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Agent SIM übernehmen Sie...

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11.04.2006
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Agent SIM übernehmen Sie...

[05:23 Uhr]
Du starrst an die Decke des Raumes. Wieder einmal bist du zu früh aufgewacht und somit ist das Einzige, was du siehst, Schwärze. Einfach reines Pechschwarz. Dabei kann man wirklich nicht behaupten, dass du dir noch weniger Schlaf leisten könntest, als du dir ohnehin nur zugestehst.

[05:30 Uhr]
Auf die Sekunde genau tönt leise „Freude schöner Götterfunken“ aus den gut verborgenen Lautsprechern überall um dich herum. Während das Stück stetig lauter und lauter wird, beginnt sich die Umgebung um dich zu verändern.
Eine Reihe kleiner Lichtpunkte an der Decke glimmt auf und das warme hellorange Licht breitet sich langsam im ganzen Raum aus. Wie gern wärst du noch im Bett geblieben...
Doch dem wurde erwartungsgemäß ein Strich durch die Rechnung gemacht. Ein kurzes Flackern, eine Verzerrung neben deinem Bett und allmählich nimmt dort ein dir wohlbekanntes Antlitz Gestalt an. Der holographische Kopf, der über deinem Nachttisch zu schweben scheint, hat kurz geschnittenes, schwarzes Haar und starrt dich mit seinen durchdringenden braunen Augen an. Das spitz zulaufende Kinn vervollkommnet den Eindruck, der dich glauben macht, dass sich dieser stets unbarmherzig dreinblickende dreidimensionale Kopf jederzeit auf dich stürzen könne.
Dabei handelt es sich eigentlich nur um SIM, deinen „Personal Agent“.

»Guten Morgen, Boss. Heute ist der 23. Juni 2024. Die zu erwartende Durchschnittstemperatur beträgt 19,5°C. Der Kurs der 'SIMTec Inc.'-Wertpapiere ist über Nacht um 0,4 Punkte gestiegen. Über Nacht wurden ihnen 3 Video-Messages hinterlassen. Außerdem steht um 06:15 Detroiter Ortszeit die Holokonferenz mit ihrer indischen Filiale an. Der Wagen wird bereits vollgetankt...«
Als die summende Männerstimme verstummt, ploppen neben diversen Anzeigetafeln mit Informationen und wichtigen Statistiken zwei Hände, jede beinahe von selber Größe wie der Kopf, aus dem Nichts hervor und bedeuten dir unmissverständlich, dass du endlich aufstehen sollst.

[08:35 Uhr]
Nach einer ermüdenden Diskussion mit verschiedenen vergleichsweise rückständigen Industriellen, darüber ob und wie der „Personal Agent“ (oder kurz PA) in den kleineren Nachbarstaaten Indiens effektiv vermarktet werden könne, sitzt du in deiner Limousine auf dem Weg zurück zu deinem Hauptsitz stadteinwärts, wo ein freudig grinsender Aktenberg nur darauf wartet, dir den Vormittag zu versüßen.
SIM, der dich sonst immer und immer wieder an die wichtigsten Erledigungen des heutigen sowie der kommenden Tage erinnert, ist gerade damit beschäftigt, dir dein Tagesblatt bereitzustellen. Dabei durchkämmt er alle verfügbaren Quellen nach Informationen, die für dich, den Benutzer, interessant sind oder sein könnten und stellt dir so Stück für Stück dein ganz persönliches Print-Out zusammen, das dann als deine „Zeitung“ fungiert.

Ihr haltet an einer Ampel. Durch die Scheibe deines Wagens machst du eine kleine Gruppe Obdachloser aus, welche ohne dir ersichtlichen Grund durch die Straßen von Detroit streunt – wahrscheinlich wie jeden Tag auf der Suche nach Essen und einer Bleibe. Das Merkwürdige an diesem inzwischen nicht mehr seltenen Anblick ist nur, dass diese Menschen ganz und gar nicht unglücklich aussehen. Zwei junge Männer balgen sich und wälzen sich lachend im Dreck herum und weiter hinten stehen ein paar Frauen und Mädchen, die das ganze kichernd kommentierten. Eine von ihnen hat ein kleines Kind auf dem Arm, das fasziniert mit dem silbernen Kreuz um ihren Hals spielt.

Dann habt ihr offensichtlich grün, denn das Szenario macht langsam, aber sicher Platz für andere Alltagssituationen und schiebt sich nach hinten aus deinem Sichtfeld.

Wie kann man nur ein so schäbiges Leben führen und dabei trotzdem noch so tun, als würde man das ganze auch noch genießen. Diese Leute besitzen lediglich das Bisschen, was sie am Leib tragen - Kein Apartment! Kein Geld! Nicht einmal einen PA, ohne den man doch heutzutage aufgeschmissen ist. Da nimmst du doch lieber mit deinem weitaus angenehmeren und klar geregelten Leben vorlieb...
»Suche abgeschlossen – Ausdruck läuft...«, SIMs Stimme reißt dich aus deinen Tagträumen und du bemerkst schließlich, dass auf deinem Schoß eine druckfrische Ausgabe deiner Zeitung liegt. Sie ist noch warm vom Ausdrucken. Schade nur, dass du sie ohnehin halb ungelesen wegwerfen wirst.

[12:03 Uhr]
Du realisierst gerade rechtzeitig, dass du seit 3 Minuten in dem Nobelrestaurant am Stadtrand sitzen solltest. Dort würde dich ein wichtiges Geschäftsessen mit Vertretern einiger Institute erwarten, die dir Angebote für neue noch kleinere und noch leistungsfähigere Mikrochips unterbreiten wollen. Kurz berührst du die flache etwa fingernagelgroße Beule knapp unter deinem linken Ohr. Da drin befindet sich alles, was SIM ausmacht und weiß. Eigentlich geht es doch schon gar nicht mehr kleiner...
Dein Unternehmen ist zudem führend im Bereich der „Intelligent Communication & Organisation Technologies“, doch wie schnell würden dir deine (menschlichen) Berater im Nacken sitzen, wenn du dir Nachteile gegenüber der Konkurrenz einhandeln würdest. Was dir weitaus mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass SIM diesen Termin vergessen haben soll.
Heute Abend wirst du ihn wohl mal einem gründlichen Speichercheck unterziehen müssen.

[17:14 Uhr]
Endlich - eine der seltenen Gelegenheiten zum Ausspannen. Das Geschäftsessen ist durch deine Verspätung zwar den Bach herunter gegangen, doch so scheint für einen kurzen Moment nun endlich mal alles getan zu sein, keine Meetings, keine Akten, keine Entlassungen oder Telefonate in den nächsten anderthalb Stunden. Sei froh, denn solche Gelegenheiten bieten sich, wenn es hoch kommt, vielleicht einmal alle zwei Wochen.

So beschließt du also dich unter die Leute zu mischen und dich ein wenig in der City von Detroit herumzutreiben. Nachdem dich deine Leibwächter, wie du in Zivil, abgesetzt haben, lenken dich deine Schritte in die Einkaufspassage und du versuchst für einige Momente zu vergessen, wer du bist und dass dich trotz der vermeintlichen Anonymität hier auf der Straße deine Leibwächter wahrscheinlich keinen Moment aus den Augen lassen werden.
Wie angenehm es doch ist, die Leute dabei zu beobachten, wie einfach sie leben. Wenn man den ganzen Tag von seinem „Personal Agent“ von einem Termin zum anderen gehetzt wird, findet man sogar Gefallen daran, wie pubertierende Teenager sich gegenseitig anpöbeln, Mütter ihre Kinder in Geschäfte zerren (oder umgekehrt) oder der schüchterne junge Student von nebenan über den Asphalt schlendert. Doch überall kannst du sie sehen, die kleinen holographischen Köpfe von Männern und Frauen, die ihren menschlichen Schützlingen überall hin folgen. Selbst den kleinsten Kindern stehen bereits alberne Clownsfiguren oder Helden aus ihren Zeichentrickserien als dreidimensionale Begleiter zur Seite.
Du bist immer wieder selbst erstaunt, was mit den Dingern alles möglich ist, auch wenn du es doch warst, der sie vor gut 5 Jahren in dieser Form entwickelt und darauf ein Unternehmen gegründet hat.
Terminverwaltung, Kontakt- und Datenspeicherung, ständiger Highspeed-Zugriff auf das Internet, Navigation mithilfe von hochauflösenden Echtzeit-Satellitenbildern, Audio und/oder Video-Kommunikation, Standortbestimmung von Bekannten, hoch qualitative Aufzeichnungen von Bild und Ton oder jeder anderen Medienquelle und Datentransfer um nur einiges zu nennen. Viele Einstellungen und Funktionen funktionieren vollautomatisch, da sie auf Basis der Beobachtungen, die der PA am Benutzer durchführt, stattfinden, um so ein möglichst komfortables personalisiertes Umfeld zu schaffen.
Es ist ähnlich, wie kurz vor der Entwicklung deiner PAs. Damals waren es noch Handys, die den Elektronikmarkt diktierten. Anfangs sollte man ja nur unterwegs telefonieren können. Doch es dauerte nicht lang bis das „simsen“ populär wurde und die Handys immer und immer leistungsfähiger und vielfältiger wurden. Bei der Fülle der Funktionen konnte man sich bald glücklich schätzen, wenn man überhaupt noch zum Telefonieren in der Lage war.
Der PA ist eigentlich nur eine geschickter Schachzug gewesen, um auf diesen Zug aufzuspringen – und nun bist du dort, wo du bist, an der Spitze eines Weltunternehmens...

[18:55 Uhr]
Du hattest dich entschlossen, dir im VR-Kino „The Matrix“, einen Klassiker aus den Spätneunzigern des letzten Jahrhunderts, zu Gemüte zu führen, doch SIM hatte dich aufdringlich und pflichtbewusst, wie es nun einmal in seinem künstlichen Wesen lag, wegen eines Notfalls am Hauptquartier nach knapp der Hälfte des Streifens herausgeworfen.
Nichtsdestotrotz war der Gedankengang, den der Regisseur verfolgte, hochinteressant, wie du zugeben musst. Die Menschen, die in vollständiger Abhängigkeit von den Maschinen leben, ja sogar von ihnen kontrolliert und ruhig gestellt werden und dann der Protagonist Neo, dem schmerzhaft die Augen für die Wirklichkeit geöffnet werden. Wenn du länger darüber nachdenkst, könntest du sicher einige Parallelen zur Momentansituation ziehen, aber da du eindeutig Wichtigeres zu tun hast...

[01:17 Uhr]
Es ist einfach zum Haareraufen!
Eine Horde aufsässiger Studenten, allesamt hoffnungslose Individualisten, hatte sich am Abend vor den Eingang deines Firmengebäudes gepflanzt und angefangen, gegen deine Firma und ihre „Abstumpfung und Desozialisierung der Gesellschaft“ durch die PAs zu demonstrieren. Tatsächlich schienen einige Passanten von ihren Forderungen inspiriert worden zu sein und stellten sich dazu, was aber wohl eher daran lag, dass die Demonstranten spannungsfördernde Parolen einwarfen, die in ihrer Formulierung und Allgemeingültigkeit wohl bei jedem Anklang gefunden hätten (etwa wie „Gegen steigende Ölpreise!“, „Für die Demokratie!“).
So kam es, dass du erst ein Statement per Leinwand abgegeben hast, um die jungen Männer und Frauen friedlich zum Gehen aufzufordern. Dieses stieß jedoch auf taube Ohren und als die ersten anfingen mit Steinen auf das Gebäude zu werfen, hast du deinem Sicherheitsdienst die Erlaubnis zum Eingreifen gegeben.

Inzwischen ist der Trubel glücklicherweise vorüber. Dennoch hast du SIM angewiesen, ein Satellitenbild von deinem Firmengelände auf den Monitor neben deinem Bett zu werfen, um die Lage im Auge behalten zu können. Dieser Zwischenfall hatte dich genug Mühe und Geld gekostet, so dass du in nächster Zeit nicht noch ein Risiko eingehen würdest.
Außerdem kommst du zu dem Schluss, dass du diesen Tag wohl als ziemlich misslungen verbuchen darfst: Zu wenig geschlafen, ein Geschäftsessen in den Sand gesetzt, „The Matrix“ nicht zu Ende geguckt, ein paar verrückte Studenten und zu allem Überfluss hast du den Speichercheck von SIM versäumt.
Du lässt dich müde auf dein Bett fallen mit dem festen Vorsatz, keine Minute wertvollen Schlafes zu vergeuden. Jetzt kannst du ohnehin nichts mehr ausrichten. Daher konzentrierst du dich lieber auf morgen.
Denn morgen ist Montag, dein Wochenende ist vorbei und du kannst es nicht mehr so locker angehen lassen...

 

Hallo Traveler,

zunächst einmal total herzlich willkommen auf kg.de und in der SF-Rubrik! :thumbsup:

Deine erste Story hier ist nicht schlecht, allerdings finde ich sie auch nicht besonders gut. Warum ich dieser Meinung bin, erkläre ich kurz:

- die Du-Perspektive ist zwar erfrischend ungewohnt, aber ich habe keinen besonderen Grund für ihre Verwendung gefunden.

- die Handlung besteht aus einer Art Show: Eine Besichtigungstour durch die Welt, die Du Dir ausgedacht hast. Demzufolge gibt es keinen Spannungsbogen, keinen Wendepunkt, keine Auflösung, keine Pointe. Die Story plätschert vor sich hin, vorbei an zahlreichen Ideen und sozialkritischen oder technologischen Einzelelementen, die in keinem Gesamtzusammenhang stehen. Kann man machen - ist aber, wie gesagt, nicht besonders spannend.

- ein paar Stellen lassen sich sprachlich verbessern. Über sowas kann man immer diskutieren, d.h. man kann's auch so lassen, aber ich bin drüber gestolpert. Ein paar Beispiele:

Während das Stück stetig lauter und lauter wird, beginnt sich die Umgebung um dich zu verändern.

... wird, verändert sich Deine Umgebung. ("beginnt" bezieht sich auf einen Zeitpunkt, "während" auf eine Zeitspanne")

Du hattest dich entschlossen,

Plusquamperfekt hat in einer Story, die in Präsens geschrieben ist, nur selten was zu suchen.

Das spitz zulaufende Kinn vervollkommnet den Eindruck, der dich glauben macht, dass sich dieser stets unbarmherzig dreinblickende dreidimensionale Kopf jederzeit auf dich stürzen könne.

Viel zu umständlich ausgedrückt. Davon abgesehen vermag ich mir nicht vorzustellen, warum ausgerechnet ein Kinn so bedrohlich wirkt.

Dabei durchkämmt er alle verfügbaren Quellen nach Informationen, die für dich, den Benutzer, interessant sind oder sein könnten und stellt dir so Stück für Stück dein ganz persönliches Print-Out zusammen, das dann als deine „Zeitung“ fungiert.

Auch zu umständlich ausgedrückt, davon abgesehen ist "alle Quellen" im Zeitalter des Internets maßlos übertrieben.

Es ließen sich noch weitere Beispiele finden, die ich Dir auch gerne raussuche - aber aufgrund meiner Erfahrungen in der Vergangenheit warte ich erstmal ab, wie Du mit Kritik umgehst ;)

Fazit: sprachlich verbesserungsfähig, inhaltlich nur eine Liste von Ideen, keine Spannung.

Uwe
:cool:

 

Hallo Traveler,

ich fand die Geschichte richtig gut. Nicht jede Story braucht einen Spannungsbogen mit Schlusspointe. Du beschreibst die Situation des Protagonisten anhand der Darstellung des Ablaufs eines Tages - und du machst das, wie ich finde, sehr gekonnt.

Die Anredeform 'Du' als Erzählperspektive unterstreicht die Fremdbestimmtheit des Protagonisten.

Auf der einen Seite die Technik, auf der anderen Seite sein steifes Bild, wie die Welt und die Menschen in ihr zu sein haben. Beides kann oder will er nicht hinterfragen. Die Technik- bzw. Gesellschaftskritik kommt gut rüber und die Stimmung und Sprache in der Geschichte passen genau.

Drei Sachen sind mir aufgefallen:

ohne dir ersichtlichen Grund

'dir' weg


herunter gegangen

zusammen: heruntergehen


Datentransfer um nur einiges zu nennen.

Komma vor 'um'

Gruß
patosch

 

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