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Aila und das Drachenei
Vor langer, langer Zeit, als es noch keine Autos und keine Straßen gab, und die Leute noch auf Pferden ritten, ging ein kleines Mädchen namens Aila jeden Tag in den Wald um Beeren für sich und ihre Eltern zu suchen.
Die Wälder waren so groß, dass man sich darin verlaufen konnte und nie wieder herausfinden würde. Darum hatte ihr die Mutter aufgetragen, immer nur soweit in den Wald zu gehen, dass sie zwischen den Bäumen hinaus auf die Felder und Wiesen sehen konnte.
Am Ende des Sommers waren alle Beeren in der Nähe des Waldrandes aufgesammelt. Nur noch tief im Wald, dort wo die Bäume so dicht wuchsen, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte, stand ein Busch voller roter Beeren.
Sie dachte an die Warnung ihrer Mutter, und ging nicht weiter. An diesem Tag fand sie nur wenig Beeren, und anstatt eines vollen Korbes, brachte sie einen hungrigen Magen nach Hause.
Als sie am nächsten Morgen wieder hungrig am Waldrand stand und keine Beeren fand, nahm sie all ihren Mut zusammen, blickte hinter sich, um sich die Richtung zu ihrem Haus zu merken, und ging zu dem Busch mit den vollen roten Beeren.
Dort aß sie sich erst einmal satt. Doch die restlichen Beeren würden den Korb kaum zur Hälfte füllen. Zum Glück sah sie vor sich, einen weiteren Busch auf einer kleinen Lichtung stehen. Rasch schritt sie vorwärts - sie hatte sich die Richtung nach Hause ja gemerkt - und pflückte dort die Beeren.
Immer eine Beere in den Mund und eine in den Korb. Die Früchte schmeckten köstlich. Viel besser als die, die am Waldrand wuchsen. Nachdem der Korb voll war, und ihr Bauch genauso, setzte sie sich nieder, um sich etwas auszuruhen. Sie wollte eigentlich zuerst zurückgehen, doch der Korb war schwer und ihre kleinen Füße müde. Auch die Augenlieder wurden schwer und schließlich schlief sie ein.
Als sie aufwachte, stellte Aila erschrocken fest, dass sie nicht mehr wusste, in welche Richtung sie zurückgehen musste.
Jetzt ließ Aila traurig die Schultern hängen. Der Wald war riesengroß. Wenn sie in die falsche Richtung lief, würde sie Wochen brauchen, bis sie jemand traf. Überdies lebten tief im Wald Ungeheuer, die nichts lieber fraßen als kleine Mädchen.
Bitterlich weinend stapfte sie los. Den Korb hätte sie aus Zorn am liebsten weggeschmissen. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Womöglich würde sie die Beeren noch dringend brauchen, wenn sie durch den Wald irrte.
Lange wanderte Aila zwischen den Bäumen und schon sah sie die Schatten länger werden. Da bemerkte sie, dass etwas den Boden verwüstet hatte. Überall war Gras zertrampelt und abgerissene Blätter und Zweige lagen dazwischen. Ängstlich wollte sie umkehren, doch dann dachte sie, dass da vielleicht jemand lag, der verletzt war, und ging vorwärts. Auf einer Fläche, so groß wie ihr Garten, war alles verbrannt worden. Schwarzer Ruß bedeckte den Boden und nur ein großer Stumpf zeugte vom Baum, der wohl vorher hier gestanden war.
Aila kam das Bild eines schrecklichen, Feuer speienden Drachen in den Sinn. Ihr kleines Herz trommelte ängstlich in ihrer Brust. Hatte hier ein Drache gewütet? Schnell drehte sie sich um, denn sie wollte dem Drachen auf keinen Fall über den Weg laufen. Schon hörte sie einen verdächtigen Knacks hinter sich und begann zu laufen. Vergessen waren die müden Arme und Beine. Sie lief quer durch den Wald, achtete weder auf Wurzeln und schließlich stolperte sie. Vorsichtig rappelte sie sich auf. Zum Glück hatte sie sich nicht weh getan, doch der Korb war in ein Gebüsch geflogen und die Beeren überall verstreut. Nach einigen schweren Atemzügen hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie sicher war, dass sie niemand verfolgte. Sie nahm ihren Korb, um die Beeren wieder einzusammeln. Da sah sie etwas neben sich glitzern.
Verborgen unter dem Gestrüpp lag ein großes Ei, das golden und grün gesprenkelt war. Sie hatte noch nie so etwas Schönes gesehen.
Behutsam nahm sie es in die Hände. Es war so groß und schwer, dass sie es kaum tragen konnte. Und es war warm. Sicher bestand es zum Teil aus Gold. Aila hatte auch schon einen Verdacht, was sich in dem Ei befinden konnte. Jetzt fühlte sie sich wieder besser. Sie hatte sich zwar verlaufen, aber sie hatte einen Schatz gefunden. Wenn sie es nach Hause brachte, konnten ihre Eltern das baufällige Dach reparieren, durch das es immer wieder ins Schlafzimmer regnete und sicher blieb auch noch Geld für einen neuen Puppenwagen.
Jetzt musste sie nur noch den Weg nach Hause finden. Ihre Arme wurden immer müder. Es war auch nicht einfach Ei und Korb gleichzeitig zu tragen. Schon bald machte sie eine Pause und aß von den Beeren. Eigentlich wollte sie wandern, so lange es noch hell war, doch als sie das Ei wieder aufnahm schien es noch einmal schwerer geworden zu sein. Sie blickte sich sorgfältig um und sah kein Anzeichen, dass sie in die Nähe des Waldrandes war.
"Heute finde ich nimmer nach Hause", dachte sie traurig und ließ sich unter den tief hängenden Ästen einer großen Tanne nieder. Dort würde sie es in der Nacht trocken haben. Ihr Hunger war groß, und schon hatte sie die Hälfte des Korbes leer gegessen. So gesättigt nahm sie das Ei in ihre Arme und schlief gleich ein. Das Ei hielt sie die Nacht über warm und obwohl in der Nähe Wölfe heulten und Füchse bellten, wachte Aila kein einziges Mal auf.
Am nächsten Morgen hatte sie schon wieder tüchtig Hunger. Eigentlich wäre ihr ein Glas Milch und ein dickes Marmeladebrot lieber gewesen, doch die Beeren schmeckten auch lecker. Der Korb war schon recht leicht geworden und auch das Ei schien nicht mehr so viel zu wiegen wie am Vortag. Die goldenen Flecken blitzten auf, wenn es einer der wenigen Sonnenstrahlen traf. Frischen Mutes wanderte Aila weiter.
Es dauerte nicht lange und die Bäume standen weniger dicht. Schon beschleunigte sie ihre Schritte und gelangte auf eine Lichtung, auf der sich eine kleine Hütte duckte. Ein kleiner Pfad führte durch den gepflegten Kräutergarten, der das ganze Haus umgab. Als Aila unschlüssig am Gartentor stehen blieb, kam eine buckelige alte Frau durch die Eingangstür und winkte sie näher. Das Mädchen eilte froh zu dem Kräuterweiblein.
"Bitte helft mir. Ich habe mich gestern im Wald verlaufen. Meine Mutter stirbt sicher schon vor Angst", sprudelte es aus ihr heraus.
"Mach dir keine Sorgen", antwortete die alte Frau mit wohlklingender Stimme. Komm erst einmal in meine Stube und trinke eine Tasse guten Kräutertee." Sie hielt inne und starrte auf das Ei in Ailas Händen.
"Was trägst du den da mit dir herum? Das sieht doch aus wie ein Drachenei. Wo hast du den das gefunden?"
"Oh, es lag in einem Gebüsch. Sicher hat es die Drachenmutter verloren. Ich wollte es mit nach Hause nehmen. Es wird uns reich machen. Und ich bekomme sicher einen neuen Puppenwagen."
"Darf ich es sehen?", fragte die Kräuterfrau.
"Aber sicherlich", antwortete Aila und hielt ihr das Ei entgegen. Die Kräuterfrau betastete das Ei und drückte es schließlich so herzhaft gegen sich, als wäre es ein Kind. Dann reichte sie es Aila wieder.
"Es ist noch warm. Sicher wird bald das kleine Drachenbaby ausschlüpfen. Wenn du das Ei verkaufst, fällt es einem Drachenbändiger in die Hände. Dort wird es ihm schlecht ergehen. Es wird ohne Mutter aufwachsen und nie wird es jemand lieb haben. Und wenn es nicht gehorcht, gibt es Schläge und Hiebe."
"Oh, das will ich aber nicht. Dann will ich es lieber selber ausbrüten. Ich werde den Drachen Füttern und ihm Kunststücke beibringen. Und wir werden den ganzen Tag Spaß zusammenhaben."
"Das scheint mir eine bessere Idee zu sein. Nur, weißt du auch, wie man einen Drachen aufzieht?"
Aila dachte scharf nach. Ihr fiel keine rechte Antwort ein. Tatsächlich hatte sie darüber noch nicht nachgedacht.
"Weißt du, was er zum Fressen braucht, welche Schlaflieder Drachen mögen und wie man einen kleinen Drachen tröstet, wenn er Albträume gehabt hat?"
"Oh je, ich weiß gar nichts über Drachen." Enttäuschung macht sich in Aila bereit.
"Aber vielleicht wisst Ihr es und könnt mir dabei helfen."
"Ein kleiner Drache braucht rund um die Uhr Pflege. Er trinkt viel Milch und seine Schuppen müssen jeden Tag zweimal gewaschen werden. Außerdem muss er jeden Tag raus an die frische Luft. Es ist keine leichte Aufgabe, denn kleine Drachen sind sehr lebendig. Sie hüpfen herum, knabbern alles an und sind so schnell, dass man ihnen kaum folgen kann."
"Ich würde jederzeit für ihn da sein", antwortete Aila. "Und ich lerne sicher schnell, was der Kleine braucht. Doch wer hilft dann meiner Mutter?"
Traurig betrachtete Aila das Ei. Deutlich spürte sie ein Vibrieren, als sich der kleine Drache darin bewegte.
"Du könntest das Ei bei mir lassen. Ich hätte Zeit, mich um ihn zu kümmern."
"Würdet Ihr das?", Aila strahlte über das ganze Gesicht. "Und ich werde euch helfen, so oft ich kann."
"Ja, das darfst du", sagte die alte Frau.
"Und jetzt dreh dich bitte um. Und erschreck anschließend nicht."
Das Kräuterweiblein richtete sich drohend auf, so erschien es jedenfalls Aila. Schnell drehte sie sich um.
Hinter sich hörte sie etwas ächzen uns stöhnen. Ängstlich hielt sie die Hände über den Kopf. Was machte die Frau nur?
Plötzlich erschien ein großer grüngoldener Drachenkopf über ihr.
"Du hast gut getan, das Ei bei mir zu lassen. Ich habe es während eines Kampfes mit einem bösen Drachentöter verloren. Zuerst dachte ich, es sei verloren, doch dann sah ich dich damit durch den Wald wandern."
Aila hielt ihr das Ei mit zittrigen Händen entgegen. Der Drache nahm es und presste es mit seinem Vorderbein zärtlich gegen die Brust. Seine Schuppen schimmerten im Sonnenlicht und am Kopf trug er kleine weiße Hörner. Seine Unterseite war beinahe weiß und an den Tatzen saßen lange Krallen.
Aila dachte, dass sie der Drache fressen würde, doch statt dessen sagte er:
"Klettere auf meinen Rücken. Wir wollen deine Eltern nicht länger im Ungewissen lassen."
Der Drache hielt Aila den Flügel hin, sodass sie leicht auf seinen Rücken klettern konnte. Aila konnte sich zuerst vor Schreck nicht bewegen, doch dann kletterte sie rasch auf seinen Rücken und hielt sich am Hals fest. Mir kräftigen Flügelschlägen erhob er sich in die Luft und flog über den Wald in die Nähe von Ailas Haus. Hinter einer Baumgruppe ließ sie der Drache absteigen.
"Du musst mir versprechen, dass du niemand erzählst, dass ich dich zurückgebracht habe", sagte der Drache, "denn sonst tauchen weitere Drachentöter auf und wollen mit mir kämpfen."
Aila nickte. Zum Abschied reichte ihr der Drache einen Beutel mit Goldstücken. Den brachte sie ihren Eltern, die sie überglücklich in die Arme schlossen.
Aila war anfangs traurig, dass sie kein Drachenbaby aufziehen konnte, doch einen Monat später, als sie wie immer Beerenpflücken ging, erschien der Drache mit einem winzig kleinen Drachenkind.
Aila und der kleine Drachen wurden dicke Freunde und blieben es bis an ihr Lebensende.