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Adolf findet was
Verwirrt checkte der Zeitreisende seinen Palm. Klar; da steckte der Fehler. Eine Fahrlässigkeit seines Freundes Ratthapark; der ihm unter den sorgfältig ausgewählten Zielen des Tages versehentlich dieses untergejubelt hatte.
Oder mit Absicht?
Er hatte einen anstrengenden Tag erlebt: Am Morgen der mit flüssigen Steinen um sich werfende Vulkan, 00790824, die phänomenale Katastrophe eines von glühender Asche beerdigten Pompeji; mittags dann der nicht weniger erregende Einsturz der Zwillingstürme von 20010911. Den Abend gedachte er im Liverpooler Cavern Club zu beschließen. Pünktlich zu 19610321, dem ersten Auftritt der Beatles. Er freute sich darauf; sah sich bereits, locker an die schmierigen Ziegel des rauchgeschwängerten Gewölbes gelehnt, ein frischgezapftes Bier - ja, Bier! – genehmigen und John Lennon bei der Arbeit zusehen; bei seinem allerersten „Shake it up, baby, Twist and shout!“
Yeah.
Nix yeah, Pustekuchen. Er hatte sich in einem beschissenen Dorf materialisiert; es war neblig und kalt und vier Uhr dreißig am Morgen. „Fuck!“, fluchte er. Und ließ sich, gerädert von der langen Reise, auf die schmutzigen Latten einer alten Bank fallen. Schielte auf das Display seines Palms:
„Braunau, Österreich, 19010420.“
Himmelherrgott. Kato, der Reisende, schaute sich um. Es schien der trostlose Marktflecken des Ortes zu sein, ein ungeschickt gepflasterter Platz mit einem Ziehbrunnen in der Mitte und zwei planlos abgehenden Straßen – rumpeligen, unbefestigten Gassen, welche durchzogen waren von den tiefen Spuren vermutlich nutzviehbetriebener Fuhrwerke.
Armut, dachte Kato. Alles hier roch nach Armut. Da stand ein Wirtshaus gegenüber – wie immer, wenn er auf Reisen war, verwendete er den passenden Begriff; der meist anachronistisch klang und komisch; aber gerade das war ja der Reiz, oder? Conflicts hießen „Kriege“ hier, Epidemics „Seuchen“ und Ingestions eben „Wirtshäuser“. Dreckige Spelunken, in deren Kammern die Ratten Feste feierten. Hölzerne Balken - Fachwerk, erinnerte er sich - trugen das Gebäude, geduckt unter ihrer Last wie ein geprügelter Sklave. Ähnlich das gedrungene Haus zur Rechten: schmierige Fensterscheiben und schiefe Mauern; die abblätternde Farbe eines jämmerlichen Holzschildes erklärte es zur „Zollstation“.
Der Reisende gähnte. Griff in seinen Rucksack und schluckte eine Attenol, streckte seine Arme über den Kopf, verschränkte die Finger und ließ es knacken. Okay, Kato, denk nach. Er gab sich alle Mühe, durchforstete seinen Erfahrungsschatz nach „Braunau“ und fand – nichts. Versuchte es mit dem Datum, kam ihm das irgendwie bekannt vor? Fehlanzeige. Kato aktivierte den Palm und stellte eine Statusabfrage. Ratthapark sollte sich verdammt noch mal äußern zu dieser Scheiße hier. Und ihn rausholen, dachte er und wurde müde. Sein Kopf schien zu wachsen, wurde schwer und kippte nach vorn. Der Reisende begann, zu schnarchen.
Schlief tief und fest, als ihn der Zeitstrahl erfasste. Und verschwand mit einem Plopp.
Adolf erwachte im gleichen Moment. Er erinnerte sich sofort an gestern. Der Abend war nicht anders verlaufen als die meisten: Die Mutter trug ihm auf, den Vater abzuholen. Er war also zur „Eiche“ gelaufen; hineingegangen und gleich zum Tisch des Vaters, der dort saß und Gott und die Welt verfluchte. Alois starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an, drosch sein Maß auf die klebrige Platte des Tisches, stand auf und verpasste ihm eine. Eine anständige Watschn, die sich lange abzeichnen würde auf seiner Backe; zur Erheiterung seiner Mitschüler. Adolf stellte sich in die Ecke neben der Standuhr und wartete. Betrachtete das hin und her schwingende Pendel und später die Geweihe an den Wänden, bis der Vater sein Bier ausgetrunken hatte und sich maulend erhob. Half ihm auf die Straße hinaus, wo Alois neben ihm her torkelte, bis ihm die frische Luft ins Hirn stieg und Übelkeit auslöste, und er sich im Graben übergeben musste. Sich für den Rest des Weges auf den Jungen stützte und ihn einen Hundsfott nannte und dabei aus dem Maul stank nach Schnaps und Speim; in ein Schlagloch tappte und stolperte; wütend wurde und ihn ein zweites Mal schlug. So heftig diesmal, dass Adolf der Länge nach hinstürzte und sich das Knie aufschlug.
Die Mutter eilte ihnen entgegen, gemeinsam packten sie Alois aufs Kanapee. Klara strich ihm dankbar über den Scheitel und wollte nach der Verletzung sehen; aber natürlich entzog er sich ihr und ging sich waschen; das Knie, Hemd und Hose. Stieg mit zusammengebissenen Zähnen die acht knarrenden Stufen nach oben und betrat die Kammer.
Angela lag da, Alois junior und die winzige Paula.
Er wusste um die Anderen, es hatte Edmund gegeben; aber der war im vorigen Jahr an Masern gestorben; und dann noch Gustav, Ida und Otto. Sie waren gegangen und hatten Platz gemacht für ihn und Paula. Adolf kroch in sein Bett.
Und hoffte auf Stille.
Vergebens.
Er zog sich die Decke über den Kopf, als es begann; die Geräusche drangen nach oben – wie immer. Alois bellte, Glas brach und dann schlug er sie – dreimal, zählte Adolf, drei dumpfe Schläge. Später das Unvermeidliche. Ihr Wimmern und das Knarren des von Würmern zerfressenen Bettes.
Lang hatte er nicht geschlafen, es war noch dunkel. Jetzt aber raus! , dachte Adolf und schlug die Decke zurück. Er ignorierte den Schmerz und wusch sich, ließ das eiskalte Wasser über sein Knie laufen, stieg in die zerrissene Hose und steckte die Füße in die Holzschuh. Es gab viel zu tun: er würde die gewaschenen Laken ins Wagele stapeln und zur Mangel bringen, beim Baumgartner Milch und Gries holen, das Geschirr spülen und den Tisch decken. Danach die Zisterne schrubben; damit musste fertig sein, bevor der Vater erwachte. Alois hatte ihm die Arbeit auferlegt, gestern, nachdem er die tote Ratte im Wasser fand. Er hatte geschnuppert und war aufgestanden, marschierte zur Zisterne, hob den Deckel an und entdeckte den Nager. Adolf war ihm gefolgt, schaute an Vaters breitem Rücken vorbei in die schmutzige Brühe und genau in ihre Augen; die hässlichen, engstehenden Augen einer Ratte. Plötzlich traf ihn Vaters Faust, zündete wie ein Blitz neben seinem Ohr. Er hatte es nicht kommen sehn und riss die Arme hoch, aber Alois kannte seine Schwächen und trat ihm in die Seite. Von da an prasselten die Schläge.
Adolf kauerte sich zusammen und zählte sie.
Ja, das tat er immer. Angela hatte ihn einmal gefragt, warum er sie zählte und auch, warum er jeden Abend zu spät zum Abendbrot kam und dafür eine Tracht Prügel einsteckte, wo er doch wisse, was ihn erwartet? Weil es mir nichts ausmacht, hatte er geantwortet. Was sind schon fünf oder zehn Minuten Prügel, wenn ich dafür dreißig Minuten oder eine Stunde länger spielen kann?
Spielen. In Wahrheit spielte er nicht mehr. Früher, als er noch ein kleiner Bub war, als Edmund noch lebte, da hatte er recht gern gespielt … mit dem Georg und dem Franz, der Kati sogar. Irgendwann verlor er daran die Lust. Seitdem streunerte er im Dorf herum und im nahegelegenen Wald. Zerdrosch Blumen mit seinem Stock, blies Frösche auf und zerdrückte die Spinnen mit dem Zeigefinger. Redete mit den Bäumen, holte weit aus mit seinen Armen und Händen und deklamierte vor den Bewohnern des Waldes, als deren Gebieter er sich fühlte. Er lächelte milde, wenn sie vor ihm niederknieten; hielt Gericht und strafte die Treulosen während er den Ergebenen Orden um den Hals heftete.
„Schleich di, du Ratz!“, ahmte er den Vater nach und glitt aus dem Haus. Machte sich auf den Weg, die Straße hinunter, zum Markt. Zog den Wäschewagen, das Bergabstück immer schneller, zog ihn um die Ecke und blieb stehen - stocksteif.
Auf der Bank.
Da lag etwas.
Etwas … Unfassbares. Adolf trat näher und traute seinen Augen nicht; was sie erblickten, passte nicht hierher, nicht auf die alte Bank, nicht nach Braunau. Er war sich nicht sicher, wohin es überhaupt passte und plötzlich brach ein Gefühl in ihm aus, heftig und unangekündigt wie ein Gewitter in den Bergen. Er hasste es, hasste diesen fremden Gegenstand, der anders war und nicht hierhergehörte und brennen sollte – ja, er würde ihn in Brand stecken! Adolf trat vorsichtig näher. Umrundete das Objekt mit wachem Blick, bereit davonzuspringen wie vor einem gefährlichen Hund. Ein … Sack, dachte er.
Und griff zu.
Ließ den Wagen stehen und packte den Sack und rannte los, ließ ihn fallen und hob ihn wieder auf und rannte weiter, stürzte mit dem seltsamen Stück die Straße hinunter und schlug Haken, bis er den Wald erreichte und ein Stück weiter zum Ziel: Der Zuflucht, dem Ort, wo ihn keiner jemals fand.
Es war der alte Schuppen, die „Wolfsschanze“. So jedenfalls nannte er ihn. Adolf sprang hinein, knallte die Tür zu und schob den Riegel vor. Dann ließ er sich zu Boden sinken.
Und betrachtete den Sack.
Seine Finger strichen vorsichtig über das Material. Es war glatt; ein makelloser Stoff, der völlig anderes war als alles, was er je berührt hatte. Das Gewebe war von einem unglaublichen Blau, ihm fiel nichts ein, dem es ähnelte; am ehesten noch frisch geschliffenem Metall. Es war verziert, mit einer Kordel, die sich wie eine Narbe über den Stoff zog; ein klaffender Mund mit einem Ring daran, um den sich seine Finger jetzt schlossen und daran zogen. Die Narbe öffnete sich. Doch statt Blut quollen Sachen aus dem Sack, erstaunliche Sachen. Er wurde mutig und drehte den Beutel um, da purzelten die verrückten Dinge aus ihm heraus und verteilten sich. Scheinbar friedlich, scheinbar ungefährlich, zwischen seinen Beinen.
Adolf keuchte. Seine Augen huschten wie die einer jungen Ratte über die unerklärlichen Sachen auf dem Boden der „Wolfsschanze“.
Ein Streifen aus Silber. Mit zittrigen Fingern griff er zu. Er fühlte sich weder hart noch weich an, hatte recht scharfe Kanten an der Seite und wog praktisch nichts. Ein glitzernder Streif mit aufgedruckten Buchstaben und Zahlen auf der Silberseite, durchscheinend wie Glas auf der anderen. Pillen, wie beim Apotheker, dachte er. Egal, ihm fehlte die Geduld, den Streif weiter erforschen.
Beim Anblick des nächsten Wunders.
Einer … Flasche? Auch sie schien aus jenem fremdartigen, leichten Material zu bestehen. Sie war zur Hälfte gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit; er schüttelte sie und kratzte an einem Emblem, das sich nicht lösen ließ, denn es war der Körper selbst, der eingefärbt war und das rätselhafte Schild trug. Mit Schriftzeichen, wie die Pillen. Schnörkellose Buchstaben, die einen unleserlichen Text bildeten.
Weiter! Ein grellbunt verpacktes Stück mit unleserlicher Aufschrift; Moment, „Riegel“ konnte er entziffern und den Namen der Stadt „Berlin“. Er griff noch einmal zur Flasche und fand „Volvic“. War das ebenfalls eine Stadt? Und wennschon, auch das verlieh dem Ganzen keinen Sinn. Adolf schwirrte der Kopf. Närrische Sachen aus einem exotischen Behälter, gefunden auf dem Ruhbankerl vor Vaters Zollhaus.
Ein einziges Teil war noch übrig.
Er hatte es als Erstes greifen wollen, gleich am Anfang. Aber genauso, wie er sich das seltene Stück Suppenfleisch immer bis zuletzt aufhob, hatte er es mit diesem Ding getan. Außerdem hatte er Angst. Denn der Gegenstand schien noch narrischer zu sein als die anderen. Sollte er so etwas anfassen?
Das Ding glich einer Schachtel. Es war flach, flacher als sein kleiner Finger. Es hatte, zumindest von der Größe her, Ähnlichkeit mit einem seiner Bücher, einem ungeliebten Buch: dem „Kleinen Katechismus“.
Adolf gab sich einen Stoß und hob es auf. Es fühlte sich weder warm noch kalt an, hatte blankpolierte Ecken, glatter als die Kanten des Chorgestühls. War feiner noch gearbeitet als die besten Stücke Giagels, des Tischlers, der auch die härteste Eiche zu schleifen und lackieren vermochte. Kein Holz, das Ding war von einem anderem Material, einem zugleich festen und doch weichen Stoff. Adolf hielt das Objekt gegen das Licht – denn ja, es war bereits Tag! – gegen einen, durch die Bretterwand fallenden Sonnenstrahl. Die Schachtel war auf allen vier Seiten schwarz, abgesehen von einem Schriftzug, gedruckt in jenen irrwitzigen Lettern, die er bereits von Flasche und Silberstreif kannte. Die schmucklosen Buchstaben ergaben keinen Sinn, dafür das deutlich abgebildete Symbol – und Adolf liebte Symbole! Ein angebissener Apfel, schlohweiß auf nachtschwarzen Grund. Gedankenverloren strich er über die Vorderseite. Und da passierte es.
Furchtbares! Adolf fuhr zusammen - das Ding erwachte zum Leben! Die eben noch nachtschwarze Oberfläche entzündete sich und brannte – brannte lichterloh in grellem Weiß; entsetzt schloss er die Augen und riss sie wieder auf, hielt das Ding soweit es ging vom Körper weg und konnte doch nicht seinen Blick abwenden von der tanzenden Scheibe! Wabernden Bewegungen kryptischer Symbole in allen Farben dieser Welt auf diesem Handwerkszeug des Teufels, das in diesem Moment etwas noch viel Schlimmeres machte: Es piepte.
Adolfs Glieder ruckten an wie der Kolben einer Lokomotive. Vorbei mit der Beherrschung, schockiert, ließ er das Ding fallen und rannte davon. Wohin? – Egal, nur weg, er lief gegen die gegenüberliegende Wand, stieß sich den Kopf und fiel, rappelte sich hoch und kroch zur Tür, die er selbst abgesperrt hatte und nun, panisch, nicht aufbekam, vor dem verschlossenem Riegel hinfiel und – Kruzifix. Er sah an sich herab. Und lief rot an.
Es war wieder passiert.
Er hatte sich eingenässt. Pisste sich ein, wie zuletzt, als der Vater der Ochsenziemer rausholte und die Mutter bestrafte und er, zum Nichtstun verdammt, sie wimmern hörte und dann die viel schlimmeren Geräusche, das Schnaufen und das Stöhnen, wenn Alois der Mutter auf die Wundn hupfte. Er machte sich also die Hose voll und wusste, es würde nicht aufhören, die ganze Blase würde sich entleeren wenn er nicht darauf schlug; und so tat er es, schlug mit der Faust auf seinen Zipfl, einmal und noch einmal und noch einmal.
Bis es vorbei war und er stöhnend innehielt.
Das Ding. Er lugte danach; es lag da, als sei nichts passiert. Und Adolf kroch – seine Neugier war stärker als die Angst - darauf zu.
Die vormals schwarze Oberfläche hatte sich verwandelt, tanzte in hundert verschiedenen Farben auf ihrer Oberfläche, die nicht etwa glatt war, sondern Berge und Täler bildete, mannigfaltige Symbole wie mit einem Stichel herausgearbeitet. Sinnbilder, die regelrecht dazu einluden, berührt zu werden, Noten und Kompass, Zahnrad und Zirkel und da, das kreisenden Symbol eines …, jawohl, eines Briefumschlages. Adolf drückte einfach drauf. Und es verschlug ihm den Atem.
Satansding! Es klackte und erschuf Wellen aus dem Nichts, Linien, die sich zu drehen begannen und erneut brannte die Schachtel, ohne Hitze und doch gleißend hell.
Diesmal war er sitzen geblieben. Mehr noch, er hatte das Ding festhalten wie ein Held, sich behauptet wie der tapfere Old Shatterhand, dessen Geschichten er allesamt gelesen hatte und dessen Mut und Kraft er bewunderte wie kein anderer hier. Er hatte standgehalten und sich nicht verbrannt. Kein Feuer, das Ding sah noch immer eine flachgedrückte Kohle aus, mit einer Ausnahme: die Oberseite trug eine Zeile Text. Klar leserlicher Text, den er langsam entzifferte:
„Ab Ratthapark Mar Casai, 21121031, 1412, Leipzig, D - An Kato Farah Willaroid, 19010420, 0612, Braunau, AUT“
Darunter stand:
„Mensch Kato, du Spast, du weißt wiedermal gar nichts. 18890420 hatten wir in der sechsten Klasse, wo warst du da? Vermutlich mal wieder Kreide holen. Hab dir als Denkanstoß „Mein Kampf“ hochgeladen; klingelt’s jetzt? Schicke dir den Zeitstrahl wie vereinbart, Glück und Frieden, Ratth.“
Er las den Text, dreimal; ohne zu begreifen. Gewahrte die kleine Büroklammer und tippte darauf. Das inzwischen bekannte Spiel, die tanzende, brennende Oberfläche, dann …
Ein … Buch? Etwas holprig zunächst verstand er nach einigen Versuchen die Wörter. Die Sätze, endlich. Sie waren nicht einfach zu erfassen, doch … Adolf setzte sich. Die Hose mochte trocknen, seine Aufgaben konnten warten. Adolf las Zeile um Zeile und blätterte am Ende der Seite ganz selbstverständlich und ohne nachzudenken mit einer Wischbewegung um. Las Satz für Satz, und … was da stand war … gut. Mehr als das, er hatte noch nie etwas gelesen, das ihn so fesselte.
„Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, dass Gott erbarm. In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt.“
Adolf nickte langsam. Wer immer seine Gedanken in die Schachtel gelegt hatte, kannte sich aus.
„Wenn aber dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten wird, in Formen, die an innerer Rohheit nichts zu wünschen übrig lassen, dann müssen sich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwist die Form roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Misshandlungen in betrunkenem Zustande führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht Kennende nur schwer vorstellen. Mit sechs Jahren ahnt der Junge Dinge, vor denen auch ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann.“
Adolf seufzte. Er hatte einen Leidensgenossen gefunden.
Dabei … nun, er verehrte Alois, trotz allem. Er verehrte ihn so sehr, wie er die Mutter liebte. Der Zollamtsoberoffizial war ein entschlossener Mann, welcher einmal ins Auge gefasste Pläne mit der notwendigen Härte durchsetzte. Sein Sohn würde kein anderer werden. Adolf hörte die hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Worte seiner Mitschüler. Die nannten ihn verbohrt und widerspenstig und manchmal verrückt.
Weiter! Adolf verschlang den Text, entfloh mit jedem einzelnen Absatz ein wenig mehr der Enge des Dorfes; trank die Lehren wie ein Vertrocknender das Wasser, schickte seine Gedanken auf die Reise in großen Städte und fremde Länder wie Old Shatterhand, der große Westmann, der ihm so ähnlich war und niemals Schmerz zeigte, auch unter den widrigsten Bedingungen nicht; am Marterpfahl gefesselt und von den Wilden ins Fleisch geschnitten.
Nicht weinen, die Schläge zählen.
Adolf begann sich zu fragen, wer um alles in der Welt die Weisheit besaß, dies niederzuschreiben. Gott? Der wusste gar nichts. Der Autor dieses Werkes plante – ja - Adolf wurde sich immer sicherer bei dieser Annahme, sein Volk mit seinem Wissen zu beglücken, es teilhaben zu lassen an seiner Macht und es zu heiligen Taten zu führen. Ein sanfter, wohlmeinender und über allen stehender Herrscher. Adolf lächelte. Und las den ganzen Tag hindurch bis zum Abend.
„Fuck!“, stöhnte Kato. Sein Magen krampfte und er ging in die Knie, aber es half nichts, er klappte zusammen und übergab sich, kotzte den kümmerlichen Mageninhalt auf den klinisch sauberen Boden der Chronokammer. Ratthapark öffnete die Schleuse. Kato zitterte am ganzen Leib, unfähig zu gehen, ließ sich er sich von seinem Freund aus der Kammer ziehen. Saß zehn Minuten später auf einer Bank des Vorbereitungsraumes mit einer Tasse Kaffee in der Hand.
„Interferenzen“, meinte Ratthapark knapp. „Du hast dich vierzig Kilometer entfernt materialisiert, auf irgendeinem gottverlassenen Acker. Ich hoffe mal, ohne Zuschauer. Oder?“
Kato schüttelte abwesend den Kopf.
Es war sein dritter Versuch, zurückzugehen. Ratth hatte ihn immer wieder auf die Bedarfsliste geschummelt; die Administratoren seine Daten abgegriffen und die Offiziellen die Zulassung erteilt. Die Techniker seine Atome durchs das Wurmloch geschossen. Erfolglos. Zweimal traf er Braunau, beim letzten Mal sogar die Ortsmitte, doch stimmte die Zeit nicht und die Familie war längst nach Passau gezogen.
„Du schaffst das nicht nochmal“, stellte Ratth fest. „Und sowieso, das Ganze ist `ne Nummer zu groß für uns. Ist dir eigentlich klar, was du angerichtet hast? Wir sollten die Cleaner einschalten, Kato. Fuck, wir müssen es tun, und zwar sofort.“
„Nein!“ winselte Kato. „Bitte, Ratth, die machen mich zur Schnecke. Ich darf nie wieder reisen, wenn …“
„Wir machen es anders“, unterbrach ihn sein Freund. „Ich werde gehen.“
Adolf hatte damit begonnen, die Zeilen laut zu lesen und durch heroische Gesten zu unterstreichen. Es selbst war es, der da zu den Menschen sprach, die Gefahren der jüdischen Weltverschwörung und des Bolschewismus anprangerte, Auswege aufzeigte und hehre Ziele formulierte. Es war längst dunkel; er hörte die Rufe der Erwachsenen, die ihn wohl suchten, unterschied das flehende Rufen der Mutter - einmal sogar ganz nah am Schuppen - und das Bellen des Vaters. Es interessierte ihn nicht. Als Hunger und Durst ihn zu quälen begannen, verzehrte er den „Riegel“ – er schmeckte fantastisch. Öffnete kurzentschlossen die Flasche und trank klares Wasser. Warum nicht auch die Pillen, dachte er und nahm eine. Sie wirkte sehr schnell, durchströmte seinen Körper mit Energie; Adolf fand alle Müdigkeit wie weggeblasen. Er war bereit weiterzumachen, würde die ganze Nacht durch lesen, ohne eine Kerze zu benutzen, denn das wundersame Buch leuchtete von selbst. Er schluckte die Pillen auch am folgendem Morgen und verließ den Schuppen nur zweimal; ganz kurz, um sich Brot zu stehlen. Adolf las sechsunddreißig Stunden lang. Dann öffnete sich ein Viereck, warf eine Meldung über die geliebten Seiten und forderte ihn zu unverständlichem Zeugs auf, einem „Aufladen“. Er wischte es wütend weg. Zwei Stunden später, der Nacht des dritten Tages, verlosch das Ding.
Erstarb; gerade als er mit glühender Stimme kerzengerade Autobahnen, quer durch sein Reich in Richtung Meer gezogen, versprach. Verlosch und ließ ihn im Dunkel des Schuppens zurück. Er schüttelte das Ding, schaffte es nicht, sich zu beherrschen – und warf es zu Boden. Adolf war allein; ein kleiner, müder, durchgefrorener Junge. Tränen stiegen in ihm auf, er zählte bis zehn und kämpfte sie nieder. Stand mit krummem Rücken über dem zerbrochenen Ding da und dachte nach. Vor allem über den letzten Satz, mit dem es ihn gefragt hatte:
„Wollen sie dem Dokument - Adolf Hitler, Mein Kampf, Erstausgabe München, Franz Eher Verlag, 19250718 - ein Bookmark hinterlegen?“
Egal wie sehr ihm der Kopf schwirrte, er hatte sich nicht getäuscht. Da hatte sein Name gestanden.
Adolf Hitler.
Der Führer, dachte er - und war sehr glücklich dabei.
Ratthapark materialisierte sich wenige Meter von Katos Palm entfernt. Ort und Zeit perfekt getroffen. Was er sah, nahm ihm die Luft.
Er hatte ihn bereits zweimal gesehen.
Niemals aber so.
Der Führer war ein schmutziges, stinkendes Kind. Mit flacher Brust und tief in ihren Höhlen verkrochenen Augen. Das Monster befand sich noch im Stadium einer Larve. Und Ratth überfielen allzu menschliche Regungen: Mitleid mit dem geschundenen Balg, und ohnmächtige Wut auf den verfluchten Zollbeamten. Dann aber kamen die anderen Dinge hoch; erschlugen ihn beinahe die Erinnerungen: Er hatte das brennende Berlin gesehen. Sterbende Teenager in den Schützengräben vor Stalingrad, verhungernde Menschen in der Stadt. Am schlimmsten aber …
Auschwitz.
Hochsommer; und die auf Schienen hereinrollenden Viehtransporte. Verdurstende, angstzerfressene Menschen, welche, mit ihrem eigenen Kot beschmiert, aus dem Waggon stolperten. Ihre Schreie beim Auseinanderreißen der Familien. Ihr Nach-Luft-Schnappen in den Gaskammern; ihre leblosen Körper, in Gruben geworfen wie Abfall.
Sein Werk.
Ratthaparks Hand fasste nach einem Rohr, das da lag, ein halbmeterlanges, zolliges Eisenrohr.
Nahm es und schlug ihm den Schädel ein.
Nein, das tat er natürlich nicht. Niemand mehr schlug einem anderem den Schädel ein, niemand mehr übte Gewalt aus, einhundertsiebenundsechzig Jahre nach dem letzten Krieg. Kaum eine Schulhofrauferei, dachte Ratth und beruhigte sich. Brachte den Schocker in Position und drückte ab. Fing den Jungen auf, so gut es ging. Öffnete den kleinen Koffer, entnahm das Thiopan und zog die Spritze auf. Sein Arm glitt unter den schmalen Leib des Jungen und hob ihn ein Stück hoch, fand leicht die Vene und injizierte die Flüssigkeit. Die zweite Spritze brachte den Jungen zurück an die Oberfläche, er erwachte und rappelte sich auf in eine sitzende Position.
Ratth setzte sich ihm gegenüber. Er schaffte es nicht, dem Monster in die Augen zu sehen. „Diese drei Tage“, begann er. „Es hat sie nie gegeben. Der Rucksack, die Dinge, das Buch, sie existieren nicht. Verstehst du das?“
Der Junge nickte.
Ratth packte zusammen, zog seinen Palm und initialisierte die Rückreise. Stellte sich aufrecht, mit leicht angewinkelten Beinen in die Mitte des Schuppens und wartete auf den Strahl.
„Hilf mir“, sagte der Junge.
Und Ratth … gab sich einen Ruck, und sah ihm in die Augen. Sie waren … es waren bereits seine Augen.
„Schlag zurück, beim nächsten Mal“, sagte er. „Er wird dich dann nicht wieder anfassen. Und“, fügte er zögernd hinzu, „beginne, zu zeichnen. Du hast Talent. Zeichnen, das ist deine Zukunft.“
Der Junge nickte.
Und Ratthapark verschwand.