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Admiral Pferdefuß
Die Hölle bricht los, wenn sich hier Himmel und Meer in die Haare geraten.
Die Außenmauern bröckeln zum Gotterbarmen. Vieles ist eingestürzt, attackiert von der unberechenbaren Natur, die in ihren Wutanfällen rasend um sich schlägt und auf nichts Rücksicht nimmt. Was noch steht, ist marode.
Stephánia, die Fee, kennt den schlimmen Zustand ihrer Residenz. Bislang hat es ihr an Zeit gefehlt, sich darum zu kümmern. Die letzten Jahrhunderte war sie in der Hauptsache damit beschäftigt, ihr wundervolles Aussehen zu pflegen.
Als das allein nicht mehr genügte, versuchte sie ihre dahinschwindende Schönheit mit einem mutigen Griff in die Farbtöpfe aufzufrischen. Zwei-, dreihundert Jahre später täuschten weder Perücke noch Schminke über gewisse Mängel hinweg.
Also beschließt die im Laufe ihres langen Lebens weise gewordene Frau, sich fortan zu ihrem hohen Alter zu bekennen und sich nunmehr der Rettung ihres maritimen Anwesens zu widmen. Die Zusage, ihr dabei zu helfen, bekommt sie vom Obertroll und auch vom Anführer der Wasserwichtel.
Ob sie deren Versprechen für bare Münze nehmen kann, werden die nächsten Wochen zeigen.
Morgen sollen die Baukolonnen anrücken. Viel Geld haben die Trolle genommen für ihre noch zu leistende Arbeit. Die Fee kennt die Geschichten über deren Nichtsnutzigkeit und Unzuverlässigkeit, doch sie braucht jede helfende Hand.
Mit den Wasserwichteln war einfacheres Verhandeln möglich, sie sind in ihrem Wesen gradlinig, fleißig und geschickt – und die ausgehandelte Summe ist verbindlich.
Tatsächlich scheppert und rumpelt es kräftig in aller Herrgottsfrühe. Die Wasserwichtel kommen zu Fuß aus dem Meer, das Wasser perlt wie durch Zauberei von ihnen ab und sie machen sich an die Arbeit. Auch das Floß der Trolle nähert sich zielstrebig, vollbeladen mit Baumaterial und Werkzeug.
Am späten Vormittag sind die meisten Trümmer sortiert. Überraschend viele Steine und Balken können noch einmal verwendet werden, der Bauplatz sieht nun weniger chaotisch und hoffnungslos aus als noch vor Stunden. Stephánia bringt Tee und hat für jeden ein gutes Wort. Die bärtigen Trolle mit ihren Gurkennasen und aufgestülpten Hüten vertragen sich mit den blaugrünen Wasserwichteln und alles geschieht in trautem Einklang.
Mittags verzehren sie ein schönes Ragout von Kartoffeln, Rüben und Makrele, dann wischen sie sich den Mund und setzen die begonnenen Arbeiten fort.
Die Bauleute kommen gut voran, bald liegt alles in Reih’ und Glied, schon parat für den nächsten Tag.
Stephánia ist zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Ein paar lustige Wolken ziehen auf.
Sie werden größer, nehmen den ganzen Himmel ein und verdunkeln ihn. Es beginnt zu rumoren. Noch ist Tag, doch ist jedes Licht der Schwärze gewichen. Die Luft knistert und explodiert. Mit Fackeln und Knüppeln schlagen die Elemente aufeinander ein. Es tost und wütet, wieder einmal geht die Welt unter. Die Arbeiten müssen eingestellt werden.
Nach zwei Tagen sind alle Energien verschleudert. Das Meer grollt noch ein wenig, die Felsblöcke bewahren ihre geduckte Position und lassen die letzten Brecher durch ihren grünen Rückenfilz gleiten und verebben. Ruhe und Friede kehren zurück, alles gleißt und schimmert wie eh und je.
Die Wasserwichtel nehmen die Arbeit wieder auf, fleißig wie zuvor. Nur von den Trollen ist nichts zu sehen, weder mit bloßem Auge, noch mit dem Fernrohr. Auch am nächsten Tag erscheinen sie nicht, ebenso wenig am folgenden.
Nun verlieren auch die Wasserwichtel die Lust. Stephánia versucht mit Scherzen und einer Runde Seepferdchenschnaps zu retten, was noch zu retten ist, doch wird nichts mehr fertig und am nächsten Tag kommen auch sie nicht mehr.
Die Schlossherrin zerbeißt sich im Grimm die Lippen. Unbeherrscht schlägt sie gegen das morsche Gemäuer, tritt im Jähzorn mit bloßen Füßen gegen die Stufen. Stephánia flucht gotteslästerlich, röchelt in kalter Wut, zischt obszöne Worte.
Nun sitzt sie im Schlamassel. Kann weder essen noch trinken, ihrer aufgebissenen Lippen wegen. Ihre lädierten Hände verweigern selbst die kleinsten Handgriffe, mit den ramponierten Füßen kann sie keinen einzigen Schritt tun.
Wie ein eigenartiger Wurm kriecht die Fee mit schmerzenden Ellbogen und Knien in den ehemaligen Festsaal. Neben dem Kolossalspiegel hängt ihr Portrait. Jung war sie, von beinahe unvergänglicher Schönheit, atemberaubend und verführerisch. Jeder Mann warf sich ihr zu Füßen, wurde zum Leibeigenen, zum Hörigen.
Die attraktivsten Männer jener Zeit besuchten sie – meist Kapitäne in ihren prächtigen Uniformen, mit dem Degen an der Seite, mit glühenden Augen. Sie huldigten ihr mit prallen Schatullen und eleganten Worten, vergaßen sich im Taumel der Leidenschaft, beim schwachen Schein einer einzigen Kerze, wiewohl man ihrer Tausende hätte anzünden können. Die Fee flüsterte ihren Liebhabern geheime Koordinaten ins Ohr und führte sie zu märchenhaftem Reichtum oder aus einer Laune heraus geradewegs in den Untergang.
Vorbei das alles, längst vorbei! Die Fee ist ein armseliges Bündel – blutend, hilflos, halb verhungert. Fieber stellt sich ein, Stephánia halluziniert ihr Seenreich zur hundertfachen Größe. Sie kann nicht in balsamischen Schlaf fallen, zu viele Erinnerungen bedrängen sie und nagen an ihr wie Schiffsratten. Die Ohnmacht, nicht den Lauf der Dinge bestimmen zu können, dieser unfassbare Fall von der Herrscherin eines wundervollen Imperiums zur hilflosen, uralten Frau, bringt sie um.
War da ein Klopfen an der Tür?
Nein, wohl nicht.
Es klopft ein zweites Mal.
Sie krächzt ein beinahe unverständliches ‚Herein’. Wer, zum Teufel, ist hier auf ihrer Festung?
Tatsächlich, er ist es! Sechs goldene Admiralsstreifen am Ärmel, eine mit Goldtressen verzierte Ballonmütze, hoch genug für die Hörner, eine schlachtermesserscharf gebügelte Seemannshose mit zwei goldenen Streifen an den Seiten und ein Schuh von feinstem Kalbsleder, wirkungsvoll versehen mit einem weiß- und goldgedrehten Schnürsenkel.
„Meine Verehrung!“, sagt er devot. „Bin grad’ auf der Durchreise und dachte mir, schau doch mal bei der schönen Fee vorbei, was die denn so treibt. Doch ich sehe, es sieht gar nicht gut aus.“
Wie der barmherzige Samariter betupft er die Lippen der See-Fee vorsichtigst mit lauwarmer Kamille, zaubert eine Karaffe Chablis herbei und gibt ihr zu trinken. Moccalöffelweise füttert er sie mit goldenem Kaviar aus dem Iran und rotleuchtendem Tatar. Das hat er mit frischem Eigelb angemacht, die Zwiebeln rücksichtsvoll weggelassen.
Dann heilt er ihre Wunden. Unfassbar rasch kommt die Fee wieder zu Kräften.
Bislang hat sie kein Wort gesagt. Die Peinlichkeit der Situation, unvereinbar mit ihrem Stolz, verschlug ihr die Sprache.
Doch jetzt – frisch gestärkt und unverhofft schmerzfrei, versehen mit neuem Lebensmut, bedankt sie sich für seine gute Tat.
„Aber Exzellenz, ich bitte Euch“, wiegelt der Teufel ab, „es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, immer und überall zu helfen, und Euch besonders gern – hier in dieser exponierten Lage.“ Er zeigt weit über den Polarkreis bis rüber nach Hammerfest und nimmt eine reichlich bemessene Prise Schnupftabak. Die Fee verabscheut diesen Brauch, doch sie steht in seiner Schuld.
Der Teufel schwätzt munter drauflos und kommt auf die Residenz zu sprechen: „Ich hörte, Euch sind die Handwerker weggelaufen.“
Stephánias Kinn schiebt sich nach vorn, die untere Zahnreihe wird sichtbar.
Er spielt die nächste Karte aus: „Es scheint auf niemanden mehr Verlass zu sein.“
Das sticht der Fee in die Brust und sie schäumt auf: „Ich könnte sie alle umbringen – diese niederträchtige Schweinebande!“
„Na, na, es ist ja noch nichts verloren! Lasst mich Euer Freund sein“, versucht er sie zu besänftigen. „Wenn Ihr wollt, errichte ich noch in dieser Nacht mit meinen Gehilfen Euer Meerschloss schöner und strahlender als je zuvor, und Ihr, edle Dame, residiert hier noch viele hundert Jahre.“
Ein verlockendes Angebot – gerade noch zur rechten Zeit! Was es denn kosten solle, möchte sie wissen.
Der Teufel schnieft kräftig in ein kariertes Tuch.
„Kosten, kosten – es muss nicht alles was kosten!“, echauffiert er sich. „Warum kann man nicht eine Gefälligkeit mit einer anderen vergelten?“ Er schaut sie durchdringend an. Dann legt er seine Stimme mit Samt aus: „Herrscherin des Archipels und des Nordmeeres – behaltet Euer Geld. Ich bräuchte von Euch eine einzige kleine Unterschrift und alles wäre in bester Ordnung.“
„Daran soll es nicht scheitern“, erwidert die Fee, „Allerdings wüsste ich gern, was ich da zu unterschreiben hätte.“
„Oh!“, sagt ihr Besucher, „Ist nur eine Kleinigkeit.“ Er beschäftigt sich mit seinem Schnupftuch. „Eine geringfügige Veränderung der Seezeichen, nichts weiter. Wenn es Euch interessiert, könnt Ihr gern die Pläne einsehen.“
„Oh!“, sagt die Fee ebenfalls, „Selbstverständlich interessiert mich das!“
Und so schiebt er ihr – weiß der Kuckuck, woher er so schnell diese zusammengerollten Pläne hervorzieht – allerlei Ausgetüfteltes über den Tisch und erbietet sich, jedwede Auskunft zu geben.
Stephánia nimmt ihr Lorgnon und beugt sich tief über die Seekarten.
Langsam richtet sie sich wieder auf. Sie spürt ein aufkommendes Beben in sich.
Als Greisin, die kein vernünftiges Dach überm Kopf hat, sollte sie für jede Unterstützung dankbar sein. Eine zweite Chance, je aus dieser Malaise herauszukommen, ist undenkbar.
Doch die Schiffe würden im Irrgarten aus Klippen und Riffs auseinanderbrechen, viele erst ganz langsam und dann immer hilfloser dem Sog der Tiefe folgen, andere wie Steine versinken, noch bevor die Passagiere ein Gebet sprechen könnten. Mütter küssten noch einmal das Kind auf ihren Armen, andere das geweihte Amulett, das sie beschützen soll.
Die Silbermöwen würden weiterziehen, an ihrer Statt die schwarzen Vögel des Todes über ihrer Residenz schweben.
Die Hände der Fee zappeln hektisch, ihr Blick verhärtet sich, der Körper zieht sich zusammen.
Sie schnellt nach vorn und reißt den Teufel zu Boden. Völlig überrascht, schlägt er hart auf und bleibt reglos liegen.
Die Ballonmütze rollt davon, seine Hörner glänzen. Die Fee tritt nach ihm und tobt: „Du Widerling, du Abschaum!“ Und ein zweites Mal tritt sie zu: „Du Stück Dreck, wage nicht, noch einmal hier zu erscheinen!“
Da bewegt sich der Pferdefuß und der Kopf ruckt. Kommt er wieder auf die Beine, wird er sie vernichten.
Die Fee greift nach einem bronzenen Leuchter. Sein Schädel platzt, schwarzes Hirn quillt wie Gedärm hervor. Ein Horn ragt senkrecht auf, das andere kippt zur Seite.
Stephánia bebt, Panik nimmt ihr die Luft. Sie lehnt sich an die Wand und rutscht langsam zu Boden.
Sie braucht lange, um ihre verworrenen Gedanken zu ordnen.
Um den Leibhaftigen ist es nicht schade. Der hat noch nie etwas Gescheites vollbracht.
Doch er war Gottes Gegenspieler!
Und nun? Ist Gott jetzt überflüssig? Ohne das Böse kann das Gute nicht sein.
Sie umklammert ihren Kopf, möchte ihn vorm Zerspringen bewahren. Taumelt die Welt durch ihre Unbeherrschtheit ins Chaos, in die Anarchie?
Nur langsam kommt sie zur Ruhe, ihr Atem wird gleichmäßiger.
Die Fee erhebt sich und geht ans Fenster. Eine Scheibe ist gesprungen, die Farbe abgeblättert. Weit draußen in der Dämmerung zieht ein Schiff vorbei, festlich beleuchtet bis hoch in die Masten. Der Klang eines Cellos weht herüber, eine Melodie in Moll, traurig und heiter zugleich. Die zerschlissenen Gardinen und Vorhänge beginnen langsam zu schwingen, die Kerben um Stephánias Lippen verlieren an Härte.
Sie erkennt die Melodie, ihre Stimmung hebt sich. Verhalten schwingt sie mit, dreht sich mit ausgebreiteten Armen und fühlt sich mit einem Mal jung. Ein Gentleman in Kapitänsuniform verbeugt sich leicht, legt seinen Arm um sie und macht den ersten Schritt.
Die Umrisse ihrer Ruine verschmelzen mit der aufkommenden Nacht.