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Ahnungslos
Sie war wunderschön. Sie war unfassbar liebenswürdig. Sie war perfekt.
Vom ersten Augenblick an war er von ihr begeistert gewesen. Und er wusste, dass es ihr nicht anders ergangen war, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte. Ihre klaren, grünen Augen hatten vor Begeisterung gestrahlt, als hätte sie in ihm etwas gefunden, dass sie lange vergebens gesucht hatte. Es war so gewesen, als wäre ihm das Glück von selbst in die offenen Arme gesprungen. Mit ihrer Schönheit, mit ihrer leichten, heiteren Art hatte sie ihn in ihren Bann genommen. Und er hatte sich nur zu gerne von ihr in den Bann nehmen lassen. Sie war so offen, so einfach, so ahnungslos, so wunderbar ahnungslos.
Er führte sie in den Park aus. Die Stunde Null musste schon längst vorüber sein, aber von Müdigkeit war nicht die geringste Spur zu erkennen, bei keinem von ihnen. Die Nacht war beinahe ebenso perfekt wie sie. Als wäre sie nur für sie gemacht worden. Ja, es war ihre Nacht, ohne Zweifel. Der Frühlingsmond stand hoch und voll am Himmel und weihte die kleine Wiese, auf der sie, dicht beieinander, Hand in Hand standen, mit silbernem Licht. Die Schatten der Bäume, die sie wie ein Kreis umgaben, wirkten nicht düster oder furchteinflößend, sondern viel mehr beschützend und abschirmend. Als wollten sie diese kleine Welt nur für sie beide von der trostlosen Realität abgrenzen.
Er streichelte sanft ihr blondes Haar. Er mochte blondes Haar. Es erinnerte ihn an Engel. An etwas Reines, Herrliches, das ihm zu berühren, zu bekommen, verboten war und das sich nun doch in seiner Hand befand. Ihr Gesicht war ihm von Anfang an so vertraut erschienen, als würden sie sich schon lange kennen. Sie hatte in ihm schöne Erinnerungen geweckt, an vergangene Zeiten, an vergangene Frauen. Er hätte nicht anders gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Er musste sie einfach haben. Und jetzt hatte er sie. Und er würde noch mehr von ihr bekommen. Noch mehr, als sie ahnen konnte. Aber nicht gleich. Nicht sofort. Er wollte die Vorfreude voll auskosten und genießen, bis zum letzten Tropfen. Und dann würde er sie auskosten und genießen.
Seine Vorfreude war grenzenlos und doch war auf seinem Gesicht nicht mehr abzulesen als eine vage Hoffnung.
„Es ist schön hier“, flüsterte sie.
Es ist schön hier, dachte er, ohne es aber laut auszusprechen
„Es ist perfekt hier“, hauchte sie.
Es war perfekt hier, stimmte er stumm zu. Er nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich an ihn. Er konnte sie riechen. Er konnte ihr herrliches Blut riechen. Seine Gier wuchs und wuchs, wurde beinahe unerträglich, wurde fast unbezähmbar. Aber er genoss sie. Er kontrollierte sie. Die Vorfreude voll auszukosten und in die Länge zu ziehen, so weit es nur ging, war beinahe ebenso berauschend wie die Tat selbst. Er unterdrückte das gierige Zittern, das ihn ergreifen wollte. Ein kleines, nichtssagendes Lächeln war alles, was von seinen Empfindungen nach außen drang. Seine Maske war perfekt. Er hatte sie über Jahrhunderte perfektioniert. Er hatte sich angepasst. Er hatte gelernt. Er beobachtete die Bemühungen der Menschen, ihm auf die Schliche zu kommen, ihn zu erwischen, mit einem mitleidigem Lächeln. Sie alle waren doch nur verspielte Kinder neben ihm. Sie suchten das Böse an den finstersten und schrecklichsten Orten und in den fürchterlichsten Gestalten, weil sie nicht glauben wollten, dass das wahre Böse immer dort lauert, wo man sich am sichersten fühlt, und auch nicht durch den schärfsten Blick zu erkennen ist. Sie redeten sich ein, das Licht und die einfachsten Dinge könnten ihnen Schutz bieten, weil sie sich sonst an keinem Ort und zu keiner Zeit mehr hätten sicher fühlen können. Sein größter Vorteil war ihre Angst vor dem Grauen der Wahrheit.
Sie seufzte leise in seinen Armen. Sie wollte ihn. Er wollte sie. Sie war ja so ahnungslos, so wunderbar ahnungslos.
Er biss zu. So sanft wie ein Kuss, so endgültig wie der Schluck aus einem Schierlingsbecher. Sie seufzte ein weiteres Mal, fast, so schien es ihm, erleichtert.
Er trank ihr Blut. Ihr herrliches, lebensspendendes Blut.
Es durchzuckte ihn wie einen Blitz! Sein Magen brannte wie Feuer! Sein Herz raste, als wolle es gleich zerplatzen! Sein Gehirn schmerzte, als würde es sich soeben zersetzen!
Er ließ von ihr ab. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort hervor. Er wollte etwas tun, irgendetwas, aber er war zu schwach. Er sank auf die Knie und stützte sich auf den Händen ab, aber ein weiteres Zucken, das durch seinen Körper ging, riss sie ihm weg. Mit dem Gesicht landete er im feuchten Gras. Mühsam und zuckend drehte er sich auf den Rücken. Sein Magen wollte das widerliche Zeug wieder hervorwürgen, aber seine Kehle schnürte sich zu und vereitelte es.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte er verzweifelt zu ihr auf. Sie schaute verachtend zu ihm hinab, dabei hielt sie sich mit der einen Hand den Hals an der Stelle, wo er sie gebissen hatte.
„Vor sieben Jahren“, flüsterte sie leise, als fürchte sie, die Realität mit lauteren Worten zu vertreiben, „hast du meiner Schwester das angetan, was du gerade mir antun wolltest. So lange hab ich auf diesen Moment gewartet und hingearbeitet. Die Polizei hat irgendwann aufgehört, nach dir zu suchen. Sie hat auch nie wirklich nach dir gesucht. Wer glaubt schon an Vampire? Ich selbst zuerst auch nicht. Aber wenn man lange und verzweifelt genug nach einer Antwort sucht, glaubt man irgendwann an alles. Ich habe dich gesucht. Ich habe alles über dich und deinesgleichen gelernt. Das Gift, das ich vor unserem Treffen heute getrunken habe, wird uns beide töten, aber dich zuerst. Das ist für meine Schwester und für alle anderen von deinen Opfern, aber vor allem ist es für diejenigen, die du nun nicht mehr kriegen wirst. Die das Glück haben, dir nie zu begegnen …“
Sie redete noch weiter. Redete sich alles von der Seele, was sich in all den Jahren dort angesammelt hatte und was sie nie hatte jemanden erzählen können. Was sie niemals mehr jemanden erzählen würde. Sie redete pausenlos und schnell, angetrieben von der Erleichterung, keinen fatalen Fehler begangen zu haben, von der Freude, alles erreicht zu haben, was in den letzten Jahren ihres Lebens ihr einziges Ziel gewesen war.
Aber er hörte es nicht. In seinen Ohren rauschte das Blut so laut, dass es kein anderes Geräusch zuließ. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Alle Muskeln seines Körpers zerrten gleichzeitig an seinen Knochen. Zerrten und zerrten immer weiter, als wollten sie sich von ihnen losreißen, und er spürte, wie ihnen das auch langsam gelang.
Sie blickte noch immer zu ihm hinab, verachtend, wütend und erleichtert zugleich. Aber er konnte nichts mehr sehen. Sämtliche Adern seiner Augen waren geplatzt und hatten das makellos Weiß in ein tiefes, dunkles Rot getaucht. Blut quoll aus ihnen hervor und lief wie Tränen die Wangen hinunter.
Er wollte sich den Schmerz von der schwarzen Seele schreien.
Aber in seinen Lungen war keine Luft mehr, die er hätte herausschreien können, nur noch Blut, Blut, Blut!