Adieu
Du kannst einem Menschen nichts lehren; du kannst ihm nur helfen, es in sich selbst zu finden. Galileo Galilei
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und zur Krönung einen von seinem Whisky. Er schaute sich die Flasche in seiner Hand an, während die Flüssigkeit langsam und brennend seine Kehle passierte. Schmeckt dieses Zeug grässlich, dachte er.
Aber heute brauchte er es so dringend wie nie zuvor, wahrscheinlich würde er es ohne den Whisky nicht schaffen. Es hätte auch Schnaps, Wodka oder Raki sein können. Hauptsache er erreichte einen Zustand, der ihm all das, was er an diesem Abend noch vorhatte, leicht machen würde. Es durfte nicht Bier, Wein oder Sekt sein, davon hätte er viel zu viel trinken müssen. Da er nie viel Alkohol getrunken hatte, musste es was sein, das schon in geringen Mengen seine Finger lockert. Ja, sein Zeigefinger musste heute in Form sein.
Er nahm noch einen Schluck. Es schmeckte ihm immer noch nicht. Aber das musste es heute auch nicht. Geschmack spielte heute keine Rolle.
Wie können die Leute dieses Zeug trinken, dachte er laut vor sich hin. Er stellt die Flasche ab, drückte die Zigarette aus. Er sah die Pistole, die direkt neben der Flasche auf dem Tisch lag. Was für ein kleines Ding, ging es ihm durch den Kopf.
Der Typ, der ihm die Pistole verkauft hatte, garantierte ihm, dass diese für sein Vorhaben mehr als ausreichen würde. Sozusagen eine Erfolgsgarantie.
Ich will einen Menschen umbringen, hatte er dem Typen gesagt. Der schaute sich in der dunklen Strasse unruhig nach rechts und links um. Als er niemanden sehen konnte, sagte er abwesend, kein Problem, mit dem Ding kannst du einen Elefanten umbringen.
Es reicht, wenn ich einen Menschen umbringen kann, dachte er. Der Typ fragte gar nicht wen, warum oder wann. Zeigte kein Erstaunen, Mitleid oder Ekel, versuchte ihn nicht davon abzubringen, einen Menschen zu töten. Er sagte nur: 200.
Er holte die Scheine aus seiner Hosentasche, zählte ab, gab ihm das Geld und dachte, ein teurer Spaß, aber handeln wollte er nicht. Es sollte ja nur ein einmaliger Spaß sein, den er sich nie wieder gönnen würde.
Da sind noch 20 Schuss Munition in der Schachtel, sagte der Typ und reichte sie ihm.
20 brauche ich nicht, sagte er, und ich werde nur Eine brauchen, war sein Gedanke. Vielleicht kann ich ja mit den restlichen 19 vorher üben, aber wie, fragte er sich. Während er darüber nachdachte, ging der Typ schon, ohne sich umzudrehen. Keine Verabschiedung. Zurück blieb er, mit einer Tüte, in der sich eine Schachtel mit einer Pistole und 20 Patronen befand. Er schaute sich um. Überlegte, in einer Kneipe sein erstes Bier an diesem Tag zu trinken. Noch ein kühles Bier, bevor es losgeht. Nach dem Bier ging er nach Hause und öffnete die Whiskyflasche.
Wieder nahm er einen Schluck aus der Flasche. Während er sein Gesicht verzog, zog er eine Zigarette aus der Schachtel heraus.
Ja, geraucht hatte er bereits mit 16. Immer, wenn er ein paar Stunden aus dem Haus war, zündete er sich Eine an. Bevor er nach Hause ging, kaute er ein Kaugummi oder Bonbon, damit seine Eltern den Zigarettengeruch an ihm nicht wahrnahmen. Wahrscheinlich haben sie es trotzdem gerochen und nichts gesagt, dachte er. Aber das spielte heute auch keine Rolle mehr.
Er nahm einen tiefen Zug, bevor er den Rauch ausgepustet hatte, griff er zum Hörer. Das Telefon stand auf dem Tisch. Außer dem Telefon befanden sich dort die Whiskyflasche, die geladene Pistole, ein Aschenbecher, eine Schachtel Streichhölzer und zwei Schachteln Zigaretten. Mehr brauchte er zur Zeit nicht.
Seine Mutter meldete sich am anderen Ende. Hallo, ich bin es, sagte er. Eine kurze Stille trat ein, so, als wäre der Andere überrascht worden.
Du, fragte sie.
Ja, wieso wundert es dich?
Nun, du hast doch vor ein paar Tagen angerufen und, na ja, du rufst doch sonst nicht innerhalb einer Woche zwei Mal an, sagte sie verlegen.
Es klang nicht wie ein Vorwurf. Vielmehr wie eine Feststellung einer Tatsache, mit der man sich Wohl oder Übel abgefunden hatte.
Wie geht es dir, fragte er sanft.
Ach, du weißt doch, mein Rücken macht mir zu schaffen. Diese Schmerzen. Ansonsten geht es mir ganz gut.
Mutter und ihre Gesundheit, dachte er, während sie weitersprach. Ihre Gesundheit ist schlecht, seit ich mich erinnern kann.
Aber wie geht es dir, du hörst dich nicht gut an, fragte sie.
Gut Mutter, gut, doch, mir geht es fabelhaft.
Du Lügner, dachte er. Er spürte ihre Zweifel. Aber er konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Die Wahrheit würde sie nie verstehen, niemand würde es verstehen. Sie würde es früh genug erfahren. Zur Zeit war die Wahrheit unerheblich.
Sie erzählte ihm von irgendeinem Gespräch mit seinem Bruder und dessen Kindern.
Ich habe sie mindestens ein Jahr nicht gesehen, stellte er verwundert fest. Grüß Vater von mir.
Er bemerkte, dass er sie unterbrochen hatte. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Wahrscheinlich ist sie nichts anderes von mir gewohnt, dachte er.
Geht es dir wirklich gut, fragte sie nochmals.
Ja Mutter, mach dir keine Sorgen. Pass auf dich auf.
Du auch.
Er legte auf.
Er nahm noch einen Schluck von dem Whisky, um das Gespräch herunter zu spülen.
Wieso bin ich ihr so fremd?
Du bist dir doch selbst fremd, sagte eine Stimme in ihm. Wenn Du ein paar Jahre zurück gehst, warst du doch ein ganz anderer Mensch. Äußerlich hast du dich nicht verändert, das ist auch nicht so wichtig, viel wichtiger ist, was aus deinem Charakter geworden ist.
Fang nicht damit an, sagte er laut. Deswegen sitze ich doch hier. Mein Charakter hat mich im Stich gelassen. Was früher wichtig war, ist heute unwichtig und andersherum.
So schlimm ist es auch nicht, beruhigte er sich.
Aber spielt das alles noch eine Rolle.
Die Hauptrolle spielt die Waffe auf dem Tisch. Sie muss ihre Rolle erfüllen, sie muss sie gut spielen, ich bin nur noch der Statist. Ich spiele die Opferrolle, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben.
Wieso Opfer, fragte er sich und die Stimme. Ich bin doch der Täter, der Böse, der am Ende des Films immer verliert. Also bin ich ein Verlierer.
Nein, ich bin kein Verlierer. Ich habe einen guten Job, verdiene viel Geld, habe zwei Autos, fahre im Jahr zwei Mal in Urlaub, kann mir Vieles leisten, wovon andere träumen.
Und, fragte die unsichtbare Stimme.
Was und?
Ja, zähle weiter auf. Komm endlich zu den wichtigen Dingen im Leben!
Ich weiß, was du meinst. Die Liebe. Aber es sollte nicht sein. Ich habe es mit den Frauen nicht lange ausgehalten.
Dass sie es mit dir nicht lange ausgehalten haben, kommt nicht in Betracht?
Es ging nur für kurze Zeit gut. Ich habe Keine für die Ewigkeit kennen gelernt. Aber was hält schon ewig an? Nicht einmal das Leben. Also.
Die Stimme ließ nicht locker: Und was ist mit Freunden?
Nun hör mal auf, platzte es aus ihm heraus und er merkte, dass er mit sich selbst redete. Er schaute auf die halb leere oder halb volle Whiskyflasche. Ich bin nicht besoffen, also muss ich verrückt sein.
Könnte man glauben, wenn man dich so sieht, hörte er.
Du nervst. Ich habe Freunde.
Glaubst du?
Soll ich es dir beweisen.
Bitte!
Er überlegte, nahm noch einen Schluck, griff zum Hörer. Um sich nicht anmerken zu lassen, dass er im ersten Augenblick nicht wusste, wen er anrufen kann, nahm er einen zweiten Schluck. Er wollte sich doch keinen Mut antrinken?
Eine weibliche Stimme meldete sich.
Sie war wie seine Mutter überrascht, seine Stimme zu hören. Nachdem die Formalien, wie geht es dir, danke gut, ausgetauscht waren, kam eine Stille auf.
Wir haben uns lange nicht gesehen, da dachte ich, ruf doch mal die Katja an.
Ja, wir haben uns lange nicht gesehen.
Er wartete ab. Schön, dass du anrufst, lass uns mal treffen, was machst du so, weißt du noch... Nichts von dem sagte sie. Nur Stille.
Er legte auf. Er wollte sie und sich nicht quälen.
Kein Gespräch, keine Verabredung zu einem Kaffee, keine Wärme, nichts von dem, wie es mal war.
Wenn du nicht so bist wie du es einmal warst, kann nichts so sein, wie es einmal war.
Na und, wir haben uns nichts mehr zu erzählen. Aber es gibt noch andere Freunde.
Wenn du meinst, meldete sich die Stimme zurück. Wir alle leben vom Vergangenen und gehen an Vergangenem zugrunde.
Er griff zur Flasche, nahm einen ausgiebigen Schluck, zündete sich eine Zigarette und wählte erneut. Doch auch dieses Gespräch verlief ähnlich wie das Letzte.
Als er auflegte, hörte er die Stimme „es war einmal“ sagen.
Aber wieso, fragte er in den Raum.
Wenn du die Antwort kennst, hättest du etwas Besseres zu tun, als hier zu sitzen. Dann würdest du nicht eine Flasche und Waffe als Gesprächspartner haben.
Hilf mir, bat er.
Kauf dir eine Mutter!
Wie bitte?
Oder kauf dir gleich noch Freunde dazu!
Was soll das? Ich habe dich um Hilfe gebeten, und du machst dich lustig über mich.
Du hast doch so viel Geld. Oder noch besser, tausche eines deiner Autos gegen einen Freund ein!
Aber ich kann sie mir doch nicht kaufen.
Also?
Du meinst, ich habe mir mehr Gedanken um das Geld gemacht als um die Menschen.
So könnte man es einfach und kurz zusammenfassen. Job, Karriere, Geld, Autos, Urlaub, Anzüge, Schmuck, das alles war dir wichtig.
Menschen waren mir auch wichtig.
Eine Frage: Was machst du alles, wenn du ein Auto kaufst?
Ist das eine Fangfrage, überlegte er kurz. Um seine Unsicherheit zu überspielen, antwortete er schnell.
Ich erkundige mich nach Angeboten, schaue sie mir an, verhandele, bezahle, melde es an, bringe das Auto dann in Topzustand, Pflege es und habe viel Spaß.
Viel Mühe für ein Auto. Oder?
Er wusste immer noch nicht, worauf dieses Spiel hinauslief.
Da er keine Antwort gab, fuhr die Stimme weiter: Wenn du dir bei den Menschen um dich herum so viel Mühe gegeben hättest, wäre dein letzter Freund nicht eine Pistole, und die hast du dir auch nur gekauft.
Ich habe meinen Eltern immer eine Karte zum Geburtstag, zu Weihnachten geschickt, Geschenke gemacht, mich bei ihnen blicken lassen und.... Weiter kam er nicht.
Er wusste, was er falsch gemacht hatte. Niemand brauchte es ihm mehr zu sagen. Die Stimme
war verschwunden.
Er lehnte sich zurück, schaute zur Decke.
Warum ist alles so schwer, fragte er, als wolle er von der Decke eine Antwort. Sogar die Stimme hatte ihn verlassen. Er fühlte sich endgültig einsam. Nein, er war nicht einsam, er hatte sich seine Einsamkeit aufgebaut, wie eine Karriere, deren Spitze er heute erklimmt. Da stand er nun auf dem Höhepunkt seiner Errungenschaft und schaute herunter. Er sah viele Menschen, die ihm die Hand entgegenstreckten. Er versuchte, sie zu greifen, kam aber nicht einmal in ihre Nähe. Er war zu weit weg. Er hatte sich zu weit von ihnen entfernt.
Ich wusste gar nicht, dass mir so viele Menschen die Hand gereicht haben, ich habe sie nicht gesehen.
Da, wo er sich jetzt befand, war keine Hand, die er an sich ziehen konnte, weg von dem Alleinsein.
Ich bin ein Einzelkämpfer, hatte er immer gedacht. Vergessen hatte er, dass jeder Kämpfer jemanden braucht, der ihm gelegentlich die Wunden des Lebens pflegt. Jemanden, bei dem man sich vom Alltäglichen ausruht. An die eigene Schulter konnte man sich nicht anlehnen. Jetzt war er müde und verletzt. Niemand konnte ihm helfen.
Meine letzte Hilfe ist die Pistole, sagte er.
Er nahm sie in die Hand. Sie fühlte sich kalt an.
Du sollst mich erlösen. Er überlegte, was passiert, wenn er abdrückt. Wahrscheinlich macht es Puff oder Peng. Ein Loch im Kopf bleibt zurück. Wie wenn man die Luft aus einem Ballon lässt. Nicht mehr und nicht weniger. Dann ist alles vorbei. Ganz einfach. Das Ergebnis war einfach, aber doch so schwer zu verwirklichen.
Du wirst sogar einsam sterben. Keiner wird dir die Hand halten und Tränen vergießen. Deine Mutter wird weinen, wenn sie deinen leblosen Körper nach Tagen oder Wochen finden. Du wirst bis dahin einsam hier liegen. Vermissen wird dich auf die Schnelle keiner. Der Preis der Einsamkeit.
Sterben werden wir alle, versuchte er sich zu beruhigen.
Nach der Geburt weinst du, und alle um dich herum lachen. Wenn du stirbst, sollten alle um dich weinen und du lachen.
Er versuchte krampfhaft zu lachen. Er zündete sich eine Zigarette an. Meine letzte. Wie oft hatte er sich das schon gesagt, doch heute konnte er sein Wort halten. Meine allerletzte, ehrlich.
Wahrscheinlich wirst du den Teppich versauen, dachte er plötzlich. Aber spielt das noch eine Rolle? Er hatte sich das Leben versaut, da kam es auf den Teppich nicht mehr an.
Einen Brief wird man nicht finden. Ich habe keinen geschrieben.
Was sollte er auch schreiben. Dass er einsam ist. Dass wusste er bis vor einem kurzen Augenblick selbst nicht so eindeutig, nach seinem Tod würde es keinen interessieren, auch dann bliebe er einsam. Dass es ihm leid tut. Dass er seine Eltern liebt. Das spielte danach auch keine Rolle mehr.
Ein einfaches Peng der Pistole würde das alles unwichtig werden lassen. Ganz einfach.
Er entsicherte die Pistole, setzte sie an seine rechte Schläfe.
Du wählst also die klassische Variante, dachte er.
Sein Zeigefinger war doch nicht so locker, wie er sich vorgestellt hatte.
Adieu mein Freund, sagte er laut.
Wen er damit meinte, wusste er selbst nicht.
Aber das spielte auch keine Rolle mehr.
Peng.