Adam im Paradies
Der Aufstieg im Zwielicht der Morgendämmerung war nicht sehr schwierig, aber da Adam ein ordentliches Tempo anschlug, war er schweißnass und außer Atem, als er endlich auf dem Gipfel des Berges ankam. Gerade rechtzeitig, um die ersten Spitzen der roten Sonnenscheibe am Horizont sehen zu können. Die Strahlen zuckten wie lange Finger über das Meer in seine Richtung. Adams vom Aufstieg wild pochendes Herz beruhigte sich bei diesem Anblick augenblicklich. Die Sonnenstrahlen kitzelten in seinen Augen, die Wärme der Sonne floss durch seine Augen und breitete sich über Gesicht, Brustkorb und Arme in seinem ganzen Körper aus. Ein Gefühl von Ruhe und Gelassenheit durchströmte Adam.
Ganze drei Minuten dauerte das Schauspiel, dann stand die Sonne mit vollem Rund über dem Meer. Adam löste sich aus seiner Erstarrung. Drei kostbare Minuten lang hatte er alles vergessen, den furchtbaren Streit mit seiner Freundin, die aufreibende Arbeit im Sägewerk, die vorwurfsvollen Blicke seiner Eltern, hatte alles hinter sich lassen können, was ihn unvermeidlich nach dem Abstieg vom Gipfel unten am Fuße des Berges erwartete.
Aber noch hatte Adam Zeit. Er ließ sich am Fuße einer einsamen Tanne nieder, die windschief auf der kleinen Hochfläche des Berges stand. Von seinem Platz aus konnte Adam die ganze Umgebung überblicken. In der aufziehenden Schwüle des beginnenden Tages war Adam kurz eingenickt, als ihn ein Rascheln aus einer Wildrosenhecke, die seitlich hinter der Tanne wuchs, aufschrecken ließ. Eine olivgrüne Schlange kroch langsam durch die Blätter und kam auf ihn zu. Etwa einen Meter vor ihm verharrte die Schlange, reckte ihren Körper zu einem geschwungenen S auf und starrte Adam an.
„Hallo Adam, ich habe auf dich gewartet!“
Adam zuckte zusammen und blickte sich misstrauisch um. Irgendjemand war ihm nachgestiegen und wollte ihm nun wohl einen Streich spielen. Ein Zischen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
„Tsss, tsss, tsss! Ist das höflich wegzuschauen, wenn jemand mit dir spricht?“, fragte die Schlange und schüttelte missbilligend ihr glänzend grünes Köpfchen.
„Warum sprichst du mit mir? Schlangen können nicht sprechen? Ich muss wohl träumen.“ Adam kniff sich in den Oberschenkel, als wollte er sich selbst aus einem Traum wecken.
Ein Schaudern durchlief den schlanken Körper der Schlange, das Zischen klang schlagartig wütend als sie weitersprach.
„Ach ihr dummen Menschen. Natürlich können Schlangen sprechen. Konnten sie schon immer. Ihr hört bloß nicht mehr zu. Daran ist dieses dumme Buch schuld.“
Die Schlange richtete sich auf, aus dem S wurde ein Pfeil mit dem Schlangenkopf als Spitze.
„Wenn ein Apfel lecker ist, kann man das doch auch mal sagen! Aber dann so eine Geschichte daraus zu machen. Vertreibung aus dem Paradies, die böse Schlange war schuld. Typisch! Tssssssssss.“ Die Schlange wandte sich kurz von Adam ab, um plötzlich mit einem Ruck auf ihn zuzukommen. „Der Junge hieß damals übrigens auch Adam. Schon allein deshalb hätte ich eigentlich wegbleiben sollen. Aber du hast mich gerufen und jetzt helfe ich dir. Ich bin eben einfach zu gutmütig.“
Die Schlange sackte scheinbar resignierend wieder etwas zu Boden.
„Ich habe dich nicht gerufen?“, antwortete Adam erstaunt und schüttelte den Kopf. „Bis gerade eben wusste ich ja nicht mal, dass es sprechende Schlangen gibt. Adam hatte sich erstaunlich schnell damit abgefunden, dass er sich mit einer Schlange unterhielt. Er fragte die Schlange: „Bei was könntest du mir schon helfen?“
„Ich könnte dich aus deiner jämmerlichen Existenz befreien.“, entgegnete die Schlange. Adam zuckte zusammen.
„Nein, nein, keine Angst!“, beruhigte die Schlange ihn. „Ich will dich nicht töten, tssss. Aber ich kann dir helfen zu erkennen, was du wirklich willst. Deshalb bist du doch auch auf diesen Berg gestiegen.“ Die Schlange blickte ihn erwartungsvoll an. Als Adam nicht antwortete, fuhr sie fort: „Mit Adam Senior war das damals ganz ähnlich. Er und seine Frau Eva hatten keine Lust mehr auf diesen Garten. Ich habe Eva den Apfel gezeigt, der ganz oben im Baum hing. Sie hat Adam Senior zum Pflücken hochgeschickt. Du musst wissen, das war der höchste Baum dort, der ragte über alle anderen hinweg. Adam Senior konnte meilenweit blicken und sah die Wüste, das Meer und viele fremde Tiere. Adam und Eva beschlossen den Garten zu verlassen und sich die restliche Welt anzuschauen.“
„So, und wo ist mein Apfel? Ich sehe hier keinen Apfelbaum.“ Adam blickte sich um und deutete dabei auf das Meer und die Klippen. „Ich sehe von hier oben doch schon alles. Ich muss nicht mehr auf einen Baum steigen.“
Die Schlange bewegte sich wieder ein Stück auf Adam zu und fixierte ihn beim Sprechen: „Aber genau das ist der Punkt! Du kommst hier jeden Morgen rauf und schaust zum Horizont und erkennst doch nicht, dass du auf einer Insel bist. Du willst wissen, was hinter dem Meer liegt. Sonst würdest du nicht jeden Tag so verzweifelt von hier oben in die Ferne starren.“
Die Worte der Schlange hatten Adam berührt. Er begann zu begreifen, was er in seinem tiefsten Innern tatsächlich wollte. Was ER wollte! Und nicht was seine Eltern und seine Freundin von ihm erwarteten. Er wollte weg von dieser Insel, die Welt sehen. Die Schlange hatte tatsächlich Recht!
Adam blickte nachdenklich auf das schäumende Spiel der Wellen unter ihm und merkte nicht, dass die Schlange sich langsam immer weiter auf ihn zu bewegte. Plötzlich schoss ihr Kopf vor und ihre Zähne senkten sich in sein rechtes Handgelenk. So schnell wie sie gekommen war, zog sich die Schlange wieder zurück. Auf Adams Arm blieben zwei blutende Male zurück. Der Schmerz fuhr mit Feuerzungen seinen Arm hinauf.
„Warum hast du das getan?“, fragte Adam schon leicht benommen und blickte ungläubig von der Wunde zur Schlange, die ihn aus sicherem Abstand beobachtete.
Die Schlange antwortete behutsam: „Ich weise dir den Weg.“
…
Als Adam erwachte, blickte er in ein freundliches Gesicht, das sich zu ihm herabbeugte und ihm eine kühle Hand auf die Stirn legte. Eine leise Stimme sprach zu ihm:
„Es ist alles in Ordnung. Sie wurden von einer giftigen Schlange gebissen. Man musste sie aufs Festland ins Krankenhaus bringen. Glücklicherweise hatten wir das Gegengift vorrätig. Sie werden wieder ganz gesund.“
ENDE