Advent im Märchenland
Wie auch schon in der vergangenen Jahren ist auch diesmal in der Vorweihnachtszeit mein Enkel Lucas wieder bei mir.
Sechs Jahre alt der Kleine und ein pfiffiges Kerlchen.
Seine Eltern müssen die letzten Tage bis zum Fest arbeiten und hier kann der Junge seine ganze kindliche Kreativität ausleben. Nein, keine Kinderarbeit! Aber wenn er halt unbedingt den Hof fegen will – sogar mit Muster …. ? Ich hab nichts dagegen. Hab ihm auch extra einen kleinen Besen gekauft.
Vor ein paar Tagen wollte ich dem Jungen eine Geschichte erzählen. Na ja, von Großvätern erwartet man das wohl auch. Auf meine Frage, was er denn kenne, stellte ich mit Erschrecken fest – der Kleine kennt kaum ein Märchen. Nur die aus der Fernsehwerbung. Wenn zum Beispiel Mario B. die Leute anschreit und behauptet, das sei sein Laden. Kinder glauben halt noch vieles, was man ihnen vorgaukelt.
Aber was war mit den Grimmschen Gruselgeschichten für Kinder? Die sieben Geißlein – Fehlanzeige, das tapfere Schneiderlein – Fehlanzeige. Nicht mal die Mär von Hase und Igel kannte der Bengel.
Das muss sich ändern, war mein nächster Gedanke und ich erinnerte mich, in der lokalen Presse gelesen zu haben, dass auf dem städtischen Adventsmarkt ein Märchenwald aufgebaut sei und die alten, noch aus DDR-Zeiten stammenden Holzfiguren durch neue, zeitgemäßere ersetzt worden wären.
Also startete ich am nächsten Tag, ausgerüstet mit grenzenlosem Vertrauen in den Wahrheitsgehalt des Zeitungsartikels und Lucas an der Seite, einen Ausflug ins Märchenland.
Angekommen im weihnachtsmarktlichen Getümmel fanden wir es recht schnell und tauchten durch einen riesigen Torbogen in die Märchenwelt ein.
Die war eingezäunt von Bauabsperrgittern, an die man kleine Fichten angebunden hatte, die bestenfalls noch als Brennholz dienen konnten. Bevor ich mich jedoch ernsthaften Gedanken über den Sinn der Absperrung hingeben konnte, wurden wir abrupt mit dem ersten Märchenbild konfrontiert - Hänsel und Gretel.
Was ich erblickte, ließ mich erschaudern. Vor mir standen in bemaltem Holz zwei pubertierende Jugendliche, deren Haltung und Gesichtsaudruck nur eines verriet – Leckt mich mal!
Gut, es ist nicht immer einfach und mitunter können einen die Gören schon zur Weißglut bringen, aber muss man das hier so drastisch zeigen?
Ich begann mit der Hexe Mitleid zu empfinden. Wenn die beiden sich so benommen hatten, wie sie aussahen, konnte ich die Alte gut verstehen. Aber wie sollte ich das meinem Enkel erklären, der mich fragend ansah und im Gesicht seines Opas eher Ratlosigkeit als Aufklärung finden musste.
„Ja, also Lucas,“ versuchte ich mich in einer Erklärung, „die zwei haben die alte Frau bestohlen und nun sollen sie dafür bestraft werden.“
„Werden die jetzt verdroschen Opa?“
„Na ja, das nicht gerade. Das erkläre ich Dir zu Hause,“ wehrte ich die Frage ab und nahm mir vor, dringend mit seinen Eltern über Kindererziehung reden zu müssen.
Ein paar Schritte weiter erwartete uns – Rotkäppchen.
Vor einem gewaltigen Bett, aus dem lediglich eine lange Schnauze herausschaute, stand ein kleines verschüchtertes Mädchen mit einem Korb, voll gepackt mit den bekannten Utensilien, von denen die Grimmschen Brüder wohl angenommen hatten, dass sie für die Genesung oder vielleicht auch dem schnelleren Ableben der alten Dame dienlich seien. Also Alkohol und Kuchen.
Wieder schaute mich mein Enkel fragend an und wieder musste ich mir eingestehen, keine rechte Erklärung der dargestellten Szene zu wissen.
Schließlich wollte ich den Jungen zur Tierliebe erziehen, ihm die Scheu nehmen, mit Tieren umzugehen und nun das! Ich kann ihm doch nicht sagen, dass das kleine Mädchen, an dem ohnehin nicht viel dran war, gefressen werden sollte. Der Junge würde anfangen Tiere zu fürchten und zu hassen. Nein, das soll er nicht!
Und das es Eltern gibt, die ihr Kind allein durch den Wald schicken, um die eigene Mutter zum Alkoholmissbrauch zu verführen …. . Nein, auch das konnte ich ihm nicht erklären. Ich hatte hier schließlich einen selbst gestellten Bildungsauftrag zu erfüllen!
„Das ist Rotkäppchen, die pflegt kranke Tiere. Das macht sie ganz freiwillig. Ist das nicht schön?“
Mein Enkel nickte und war zufrieden. Ich auch.
Um die Ecke herum trafen wir auf eine weitere hölzerne Episode aus – Schneewittchen.
An einem langen Tisch saßen sieben kleine Männchen mit furchterregenden Gesichtern. Davor eine junge Frau, der man die schlechte Laune buchstäblich ins Antlitz geschnitzt hatte.
Im Grunde, so sagte ich mir, kann ich es ihr nicht verdenken. Junge Frauen in dem Alter haben für gewöhnlich andere Interessen, als sich um kleine alte Männer zu kümmern. Es sei denn, bei den Männer handelt es sich um Modedesigner, Schauspieler, italienische oder französische Staatsoberhäupter. Da macht es noch Sinn, aber hier? Sieben griesgrämige alte Kerle, die zu nichts weiter taugen, als zur Beschaffung von Edelmetall. Wo bleibt da der Spaß?
Sie tat mir ein bisschen leid. Nicht nur, wegen der sieben ständig nörgelnden Männer - wer denn aus ihren Becherchen getrunken oder mit ihrem Löffelchen gegessen hätte, nein die arme Frau muss schon seit Wochen keinen Sex mehr gehabt haben, so wie die guckt. Mit wem auch? Ein Prinz war weit und breit nicht zu sehen.
Aber wie erklär ich das jetzt dem Jungen? Der erwartet von mir die Befriedigung seines Wissensdrangs.
„Hier kümmert sich eine Frau um alte Leute. Altenbetreuung sozusagen, verstehst Du das?“
„Aber warum gucken die alle so traurig?“ wollte Lucas wissen.
„Na ja, für die viele anstrengende Arbeit kriegt die Frau nicht sehr viel Geld und den Männern schmeckt vielleicht das Essen nicht.“
„Das kenn ich,“ erwiderte der Junge. „Papa macht auch manchmal so ein Gesicht beim Mittag. Aber sagen tut er nichts.“
Lucas grinste und ich grinste zurück. Wir verstanden uns.
Das letzte Bild der Weihnachts-Märchen-Welt war – Dornröschen.
Zumindest vermutete ich es, da überall schlafende Gestalten herumlagen und die Wände mit Rosen bemalt waren.
„Was machen die hier?“ wollte Lucas wissen.
„Die schlafen alle.“
„Warum? Müssen die nicht arbeiten?“
„Ja, weißt Du, früher da lebten manche Leute in Palästen und die mussten nicht arbeiten. Die verdienten ihr Geld sozusagen im Schlaf.“
„Das ist aber bequem,“ meinte der Junge. „Gibt es so etwas heute auch noch?“
„Nein!“ antwortete ich ihm und doch begann sich gleichzeitig mit meiner spontanen Antwort Widerstand in meinem Kopf zu regen. Oder gab es das doch? Aber wie hätte ich dem Kind den Begriff „Behörde“ erklären sollen und außerdem wäre das nicht ganz fair. Es soll schließlich auch fleißige Beamte geben. Also beschloss ich für mich, es bei dem einfachen „Nein!“ zu belassen, in der Hoffnung, das er nicht weiter fragen würde.
Wie das außerhalb des Märchenlandes aussieht, würde er später im Leben noch rechtzeitig selbst erfahren.
Als wir das Terrain der Märchenwelt verließen, fiel mein Blick auf einen Turm in der Mitte, den ich bisher übersehen hatte.
An dessen Gemäuer rankte sich ein Zopf vom Boden bis zur Spitze. Mein Blick glitt an dem Zopf entlang nach oben und ….. nein, was da aus dem Turmfenster schaute hatte nicht die geringste Chance jemals gerettet zu werden. Selbst wenn der ganze Turm voller Euro wäre und ich ein Prinz, nie im Leben hätte ich DIE da rausgeholt. Eher hätte ich wohl dann mein Pferd geehelicht.
Kein Wunder, dass die schon seit Jahrhunderten dort ihr Dasein fristete – arme Rapunzel.
Man sollte ihr wenigstens einen Internetzugang einrichten und die Adressen diverser Singlebörsen geben. Mit ein bisschen Geschick im Bearbeiten ihres Konterfeis und ein wenig Schummeln bei der Altersangabe könnte auch sie fündig werden.
Na ja, bis zum ersten Date jedenfalls.
Als wir wieder zu Hause ankamen, nahm ich mir noch einmal den Artikel aus meiner Zeitung vor. Ja, es stimmte wirklich. Der Verfasser des Textes hatte offensichtlich schon ganz bewusst darauf hingewiesen, dass es sich um, der aktuellen Zeit angepasste künstlerische Holzbildhauerarbeiten handelt.
Was hatte ich also erwartet?
Nur mit den Märchen, da muss ich mir echt was einfallen lassen.
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