten, wenn sie zurückkamen.
Als Julius noch klein war, hörte er den Hikern immer gerne zu, obwohl seine Mutter das nicht gerne sah. Wenn ein Hiker ankam, rannte Julius unbemerkt von Zuhause weg oder schwänzte sogar die Schule, um diesen furchtlos aussehnden Männern und Frauen über ihre Erlebnisse zuzuhören. Ihn faszinierte ihre selbstsichere Art, ihre vernarbten Gesichter und Hände und ihre Kleidung, bestehend aus dicken, soliden Materialien und verziert mit unzähligen Taschen, Gurten und offen hängenden Werkzeugen. Und Julius wünschte sich einmal, er könnte auch ein Hiker werden und die weite Welt erkunden, seltene Schätze finden und über seine Heldentaten berichten. Und er wollte wenigstens einmal die Sonne mit den eigenen Augen sehen.
Doch die Zeit schritt voran. Julius wurde erwachsen. Kinderträume wurden durch die düstere Realität in den Hintergrund gedrängt. Und nicht nur Julius änderte sich, sondern auch die Stadt. Immer weniger Hiker gingen an die Oberfläche, denn immer weniger wurden ihre Dienste gebraucht. Die letzte grosse Hikertour lag fast zwei Jahre zurück. Die Umgebung von Airport City war nun bestens erforscht, die gefährlichsten Mutantenherde registriert. Und weiter als bis zum Zentrum von der ehemaligen Stadt Zürich zu gehen, was sowieso kaum möglich, mit den wenigen konstruierten Kohlefiltern, die ein Mann auf sich tragen konnte. Airport City entwickelte sich immer mehr zu einer sich selbst erhaltenden Stadt. Nahrungsmittel und die wichtigsten Gebrauchsgegenstände wurden in der Stadt mit den vorhandenen Mitteln hergestellt. Die nun in den Stadt lebenden etwa 700 Einwohnern lebten organisiert und gingen friedlich miteinander um.
Julius verliess die Umgebung der Rolltreppe und begab sich zu einem ehemaligen Liftschacht. Im unteren Teil der Glaskonstruktion befand sich ein Geschäft, in dem man allerlei Haushalsartikel und Nahrungsmittel kaufen konnte. Der obere Teil des Schachtes war zu einem Wohnraum umgebaut, wo die Familie des Ladenbesitzers lebte.
Julius betrat den Laden, denn er war Tag und Nacht geöffnet, abgesehen sonntags selbstverständlich. Er ging an den ordentlich und sehr platzsparend platzierten Gestellen vorbei und trat zum Verkaufstisch. Mit einem lauten Gruss weckte er den dösenden Verkäufer und legte ihm vier farbige A4-Seiten vor, vier Seiten aus einem Magazin. Der Verkäufer drehte mürrisch die glänzenden Seiten in den Händen.
"Vier", sagte er und Julius nickte. Er wusste, dass sich unter diesen vier Blättern keines befand, welches mehr als eine Basisseite Wert war.
Nachdem die Menschen im Untergrund eingeschlossen wurden und sich zu organisieren begannen, merkten sie, dass sie eine Währung brauchten, um ein funktionierendes Wirtschaftssystem aufzubauen. Zuerst hatte man das von den Leuten nach unten gebrachte Geld eingesammelt, es verteilt und benutzt. Banken bildeten sich aus, von Einzelpersonen geführte Institutionen, die Erspartes horteten, Zahlungstransfers machten und Kredite aushändigten. Schnell begann das vorhandene Geld an Wert zu verlieren und seine Menge reichte nicht mehr für Zahlungen aus. Man brauchte ein neues Zahlungsmittel. Das Problem wurde durch die Unmengen von Magazinen gelöst, die in die Untergrundstadt aus den Ruinen des Flughafens gebracht wurden. Farbige A4-Seiten mit einer glänzenden Oberlfäche wurden zum neuen Zahlungsmittel erklärt. Natürlich gab es einfache Seiten und solche die einen höheren Wert hatten. Dazu gehörten die härteren Umschläge, Titelseiten, Plakate und Blätter mit Bildern von Fahrzeugen und Frauen. Letzteres hatte hohen Wert, verschwand aber trotzdem schnell aus dem Verkehr. Viele Männer hängten sich die Bilder lieber an die Wand, als sie für eine Dose Pilze auszugeben. Selbst Julius hatte zwei solche Seiten, die er sich in seiner Hütte aufgehängt hatte. Sie hatten einen grossen Wert und nur gerade wegen ihnen hatte er sich ein Schloss für seine Eingangstüre besorgt. Diebstähle kamen zwar inzwischen selten vor, doch man konnte nie sicher sein.
„Was soll’s denn sein?“, fragte der Verkäufer und packte das Geld weg.
„Ich brauche Seife“, antwortete Julius. „Seife für zwei Blätter.“
Der Verkäufer holte aus einer Schublade einen Stoffballen hervor und entfaltete ihn sorgsam. Darin befand sich ein unförmiger, geschwürartiger, grauer Körper. Es war die Seife, die der Verkäufer selbstständig auf irgendeine geheime Art und Weise herstellte. Mit einer rostigen Zange brach der Mann vom grauen Klumpen ein fingerschpitzgrosses Stück ab und legte es vor Julius demonstativ auf den Tisch.
„Und Toilettenpapier“, sagte dieser. „Für den Rest.“
Der Mann hinter der Theke ging zu einem Schrank und holte daraus einen dünnen Stapel Zeitungen heraus und reichte sie seinem Kunden. Julius packte alles in seine Tasche und verliess das Geschäft.
Während farbige Seiten aus Glanzpapier zur Währung wurden, wurden dünne Zeitungsseiten der Tagblätter und Gratiszeitungen zu Toilettenpapier degradiert. Natürlich erschien es etwas überflüssig, bei dem vorherrschenden Lebensstil, für ein solch unwichtiges Produkt, wie das Toilettenpapier, Geld zu verschwenden, doch für viele Leute, war dieses Produkt immer noch unverzichtbar. Viele sagten, dass eine moderne Kultur, auf so etwas wie Toilettenpapier niemals verzichten dürfte. Es gab sogar einige Philosophen in Airport City, die den endgültigen Weltuntergang prophezeiten, sobald alles Toilettenpapier aufgebraucht war. Doch momentan waren die Lager voll von diesem Kulturgut und das würden sie wohl noch einige Jahrzehnte bleiben.
Natürlich enthielten all die Zeitungsreste wertvolle Informationen. Ein Team aus Hirtorikern hatte deshalb die Aufgabe, alle in die Geschäfte kommenden Zeitungen durchzulesen und relevante Informationen zu registrieren. Julius war sich sicher, dass es unterhaltsam sein könnte, alle diese früheren Tagesereignisse durchzulesen, doch er bevorzugte es, sich mit der Vergangenheit den Hintern abzuwischen.
Wenn er etwas lesen wollte, konnte er in die Bibliothek gehen, in welcher sich Bücher der alten Welt bis zu der Stadtdecke hinauf stapelten. Da Julius kein grosser Leser war, war er bis jetzt nur selten dort gewesen. Er zog den Büchern Filme vor und ging öfters in das Stadtkino, das sich in einem alten Wagon eines ehemaligen Regionalzuges befand und laufend, mehrmals am Tag Filme auf einem grossen, flachen Bildschirm zeigte.
„Du bist doch Julius, oder nicht“, fragte der Verkäufer plötzlich, während er seine Seife wieder wegpackte.
„Ja“, antwortete Julius.
„Und du arbeitest bei Roman?“
„Ja, genau.“
„Und ihr liefert auch in den Westen?“
„Ja, ja“, Julius wurde ungeduldig. „Wieso? Gibt es irgendein Problem?“
„Nein, nichts Besonderes“, sagte der Verkäufer. „Habe nur gehört, dass im Westen beim Ausgang irgendetwas herumgräbt. Du weisst schon, Muntanten oder dergleichen.“
„Also wie, ‚herumgräbt‘?“
„Ich weiss auch nicht, Mann. Das ist das, was mir ein Kollege erzählt hat. Nur, dass du es weisst. Vielleicht findest du ja mehr heraus.“
Nachdenklich verliess Julius den Laden und bewegte sich auf die andere Seite des Bahnsteiges. Grabende Mutanten? Es wäre nicht das erste Mal, dass irgendwelche Monster versucht hatten sich in die Stadt durchzugraben. Hiker kümmerten sich normalerweise um diese Probleme. Der Stadtrat hatte die Sache schon im Griff und würde die richtigen Entscheidungen treffen, beruhigte sich Julius und vergass schnell das Gespräch mit dem Verkäufer.
Er ging vom Perron runter und folgte einer Passage bis zu einer breiten Hütte. Hier traf er auf einige andere Leute, die aus dem Haus herauskamen oder ebenfalls hinein wollten.
Was soll’s denn heute sein, fragte Julius sich selber in Gedanken, während er die freien Sportgeräte betrachtete. Hier standen zahlreiche Rudermaschinen, Fahrrad-Ergometer und Crosstrainer. Natürlich waren alle Ergometer schon besetzt; am liebsten hätte auch Julius ein solches genommen. Zum Rudern fühlte er sich nicht fit genug am Anfang der Woche und so entschloss er sich wieder den Crosstrainer zu nehmen.
So früh am Morgen hatte er keine Lust mit jemandem Gespräche zu führen und suchte sich deshalb einen Platz, der möglichst weit weg von allen anderen plaziert war. Andere Neuankömmlinge überlegten wohl auf die ähnliche Art und Weise und verteilten sich nach dem Gesetz der grösstmöglichen Distanz an den Geräten.
Julius stieg auf den Crosstrainer, meldete dem Aufseher, der mit einem Klemmbrett zu ihm geeilt war, seinen Namen und begann sogleich mit der Arbeit.
Diese Sportaktivitäten waren nicht nur da, um die Bevölkerung fit zu halten. Jeder Bürger der Stadt war verpflichtet 5 kWh an Strom in der Woche mit solchen Trainingsgeräten herzustellen. Wann man diese Arbeit erledigte, war einem selber überlassen. Die einen erledigten das alles am Wochenende, doch Julius bevorzugte es, den Sport am Morgen vor der Arbeit zu tätigen. Trainingsleistung konnte mit Zertifikaten gehandelt werden. Bis zu 80 Prozent davon konnte man verkaufen, oder hinzukaufen. In den letzten Jahren kam ein neuer Trend auf; reichere Bürger verkauften ihre Leistung an andere, sodass in den Trainingssählen vor allem Leute der ärmeren Schichten zu sehen waren.
Der Strom, der so generiert wurde, wurde in Akkumulatoren gespeichert und der Stadt zur Verfügung gestellt. Natürlich reichte das allein nicht aus, so dass es Leute gab, sogenannte Strohmer, für die die Stromproduktion nicht eine Pflicht, sondern Arbeit war, mit der sie sich die üblichen 42 Stunden in der Woche beschäftigten und weit mehr Energie produzierten, als die einfachen Bürger. Ihre Geräte waren an einem anderen Platz in der Stadt untergebracht und abgesehen davon betrieben sie auch zwei kleine Wasserkraftwerke, die an einem unterirdisch verlaufenden Fluss angebracht waren und gewartet werden mussten.
Rund eine Stunde später stieg Julius leicht schwitzend vom Crosstrainer herunter, meldete sich beim Aufseher ab und verliess den Trainingsraum.
Er durchlief einige Passagen, grüsste die immer zahlreicher werdenden Leute und gelangte schliesslich in eine abgelegene Ecke im Osten der Stadt, wo sich sein Arbeitsplatz befand. Hier waren die Wände feucht; an einigen Stellen liefen sogar dünne Rinnsähle hinunter und verschwanden im Untergrund. An ähnlichen Rinnsählen auf der gegenüber liegenden Wand wurde das Trinkwasser der Stadt gefasst. Chemiker hatten es für trinkbar erklärt und kontrollierten es noch immer.
Dieser ganze Tunnelabschnitt war viel zu nass, um hier zu leben; nur einige wenige Hütten der allerärmsten Schicht standen hier, alle auf künstlichen Stelen montiert.
Was aber dem Menschen nicht passte, gefiel den zahlreichen Pilzarten, die an diesen Wänden gedeihten. Die angeblich mutierten Pilze erreichten hier beachtliche Grössen und Formen. Die Pilze wurden auf diesen Farmen gezüchtet und gesammelt und bildeten zusammen mit Ratten- und Arthropodenfleisch, Algen und Treibhausgemüse die Haupternährung von Airport City.
„Hallo Julius“, begrüsste ihn der Chef der Farm. „Wie war das Wochenende. Wie geht’s der Mutter?“
Julius dachte an das Besäufnis vom Samstag, den überteuerten Bordellbesuch und seine krebskranke im Sterben liegende Mutter. „Ach, Roman... Es war ok und der Mutter geht’s gut.“ Da Roman ihn erwartungsvoll ansah, fügte er hinzu: „Und bei dir?“
„Es war völlig abgefahren“, erzählte Roman. „Du kennst doch Lucia aus dem Ostteil... Eben, wir hatten das ganze Wochenende zusammen verbracht. Ich habe sie ins Kino eingeladen und so... Sie hat mir ihre Arbeit vorgestellt. Du weisst ja, dass sie Technikerin ist?“
„Mhhm...“
„Ja, sie hat’s voll drauf. Es gibt wohl nichts, was sie nicht in den Griff kriegt...“ Er kicherte auf einmal. „Voll abgefahren, ich sag’s dir.“
„Du hast dich in sie verknallt, Roman. Gratuliere“, sagte Julius und lächelte.
„Nein, das ist es nicht... Obwohl... Ach, ich weiss nicht. Egal...“
Julius zuckte mit den Schultern und wollte zu einem Gestell gehen, wo Pilze herauswuchsen.
„Ach, und Julius?“, stoppte ihn Roman. „Nachdem du Bereich zwei und drei abgesammelt hast, kümmerst du dich noch um die Lieferungen von Maya. Sie ist krank geworden.“
„Krank?“, wunderte sich Julius. „Maya und krank, das passt doch irgendwie nicht zusammen... Was hat sie denn?“
„Ich weiss es nicht. Ich gehe heute noch zu ihr und finde es raus. Ihre Schwester hat aber heute erzählt, dass sie wohl für eine längere Zeit ausbleiben wird.“
Julius nickte und ging an die Arbeit. Er nahm sich vor, ebenfalls zu Maya zu gehen und sich über ihre Gesundheit zu erkundigen. Er hatte in der letzten Zeit immer mehr Kontakt mit dieser unauffallender Frau gehabt und begann sogar sie richtig zu mögen.
Nach dem Mittagessen – welches natürlich hauptsächlich aus Pilzen bestand – nahm er eine Ladung verschiedener Pilzarten, packte sie auf einen Gepäckwagen und machte sich auf den Weg in den Westen der Stadt, wo die Lebensmittel abgeliefert werden mussten. Nach einem längeren Weg auf dem Bahnsteig erreichte er ein Restaurant, wo er die ersten vollen Kisten loswurde und leere entgegennahm. Etwas weiter belieferte er ein Lebensmittelgeschäft.
Dann wurde der Weg immer mühsamer. Er benutzte eine wackelige Rampe, um vom Bahnsteig zu kommen als dieser aufhörte und setzte seinen Weg auf einem feuchten, unebenen Boden fort, welcher überhaupt nicht optimal war für die harten Räder des Gepäckwagens.
Und hier hatte sich Maya mehrmals in der Woche durchgekämpft, dachte Julius mit Bewunderung. Während er sich einen Weg zwischen dem Geröll suchte. Hier waren wieder nur wenige Wohnzelte platziert, die Beleuchtung war schwach.
Bei einem weiteren Lebensmittelgeschäft lieferte er eine weitere Kiste Pilze ab und begab sich zum letzten Ziel seiner Tour, dem westlichen Aussenposten.
Als der grosse Schacht im Westen beim Kriegsbeginn eingestürzt war, hatte er auch den Durchgang zum westlichen Tunnelausgang versperrt. Später wurde unter strengen Sicherheitsbedingungen ein Durchgang in den Schutthaufen gemacht, um die dahinterliegenden 1200 Meter an Tunnel zu erschliessen. Zwar bot die östliche Seite mit 2700 Metern nach dem Bahnsteig genügend Raum, doch die Feuchtigkeit führte zu keinen idealen Wohnbedingungen. Der Tunnel im Osten wurde deshalb vor allem für die Nahrungsmittelproduktion verwendet. Und hier waren auch Jäger unterwegs, auf der Suche nach Ratten und Riesenspinnen.
Im Westen dagegen, hatte man sich trockene Verhältnisse erhofft, in denen möglich wäre, Lagerstätten einzurichten und allenfalls zu wohnen. Sappeure hatten sich damals mit Hilfe von Hikern bis zum Tunnelausgang gekämpft und diesen gesprengt, um den Tunnel von der Aussenwelt abzuschotten. Monatelang wurde danach die Luft im neu eroberten Raum gefiltert, bevor man ihn für die Benutzung freigab. Wohnen wollte hier kaum jemand, doch dafür waren die Bedingungen tatsächlich trocken genug, um Lager einzurichten. Zur heutigen Zeit waren die Lager voller gesammelter Gegenstände. Ein Team aus mehreren Leuten wohnte ebenfalls dort, kümmerte sich um die Bewachung und die Logistik.
Julius hatte diesen Weg überhaupt nicht gern. Der schmale Durchgang zum westlichen Aussenposten war kalt und dunkel. Mutierte Spinnen und Ratten waren hier keine Seltenheit. Julius hatte schon viele Geschichten gehört von Menschen, die in dieser Passage gestorben waren oder den Verstand verloren hatten.
Während er seinen Gepäckwagen mühsam durch den Schutt am Boden schob, der wohl erst kürzlich von oben herabgefallen war, liess er seinen Blick unruhig über die Wände streifen. Es war nicht das erste Mal, dass Julius diesen Weg nahm, doch irgendwie war er nervös.
Ein seltsames Surren kam von oben aus der Decke. Es erschien Julius derart eingenartig, dass er sogar stehen blieb und lauschte. Dass Surren war unregelmässig, mit vielen tiefen Tönen und Julius glaubte Stimmen zu hören. Es tönte so, als würde jemand monoton und ununterbrochen etwas erzählen und immer wieder mischten sich Bassstimmen hinzu, um ihre Meinung preiszugeben.
Stimmen aus der Vergangenheit, Geisterparlament, Totenschule, erinnerte sich Julius an einige der Namen, die dieses Phänomen hatte und es lief ihm kalt den Rücken runter. Was auch immer diese Geräusche verursachte, ob es nur der Wind war, Ratten, oder irgendwelche Mutanten, sie würden wohl jedem, der alleine hier war, eine Scheissangst einjagen. Mit einem festen Stoss setzte er seinen Weg fort und ignorierte die Metallröhre, die sich im Vorderteil des Gepäckwagens verfangen hatte und mitgeschleift wurde.
Einige Zeit später erreichte er das Ende der Passage. Ein Wächter mit einem sehr dünsteren Anblick begrüsste ihn und stiess mit dem Fuss die mitgeschleifte Metallröhre weg. Da er wohl jemanden anderen erwartet hatte oder weil es ihm einfach langweilig war, musste ihm Julius von Mayas Krankheit und auch einige Fakten von sich selber erzählen, bevor er weiter durfte.
Er lief an zahlreichen grossen Holzkisten vorbei, die bis an die Decke gestapelt waren und ein regelrechtes Labyrinth bildeten, und erreichte schliesslich einen Platz, der gut beleuchtet war. Links und rechts befanden sich einige einfache Hütten, vorne erstreckte sich der Schuttkegel, der den Tunneleingang versperrte. Vier Leute sassen an einem schmalen Tisch in der Mitte des Tunnels und redeten miteinander.
Während Julius sich näherte, betrachtete er die vier sehr verschiedenen Gestalten, eine Frau und drei Männer. Einer der Männer war angezogen wie ein Hiker aus dem Bilderbuch. Gurte und Taschen schmückten seine Jacke; er hatte kurzes Haar und besass eine Rennfahrerbrille, die er sich auf die Stirn gezogen hatte. Ein anderer Mann neben ihm trug etwas lächerlich wirkende, enge Hosen mit Trägern – die wohl besser in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gepasst hätten – hatte einen langen, zugespitzten Schnurrbart und einen gekrempelten Hut. Die Frau hatte einen blauen Overall, kurze, dunkle Haare und hohe Stiefel. Der vierte Anwesende hatte ein südländisches Gesicht und einen kleinen Bart. Seine Haare waren eigenartig geschnitten; kahl an den Rändern und mit einen aufgestellten Schopf in der Mitte. Er trug ebenfalls ein einfaches Overall.
Die Leute am Tisch bemerkten Julius und winkten ihn zu sich. Er nahm die Kiste mit den Pilzen und trug sie hinüber zum Tisch. Der Mann mit dem Schnauz und dem Hut schob ihm eine Büchse mit einer dunkelgrünen, warmen Flüssigkeit zu; Algentee.
„Danke“, sagte Julius und setzte sich neben den Mann mit den Hosenträgern. „Ich hab hier die Pilzlieferung.“
„Komisch“, sagte der Hiker. „Du bist mir früher gar nie aufgefallen. Warst du schon öfters hier?“
„Nein, zumindest nicht als Liferant. Ich bin Ersatz für die Maya.“
„Schon klar“, sagte der Hiker und schob sich eine Zigarette in den Mund. Als er sie anzündete begann sie einen etwas ätzenden Geruch zu verbreiten. „Sie muss wohl krank geworden sein. Viele Leute werden krank in der letzten Zeit.“
„Es würde mich nicht wundern, wenn wieder so eine Epidemie losschlägt, wie vor fünf Jahren“, sagte die Frau. „Menschen sind nicht für solche Lebensbedingungen geschaffen.“
„Frauen vielleicht nicht“, sagte der Mann mit der komischen Frisur und zuckte lachend zusammen, als die Frau einen Schlag andeutete. „Für uns Männer ist jede Bedingung tragbar.“ Seinen starker Dialekt machte Julius neugierig. Denn Dialekte waren höchstens noch bei den ältesten Generationen zu hören. Vielleicht wollte sich der Mann von den anderen abgrenzen oder auf die in der Vergangenheit liegenden Immigration seiner Vorfahren hinweisen.
Der Mann mit den Hosenträgern schubste Julius in die Seite und deutete auf ein Tor im Schuttkegel. Es war ein eingebauter und gut gepanzerter Ausgang aus dem Tunnel, der nach der Sprengung für alle Fälle eingebaut worden war. Das massive Metalltor sah verrostet aus, die Betonverankerung besass zahlreiche kleinere Risse.
„Hörst du das?“, fragte der Mann.
Alle verstummten und begannen zu horchen. Ein leises Klopfen wurde hörbar, dass von der anderen Seite des Tores kam.
„Was ist das?“, fragte Julius und fühlte sich plötzlich unwohl. Er erinnerte sich an das Gespäch mit dem Verkäufer. Es war tatsächlich kein haltloses Gerücht gewesen.
„Das hören wir schon seit fast einer Woche. Es kommt immer wieder und es wird immer lauter“, sagte der Mann mit den Trägern. „Irgendwelche Kreaturen kämpfen sich zu uns hindurch, oder treiben sonst irgendetwas dort.“
„Die Regierung hat uns verboten, Hiker hinzuschicken, um nachzusehen, was dort los ist“, ergänzte die Frau. „Dafür schickt sie diese beiden Nichtsnutze, als Verstärkung.“ Mit frechem Grinsen deutete sie auf den Hiker und den Mann im Overall.
„Verstärkung wozu?“, fragte Julius, doch seine Frage blieb unbeantwortet.
Mehrere laute Schläge ertönten, als würde jemand direkt an das Tor hämmern und liessen alle aufschrecken. Dann ertönten undeutliche Geräusche, die an Stimmen erinnerten, gefolgt von einem lauten Kratzen.
Die Frau fluchte. „Leute, da kommt was. Verdammt, die sind schon da!“
Sie rannte zu einer Hütte, wo sie sich eine MP5-Maschinenpistole schnappte und durchlud. An das eingesteckte Magazin war mit Klebeband ein anderes angebracht.
Ihr Kollege mit dem gekrempelten Hut und der Mann mit dem Akzent holten sich bei einer anderen Hütte Pistolen. Der Hiker warf eine beim Tisch liegende Jacke zur Seite und zog eine lange Keule heraus. Die Keule bestand im vorderen Teil aus zahlreichen, in alle Richtungen gerichteten Taschenmessern, die mit offenen Klingen fixiert waren. Dass dieser Mann eine solche Waffe besass und benutzte, konnte bedeuten, dass er hohen Standes war und der reicheren Klasse angehörte. Oder er war absoluter Hiker-Fanat, denn solche Keulen waren vor etwa 15 Jahren bei Hikern üblich.
„Macht euch bereit! Was auch immer da herauskommt, darf nicht an uns vorbei“, sagte der Mann mit den Hosenträgern. Er blickte mit einem nachdenkenden Blick zu Julius hinüber, zog schliesslich einen schwarzen Tonfa-Schlagstock aus Hartgummi heraus und hielt es Julius hin. „Wenn es brenzlig wird“, sagte er, „verschwindest du hier und informierst die Leute in der Stadt, über das, was aus dem Tor herauskommt. Eine Warnung habe ich bereits übermittelt.“
Erst jetzt begriff Julius, dass die Lage ernst war. Er nahm den Schlagstock und dankte dem Mann mit einem Nicken. Seine Hände zitterten. Was verbarg sich nur hinter dieser Türe? Was versuchte so besessen hier hineinzugelangen?
Ein gedämpftes Kratzen ertönte und plötzlich wurde es ruhig. Die vier Wächter verteilten sich in der Nähe des Tores, Julius stellte sich neben dem Mann mit dem Hut. Alle horchten und versuchten herauszufinden, was vor sich ging.
„Sind sie weg?“, fragte die Frau.
Das Tor riss mit einem lauten Krach auf. Teile der Stützmauer fielen zusammen. Eine Wolke aus Staub schoss den fünf Verteidigern entgegen. Julius duckte sich erschrocken und als er mit zusammengekniffenen Augen zur Öffnung blickte sah er mehrere Gestalten auf sie zukommen.
Die Frau eröffnete als erste das Feuer. Mit kurzen, lauten Serien schoss sie in die Staubwolke hinein. Dann begann auch der Mann mit dem Hut zu schiessen und der Hiker stürmte, seine Keule schwingend nach vorne. „Na wartet!“, rief er laut.
Julius liess sich vom allgemeinen Kampfgeist anstecken und rannte ebenfalls los, dem Eingang entgegen. Er hatte höllische Angst, die sich in unkontrollierbaren Hass zu verwandeln begann. Die schiessenden Leute auf seiner Seite gaben ihm Kraft.
Er folgte dem Hiker und sah, wie er eine erste Gestalt mit einem weit ausgeholten Keulenschlag zu Boden fegte. Noch mehr Schüsse ertönten und auf einmal tauchte eine der Gestalten direkt neben Julius auf. Ohne viel zu überlegen schlug er mit dem Schlagstock nach ihr und traf ihren gelben Kopf. Er gab ein dumpfes Geräusch und das Wesen ging mit einem Stöhnen zu Boden.
„Nicht schiessen! Hört auf zu schiessen!“, rief jemand, aber stattdessen ertönten noch mehr Schüsse. „Aufhören!“
Es blitzte mehrmals vorne und Julius begriff, dass jemand nun von der anderen Seite schoss. Er fühlte einen schmerzhaften Stich in der Bauchgegend und zog sich krampfhaft zusammen. Der Schmerz lähmte ihn und er viel nach vorne. Er rollte zur Seite und erblickte den Hiker, der mit einem blutüberstörmten Gesicht neben ihm lag, seine Keule noch immer in der Hand haltend. Und als er nach hinten blickte sah er auch die Frau am Boden liegen und weiter hinten floh der Mann im Overall. Auch Julius wollte wegrennen, doch beim Versuch aufzustehen fühlte er wieder starkte Schmerzen im Bauch und verlor das Bewusstsein.
Als er zu sich kam sass jemand neben ihm. Die Luft war noch immer etwas staubig und in Hintergrund hörte Julius Stimmen und Rufe. Er war wohl nur wenige Augenblicke bewusstlos geworden. Er blickte die Gestalt neben sich an und erkannte einen Menschen. Es war ein Mann mittleren Alters. Er hatte ein zerkratztes Gesicht, trug einen gelben Helm und einen grünen Overall. Hinter ihm erkannte Julius weitere Menschen in ähnlicher Kleidung.
„Was...“, begann er.
Der Mann blickte ihn mit traurigen Augen an. „Warum habt ihr auf uns geschossen, wieso habt ihr uns angegriffen?“
Julius blickte dem Mann in die Augen, nicht begreifend, was vor sich ging. „Wir... Ich... Wir dachten es sind Mutanten...“
„Mutanten?“, der Mann schaute ihn zuerst lange an und schüttelte dann den Kopf. „Es gibt keine Mutanten mehr. Der Krieg ist vorbei. Die Oberfläche ist wieder bewohnbar.“
„Aber... wie... wie lange schon?“ Julius spürte eine wachsende Müdigkeit. Der Schmerz im Bauch war verschwunden, doch er fühlte dort eine sich ausbreitende Kälte.
„Seit mehr als einem Jahr. Die Oberfläche ist wieder bewohnbar. Das Gift ist weg. Normale Pflanzen wachsen wieder... Wir kamen hierher, um euch zu befreien. Wir hatten wohl richtig geglaubt, dass sich hier unten Menschen aufhalten. Wie viele seid ihr?“
Erst jetzt bemerkte Julius, dass sich das Licht geändert hatte. Es war viel heller, die Bilder kontrastreicher und das Licht strahlte eine angenehme Wärme aus. Und dann sah er sie; die Sonne. Sie blickte in an durch die Öffnung, die sich die Menschen von der Oberfläche im Schuttkegel des Tunnels gemacht hatten. Die Sonne war gross und rot. Überhaupt nicht so wie in den Filmen, dachte Julius.
„Es ist gut. So muss es sein“, waren seine letzten Worte.
Ein Wächter stürmte ohne anzuklopfen in den Wagon, wo sich der Rat von Airport City aufhielt. Die sechs Räte waren alle da und blickten den Mann besorgt an.
„Beim westlichen Aussenposten gibt es Eindringlinge“, rief der Wächter abgehackt und nach Luft schnappend. „Sie haben das Tor gesprengt. Es sind Menschen!“
„Wir haben eure Warnung vor wenigen Minuten erhalten“, sagte einer der Räte mit ruhiger Stimme. Er trug einen braunen Anzug und eine dunkelrote Kravatte. „Und auch die Explosion und die Schüsse haben wir hören können.“
Der Wächter nickte mehrmals übertrieben schnell.
„Du hast gute Arbeit geleistet, Tugrul“, fuhr der Mann im Anzug fort. „Informiere den östlichen Aussenposten, lass dich durch niemanden aufhalten und kehr dann sofort wieder zurück. Sag ihnen, Mutanten sind eingedrungen.“
Der Wächter blinkte einige Male. „Mutanten? Wenn das Mutanten sind, müssen wir sie aufhalten! Ich glaube alle Wächter sind tot...“
„Es ist gut, Tugrul. Wir kümmern uns darum. Geh!“
Der Wächter verschwand. Der Mann mit dem Anzug drehte sich zu den anderen Räten um. „Ich wusste, dass es irgendwann soweit kommt. Nur hätte ich nie gedacht, dass es jetzt schon passiert. Sie sind also bereits da.“
„Vielleich sollten wir mit ihnen reden? Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm, wie wir meinen?“, sagte ein anderer.
„Ich weiss nicht“, fügte ein zweiter hinzu. „Wir haben keine Ahnung, wie diese Leute dort leben. Wir wissen noch gar nichts über sie, über ihre Gesellschaft.“
Der Mann mit der Krawatte nickte. „Meine Herren, ihr kennt alle unsere Bestimmungen. Wir dürfen uns keinen unkontrollierten Kontakt mit der Oberfläche erlauben. Mit Airport City haben wir eine hoch entwickelte, stabile Gesellschaft aufgebaut. Jahrzehnte waren nötig, um sie auf dieses Niveau zu bringen. Wie viele mussten dafür sterben? Wir haben so viel erreicht.“
„Das ist richtig“, sagte jemand. „Soll Airport City einfach so aufhören zu existieren? Wir dürfen das alles nicht aufgeben!“
Nickend stimmten ihm alle Räte zu.
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte schliesslich der Mann im Anzug. „Wir müsen sprengen.“
Mit raschen Schritten ging er zu einem Tisch, öffnete mit dem Schlüssel eine Glasabdeckung unter der sich mehrere Knöpfe befanden. Nach einem letzten Blick zu seinen Kollegen drückte er auf den Knopf, wo „Westen, hinten“ drauf stand.
Nur wenige Augenblicke später wurde Airport City zum letzten Mal an diesem Tag durch eine Explosion erschüttert.