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Aida: Ich bin ihre Zukunft
Aida: Ich bin ihre Zukunft
Was Selma in dieser Nacht las versetzte sie in Unruhe und Aufregung. Schlafen war das letzte, was sie jetzt konnte, obwohl sie es nötig gehabt hätte. Als sie die Informationen, die Aida ihr überspielt hatte durchgesehen hatte goss sie sich heißes Wasser in eine Trinkschale. Heißes Wasser zu schlürfen beruhigte ihre Nerven. Dann entschloss sie sich Akram Scharim anzurufen. Sie setzte sich an ihre Arbeitsstation und öffnete eine Verbindung zur Erde.
„Guten Tag. Sie sind mit dem privaten Anschluss von Prof. Dr. Akram Scharim verbunden, bitte warten Sie“, verkündete eine synthetische Stimme, die zu einem virtuellen Sekretär gehörte. Das künstliche Gesicht lächelte unverbindlich. Es dauerte eine Weile bis das Gesicht von Akram auf dem Bildschirm erschien.
„Es ist hier vier Uhr“, protestierte der ältere Mann.
„Ich dachte in Karachi wäre es schon später“ Selma sah mit gespielter Unschuld auf ihren Bildschirm. „Was ich dir gleich erzählen werde, wird dich für deinen verkürzten Nachtschlaf entschädigen.“
„Moment mal, du sendest auf einer verschlüsselten Trägerwelle.“
Selma nickte. „Ich muss dich bitten niemandem von unserem Gespräch zu erzählen.“
„Machs nicht so spannend.“
„Du hast aus den Nachrichten sicher erfahren, dass es zum ersten direkten Treffen mit den Fremden gekommen ist, die vor zwei Wochen Space Frontier 2 kontaktiert haben.“
Akram nickte. „Ich habe dein Statement in der Presse gesehen.“
„Gut, was du sicher nicht aus der Presse erfahren hast war, dass wir außer den Gang’tok noch eine andere Lebensform getroffen haben.“ Selma sah wie Akram das Kinn hoch reckte und einen argwöhnischen Blick auf seinen Monitor, auf sie warf.
„Die Gang’tok hatten ein Wesen bei sich, eine künstliche Intelligenz. Sie steckt in einem weitgehend menschlichen Körper.“
„Ich höre die Worte wohl, doch mein Gehirn verweigert mir das Verständnis.“, murmelte Akram mehr zu sich selbst.
Selma atmete tief ein und kontrolliert wieder aus. „Ich bin mir sicher, dass der Körper menschlichen Ursprungs ist. Wie du dir denken kannst, gibt es Modifikationen. Gehirn, Rückenmark und die Hauptnervenbahnen sind aus verschiedenen Kunststoffen, aus Nanopartikeln, um genau zu sein. Sie kann diese Nanopartikel bewusst steuern. Die Nanopartikel können aus ihrem Daumen und Zeigefinger der linken Hand austreten und jede beliebige Form annehmen.“
„Wozu soll das gut sein?“
„Zum Beispiel um ein Anschlusskaben für PC-Pads zu formen und Daten direkt, sagen wir herunterzuladen. Mit Augen, Ohren und Tastsinn kann sie fast das gesamte elektromagnetische Spektrum wahrnehmen. Ach ja, die Augen sind mit biologischen Filtern ausgestattet. Das sind nur die Highlights.“
„Wow.“, entfuhr es Akram. „Die 10-Millionen-Dollar-Frau wirkt dagegen wie ein Spielzeug.“
Selma überging den Kommentar. „Ich möchte, dass du dir die Daten ansiehst.“
„Und dann?“
„Ich habe Fragen. Ist der Körper natürlich entstanden oder künstlich im Labor, kennen wir das Material ihrer Nervenbahnen und so weiter.“
„Ich bin Extropologe, kein Cybernetiker. Ich beschäftige mich mit echten Lebewesen, mit ihrem Verhalten, nicht ihrer Biologie.“
„Du hast genug Kenntnisse und ich kann dir vertrauen.“, beharrte Selma und dehnte das Wort Vertrauen dabei bedeutungsvoll.
Akram rollte mit den Augen. „Ja natürlich.“
„Die hohen Tiere der Allianz werden nicht gerade erfreut sein zu erfahren, dass unsere Neuankömmlinge ein so mächtiges Wesen beherbergen.“
„Du bist auch ein hohes Tier, schon vergessen?“, Akram lächelte schief.
„Richtig, deshalb nehme ich mir die Freiheit, Aida vorerst zu unserem Geheimnis zu machen.“
„Gut, ich melde mich, wenn ich etwas zu berichten habe. Salam.“
„El Salam, Akram“, murmelte Selma und beendete die Verbindung.
***
Am nächsten Morgen saß die Botschafterin in einer der drei Bars der Station. Sie hielt sich an einer Tasse Chaj Latte und einem Joghurt mit Früchten fest und versuchte nicht zu müde zu wirken, während sie sich ihre brennenden Augen rieb.
„Guten Morgen Botschafterin.“
Selma sah erstaunt auf ihre Uhr. „Aida. Wir hatten das Shuttle ihrer Delegation erst in 30 Minuten erwartet.“
„Die Delegation wird auch erst in 30 ankommen. Ich bin früher von unserem Schiff zur Station geflogen, weil ich mit Ihnen sprechen wollte.“
„So? Setzten Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwas bestellen?“
Aida sah in Selmas Glas. „Was ist das?“
„Milchtee. Sie nennen es hier Chaj Latte. Teeblätter, Wasser, Milch, Gewürze, viel Zucker.“
„Ich werde es probieren.“
Selma ging zum Tresen um zu bestellen. Als sie zurück kam, fragte sie noch während sie sich wieder setzte: „Und? Worum geht es?“
„Sie haben gestern Abend eine verschlüsselte Verbindung zur Erde aufgebaut.“
„Sie überwachen unsere Kommunikation?“
„Ich verstehe den Sinn dieser Frage nicht, Botschafterin. Offenbar wussten Sie, das wir die Kommunikation überwachen werden. Deshalb haben Sie eine verschlüsselte Trägerwelle aufgebaut. Weiterhin nehme ich an, das auch Sie uns mit Ihren Sensoren überwachen.“
„Ja gut, tun wir. Und nein, ich wollte meine Nachricht nicht vor Ihnen verbergen“, schnappte Selma, dann atmete sie tief ein und sagte betont ruhig: „Jedenfalls nicht hauptsächlich.“
„Hey, Botschafterin. Chaj Latte für Sie.“, rief die Bedienung hinter der Theke. Selma stand erleichtert auf. Während sie Aidas Getränk holte überlegte sie, welche Erklärung sie nun abgeben sollte. Sie ging zum Tisch zurück und bemerkte dabei, das Aida sie beobachtete.
„Botschafterin Dahl-Aurell. Ich bin nicht offiziell hier. Bisher weiß niemand, dass sie eine verschlüsselte Botschaft zur Erde gesendet haben. Ich bin sehr an einem erfolgreichen Abschluss dieses Gipfeltreffens interessiert. Es wäre schön, wenn Sie mir bestätigen könnten, dass die Botschaft belanglos war, dann würde ich die entsprechende Aufzeichnung aus unseren Logbüchern löschen.“
Selma sah das Wesen verblüfft an.
„Die Menschen sind wahrscheinlich die einzige Möglichkeit etwas über meinen Ursprung zu erfahren“, beantwortete Aida das stumme Warum, das aus Selmas halb geöffnetem Mund kam.
„Nun gut, Aida. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Es ging um Sie. Ich habe Ihre Akte einem Freund geschickt. Die Daten werden ihm sicher mehr sagen als mir. Ich habe seinen Rat angefordert.“
„Wenn Ihnen etwas unklar ist, hätten Sie auch mich fragen können.“ Selma hatte den Eindruck, dass Aida fast etwas enttäuscht klang.
„Darum geht es nicht. Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Die Führung der Allianz, insbesondere die Militärs werden ihre Existenz sicherlich mit einigem Misstrauen zur Kenntnis nehmen. Ich möchte mir erst ein eigenes Urteil über Ihre Potential bilden, bevor ich die Führung über Ihre Existenz in Kenntnis setzte.“
„Sie meinen mein Potential der Allianz schaden zuzufügen?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Aber gemeint.“
„Sie lernen schnell, wie zwischenmenschliche Kommunikation funktioniert, oder?“ Selma seufze. „Das sind keine Themen, die ich gerne auf nüchternen Magen diskutiere.“
„Dann essen Sie.“ Aidas Auforderung klang neutral. Nicht verärgert oder drohend.
Selma fischte ein Apfelstück aus dem Joghurt um Zeit zu gewinnen. Sie hatte sich bei den Gedanken ertappt, dass das Wort zwischenmenschlich nicht zutraf. Sie fragte sich wie künstlich Aida wirklich war, ganz abgesehen von Ihrer Physis.
„Sie glauben also, die Allianz könnte mich als Bedrohung wahrnehmen?“
„So ist es.“
„Und was ist Ihre Meinung dazu?“
„Ich versuche gerade das zu beurteilen. Nein, eigentlich denke ich, dass sie keine Gefahr darstellen.“
„Sie sind eine mächtige und anerkannte Frau ihres Volkes. Sie können die Allianz davon überzeugen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt.“
„So einfach ist das nicht.“ Selma nahm einen schluck Tee. „Gerade auf der Erde haben wir sehr schlechte Erfahrungen mit künstlichen Intelligenzen.“
„Bitte erläutern Sie das.“
„Zur Mitte des 21. Jahrhunderts lernte die Öffentlichkeit zum ersten Mal Kampfdronen kennen. Es war auf der Höhe des kalten Krieges zwischen den USA und der arabischen Welt. Die Amerikaner hatten überall nach der Atombombe gesucht, im Irak, im Iran, in Syrien, in Afghanistan, in Turkmenistan. Aber sie fanden nichts. Viele hielten, wahrscheinlich nicht zu Unrecht, die Atombombe nur für einen Vorwand in all diese unabhängigen Länder einmarschieren zu können. Und in Pakistan trafen die amerikanischen Truppen den Feind, den sie bis dahin nur gesucht hatten.
Es waren Kampfdronen. Künstliche Intelligenzen in einem Körper aus Stahl. Sie schlachteten die Truppen ab. Ihre größte Überlegenheit, war ihr künstliches Gehirn, das keine Angst und keinen Skrupel kannte. Während die amerikanischen Truppen jahrlang ihre Atombombe suchten, hatte Al-Kaida, ein internationales Terrornetzwerk, diese Dronen entwickelt. In Pakistan setzten sie die Dronen erstmals gegen die US-Truppen ein. Damit war die ständige Frage der westlichen Geheimdienste beantwortet, wo Al-Kaidas geschätzte Einnahmen von 400 Millionen Euro jährlich hin flossen. Denn bis zu diesem Zeitpunkt betrieb Al-Kaida Terrorism on a shoe-string budget, wie es so schön hieß.
Schon bald besaßen auch andere diese Technologie. Die FARC, eine kolumbianische Drogenmafia; setzten sie gegen Zivilisten und Armee ein. Das russische Militär im Kaukasus, das kongolesische Militär gegen Plünderer ihrer Ressourcen, auch gegen die eigene Bevölkerung. Es war die Zeit der Dronenkriege. Irgendwann besaß jeder der einen bewaffneten Konflikt gewinnen wollte diese Dinger. Es gab auch fliegende Kampfdronen. Ganze Städte wurden vernichtet. Die Dronen machten alles dem Erdboden gleich, auch und oft insbesondere die Zivilbevölkerung, alles eine Frage der Programmierung. Erst zu Beginn des 22. Jahrhunderts gab es einen internationalen Bann gegen Kampfdronen.“
„Sie glauben die Menschen könnten mich mit so einer primitiven Technologie vergleichen?“ Aida neigte den Kopf zur Seite. Sie schien Selma aufmerksam zu mustern, aber Selma wusste, das es bei Aida kein Mehr oder Weniger an Aufmerksamkeit gab. Auch so würde Sie jede Ihrer Regungen wahrnehmen.
„Wenn Sie es so formulieren, ja!“
„Das entbehrt jeglicher Logik.“
„Warten Sie, ich bin noch nicht fertig mit meiner kleinen Lektion in irdischer Geschichte. Zu Beginn des 24. Jahrhunderts wurde bekannt, das die Staatenföderation der Erde ein Projekt unterhielt, in dem versucht worden war, das menschliche Bewusstsein in ein künstliches neuronales Netz zu transferieren. Keiner dieser Versuche gelang. Das Bewusstsein existierte irgendwie weiter, aber die Schädigungen waren so gravierend, dass geistige Behinderung kaum etwas von der Person übrig ließ. Was sollte nun getan werden? War es Mord einfach den Strom der Maschinen abzustellen, in denen die Personen existierten? War der Mord schon vorher passiert? Ist es Folter ein geistig behindertes Bewusstsein in einer Maschine festzuhalten? Die Föderation wollte um jeden Preis intelligentes Leben auf künstlicher Basis. Man versprach sich davon einen großen wirtschaftlichen Fortschritt. Gefährliche oder gering qualifizierte Arbeiten könnten von solchen künstlichen Wesen ausgeführt werden.
Abgesehen von der ethischen Frage, sahen viele Menschen ihren Arbeitsplatz, ihre Existenzberechtigung gefährdet. Sie glaubten, das Phänomen Arbeitslosigkeit würde wieder über die Erde kommen. Es war überhaupt erschreckend, wie weit Fortgeschritten die Forschung auf diesem Gebiet schon war.“
„Die Geschichte Ihres Volkes scheint eine Geschichte von Gewalt, Misstrauen und Selbstzweifel zu sein. Aber das ist die Vergangenheit. Ich bin ihre Zukunft!“
Selma verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen. „Sie können sich also vorstellen, dass Sie eine gewisse…“ Selma zögerte. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein wollte sie Aidas Gefühle nicht verletzten. „Sie sind eine gewisse diplomatische Hürde. Das sollte Ihnen aber nicht Anlass zu übermäßiger Sorge geben. Ich möchte nur Vorsichtig sein. Ich bin auch daran interessiert, das der Kontakt zwischen Ihnen und der Allianz fruchtbar wird. Ich meine zwischen den Gang’tok und der Allianz und Ihnen, Aida natürlich auch.“ Selma sprach immer schneller, je länger der kleine Monolog anhielt.
„Ich verstehe Ihren Standpunkt, Botschafterin“, antwortete Aida. „Und ich vertraue Ihnen.“
„Das ist gut zu wissen.“
„Dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde zur Schleuse gehen, um auf meine Vorgesetzten zu warten. Es ist nicht notwendig, das sie von dieser Unterredung erfahren.“ Mit diesen Worten erhob sich Aida und verließ, ohne sich umzudrehen die Bar. Selma Dahl-Aurell blieb mit ihrem Chaj Latte, ihre, Früchtejoghurt und ihren Gedanken allein zurück.
Aidas Worte hallten in Selmas Gedanken wieder. Ich bin ihre Zukunft! Wie sollte sie das verstehen? Die Zukunft der Menschheit? Oder ihre persönliche Zukunft? Selma kam der gestrige Abend in den Sinn, an dem sie mit Aida allein in ihrem Quartier gewesen war. Sie dachte daran, wie freundlich Aidas Stimme geklungen hatte. Sie dachte daran, wie sie sich dabei ertappt hatte Aida zu mustern, ihren Körper, die Art wie sie stand, ihre lebendigen, aufmerksamen Augen, ihre Lippen und ihre Hände. Sie dachte an das Sicherheitsrisiko, dass sie nach Protokollen nicht hätte eingehen dürfen. Und sie dachte an Aidas Finger. Um genauer zu sein an ihren Zeigefinger und Daumen der linken Hand. Selma hatte überrascht tief Luft eingeatmet und die Luft dann angehalten, als ein dünner Draht aus Aidas Daumen kam und in den Com-Anschluss des Pads eindrang, das sie ihr gegeben hatte.
Intuitiv beurteilte sie Aida als ungefährlich. Aber ihr Verstand sagte ihr, dass diese Beurteilung nicht rational durchdacht war.