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Ackerland
„Ackerland“
„Versuchen Sie ma, den Motor zu starten.“
Vincent trat die Kupplung und drehte den Schlüssel im Zündschloss, doch der Volvo gab lediglich ein Kreischen von sich, das wie ein Protest klang. Die Karre war tot, zweifellos!
„Ich versteh das nicht“, sagte Vincent verzweifelt, während er sich zu dem alten Mann gesellte, der vor der geöffneten Motorhaube stand und angestrengt in das Innere des Motorraums starrte. „Ich war erst letzte Woche mit dem Wagen in der Werkstatt, da lief er noch wie geschmiert.“
Der Farmer, vor dessen Hof Vincents Wagen liegengeblieben war, zog einen schmutzigen Lappen aus der Gesäßtasche seiner ehemals dunkelblauen Latzhose, wischte sich damit über die Stirn und blickte in die gleißende Sonne. Insekten schwirrten träge durch die Luft, vollgesogen und satt.
„Und Netz hab ich auch keins hier! Nicht einmal einen Abschleppwagen kann ich rufen, verdammt!“
Entnervt klappte er sein Handy zu, steckte es in die Hosentasche und fuhr sich durch das Haar, was seine makellos geschnittene Frisur ruinierte. Er trug einen dezenten, anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug, ein hellblaues Hemd, das mit seiner dunkelroten Seidenkrawatte harmonierte, und schwarze, auf Hochglanz polierte Lackschuhe, an denen der Schlamm und Schweinekot, aus dem der Boden gemacht zu sein schien, mittlerweile zu einer ockerfarbenen Substanz getrocknet war.
Vincents Blick glitt über die in der Hitze brodelnde Landschaft. Ackerland, so weit das Auge reichte. Braune, schwarze und graue Rechtecke woben die Felder zusammen zu einem Netz aus Erde und Dung, das in der brütenden Hitze des Nachmittags zu atmen schien.
„Tja, ich will ja den Tag nich vor dem Abend kreuzigen, aber ich denk ma, mit der Schüssel kommen Sie heut nirgends mehr hin. Aber … wenn Sie wollen, kann ich Sie nachher mit in den nächsten Ort nehmen. Liegt aufm Weg … sozusagen. Muss vorher nur noch meine Lieblinge füttern.“
Als hätten ihn die Tiere gehört, ertönte plötzlich ein forderndes Quietschen und Blöken, das Vincent eine Gänsehaut über den Körper jagte.
„Ihre … was?“
Der Farmer grinste über das ganze Gesicht, wischte sich erneut mit dem Lappen über die Stirn und wies mit der freien Hand auf ein Gebäude hinter der Scheune, vor der sie standen. „Meine Mastschweine“, verkündete er stolz. „Ohne die würd hier gar nix mehr laufen! Ich mein … schaun Sie sich doch ma um! Sehn Sie hier irgendwo noch nen Hof? Oder nen Stall?“
„Also …“
„Sind Sie irgendwann während der letzten Stunde, als Sie noch auf der Straße warn, an irgendwas anderem vorbei gekommen, als an Straßenschildern?“
Vincent dachte nach. „Nein“, erwiderte er. Er konnte sich nur an den hypnotisierend gleich bleibenden Mittelstreifen und die die Straße säumenden Äcker erinnern, die auf ihn gewirkt hatten wie Massengräber einer unbekannten Schlacht. „Jetzt, wo Sie es sagen … nein, bin ich nicht.“
Der Farmer steckte den Lappen in seine Gesäßtasche und nickte eifrig.
„Liegt am Land.“
Vincent, der sich für das Thema zu erwärmen begann, wirkte verwirrt. „Ich kann Ihnen nicht folgen. Was … liegt am Land?“
„Das Land is so tot, wie ein Friedhof, mein Junge. Toter geht’s nich! Hat mit diesen verdammten Genfuzzis zu tun. Die haben hier vor ein paar Jahren versucht … Sachen zu züchten … irgendwas, wo sie die Gene oder so verändert haben.“
„Sie meinen genmanipulierten Mais. Meiner Gesellschaft …“
„Pah“, brachte der Farmer hervor und spuckte in den Schlamm auf dem Boden. „Was auch immer!“
„Meiner Gesellschaft“, fuhr Vincent fort, als wäre er nicht unterbrochen worden, „gehören Anteile der Forschungsanlagen. Deshalb bin ich ja auch hier. In Marburg findet ein Kongress statt, der sich mit den langfristigen Auswirkungen der Gentechnik auf die Beschaffenheit und Zusammensetzung von Ackerland auseinandersetzt, insbesondere der möglichen Konsequenzen für den Nährstoffgehalt des Grundwassers.“
Der Farmer blickte Vincent an und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, als würde er ihn in einem völlig neuen Licht betrachten.
„Konsequenzen!“ Er sprach es aus, als wäre es ein Schimpfwort. „Dieses Land is so tot wie die Dietrich, das is dabei rausgekommen! Und sonst gar nichts!“
Vincent wurde das Ganze unheimlich. Die spätsommerliche Hitze erdrückte ihn schier unter ihrer Gewalt, als befände er sich unter einem Brennglas. Er wollte nur noch weg von hier, einen Abschleppwagen organisieren und dann schleunigst weiter kommen.
„Was …“, begann er, mehr um das Thema zu wechseln, als aus ehrlichem Interesse, „… was ist mit Ihren Feldern? Ich meine, Sie leben doch nicht allein von Ihren … Nutztieren, oder?“
„Nein, das würd mir nich genug einbringen, um zu überleben, aber … der Acker im Herzen eines Mannes ist steinig. Ein Mann bestellt ihn und lässt darauf wachsen, was er kann.“
Vincent blickte den Farmer verblüfft an. „Ist das von Ihnen?“
„Stephen King. Friedhof der Kuscheltiere. Is meine Bibel … sozusagen. Aber … meine Güte, lassen Sie uns erst ma reingehn und was Kaltes trinken! Hier draußen holt man sich ja nen Sonnenstich!“
Daraufhin ging der Farmer in Richtung des Wohnhauses, wobei er in seinen knallgelben Gummistiefeln durch den in der Hitze zu Skulpturen gebackenen Matsch des Hofes stapfte und sich erneut mit dem Lappen den Schweiß von der Stirn wischte.
Vincent blickte dem Alten zweifelnd hinterher, zog sein Handy aus der Hosentasche und klappte es auf. Als er sah, dass er noch immer keinen Empfang hatte, steckte er es wieder weg und folgte dem Farmer, der bereits im Schatten der windschiefen Veranda verschwunden war und das Wohnhaus betreten hatte.
Das Innere des Hauses wirkte so trist wie sein Äußeres, als wäre das Gebäude lediglich ein Schuppen, in dem man Dinge einlagerte, um sie irgendwann wieder hervorzukramen und sich zu fragen, wozu man sie einst benutzt hatte. Graue, staubige Holzdielen, die bei jedem zweiten Schritt knarrten und ächzten. Verblichene Tapete, die von den Wänden schimmelte.
Kopfschüttelnd betrat er einen Raum, in dessen Mitte ein Tisch, eine alte Bauernkommode und drei wacklige Holzstühle standen. Einzig das Vorhandensein eines alten, sargförmigen Kühlschranks und eines rostfleckigen Waschbeckens aus Emaille ließen erkennen, dass es sich dabei um die Küche handeln musste.
Der Farmer stellte einen schmutzigen Glaskrug mit Wasser auf den Tisch, spülte zwei Gläser ab und stellte sie daneben. Vincent kam um vor Durst! Er füllte das Glas, das vor ihm stand, leerte es in einem Zug, stellte es wieder auf den Tisch und stöhnte befriedigt auf, obwohl das Wasser einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterließ.
„Geht nichts über Quellwasser, wenn die Sonne brennt, nich wahr?“
Vincent nickte und sog die Luft in tiefen Zügen ein, wobei er den Staub, der über allem lag, förmlich in der Lunge schmecken konnte.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, sagte Vincent, wobei er sich vorkam wie der kleine Prinz von Antoine de Saint Exupéry.
„Welche Frage?“
„Ihr Ackerland. Es sieht aus, als würde es weiterhin bestellt werden. Zumindest macht es mir den Eindruck. Es wurde gepflügt, daher gehe ich davon aus, dass auch etwas ausgesät und geerntet wurde.“
„Das is richtig! Bin der Einzige, der sich hier in der Gegend halten konnte!“ Der Farmer sagte das nicht ohne einen gewissen Stolz, als würde er sich gegen verheerende Naturgewalten zur Wehr setzen.
„Was bauen Sie denn an?“
„Was ich kann“, antwortete der Farmer mit einem verschmitzten Lächeln. „Mais, Kohl, Tomaten … was Sie wolln.“
„Wie machen Sie das, wenn der Boden wirklich so tot ist, wie Sie sagen? Ich frage das, weil es für meine Gesellschaft von Nutzen sein könnte. Wenn Sie irgendein Patentrezept haben … dann raus damit!“
Der Farmer grinste, erhob sich, schlurfte zum Kühlschrank und öffnete ihn. Ein intensiver, fauliger Geruch strömte in den Raum, während der Alte einen Metalleimer aus dem Kühlschrank nahm und auf den Tisch wuchtete.
„Was ist das“, entfuhr es Vincent, der angewidert aufsprang und sich eine Hand vor den Mund hielt, um sich nicht übergeben zu müssen.
„Innereien“, sagte der Farmer, als sei es das Natürlichste von der Welt, während er den summenden Kühlschrank schloss und sich wieder auf den Stuhl setzte. „Ich schlachte die verkrüppelten Frischlinge, die eh nich lang machen würdn, un verarbeite sie weiter. Hab da so meine eigene Technik entwickelt. Ein Rezept des Hauses … sozusagen.“
Er schien amüsiert zu sein über den Ekel seines Gastes. Vincent, der zur Tür zurückgewichen war, kam zögernd näher und blickte in den Metalleimer, in dem er nur vage eine in sich verschlungene Masse aus grauem Gedärm, verwesendem Fleisch und wimmelnden Maden erkennen konnte.
„Ich lass das Zeug gären, bis es reif is, dann verfütter ichs an meine Lieblinge. Dann müssen sie es nur noch verdaun, wieder ausscheidn … und das wars! Is der beste Dünger dens wo gibt!“
Der Blutgeruch war übermächtig und schien beinahe greifbar in der Luft zu schweben. Sommerwind wehte durch das offene Fenster herein und brachte für kurze Zeit Erleichterung.
Benommen hielt Vincent sich an der Tischkante fest und schwankte leicht, als er realisierte, was der Alte ihm da erzählte.
„Aber das is noch längst nich alles! Kommen Sie mit ma, mein Junge! Ich zeigs Ihnen!“
Der Farmer stand auf, hob den Eimer vom Tisch und verließ die Küche. Ungläubig wankte Vincent ihm hinterher und folgte ihm nach draußen.
Das Blöken und Kreischen im Stall war mittlerweile um ein Vielfaches lauter geworden. Offenbar konnten die Tiere es gar nicht abwarten, mit ihren eigenen Jungen gefüttert zu werden. Vincent drehte sich der Magen um. Zögernd folgte er dem Farmer in den Stall, blieb jedoch an der Tür stehen, als er das gierige Schmatzen und Schlürfen hörte, als der Alte den Eimer in den Futtertrog leerte. Die Tiere stritten sich um die gammligen Überreste, schrien und quietschten in namenloser Angst, zu kurz zu kommen. Vincent sah von der Tür aus ihre miteinander verschmelzenden Schatten, konnte jedoch nur die groben Umrisse der Tiere wahrnehmen. Der durchdringende Gestank von rohem Fleisch und frischen Fäkalien drohte ihm die Sinne zu rauben.
„Das Einzige, worauf ich am Anfang achten musste, war, dass sie sich nich gegenseitig fressen, aber … mittlerweile haben sie so was wie ne Rangordnung entwickelt. Das Recht des Stärkeren, un so … un nur die Starken haben überlebt.“
Lächelnd trat der Farmer in die Sonne und blickte über sein Ackerland. Den Eimer, von dem noch immer Rinnsale aus halb geronnenem Blut tropften, das in der Hitze der Sommersonne trocknete, stellte er neben die Stalltür.
„Noch ein paar Fütterungen und der Boden ist bereit, um nächstes Frühjahr wieder Früchte zu tragen.“
Das laute Schmatzen jenseits des Troges zog Vincent magisch an, mit jener unsäglichen und perversen Faszination, die Autofahrer dazu verleitet, ganz langsam an einer Unfallstelle vorüber zu fahren.
Hinter dem Pferch, wo der Stall sich zur Scheune hin öffnete, sah er die verrosteten Überreste einiger Kleinwagen und einen kastenförmigen Umriss, den er als Wohnmobil erkannte. Der bittere Nachgeschmack des Quellwassers schien stärker geworden zu sein und brennend heiß in seinen Adern zu pulsieren.
Fast unkontrolliert zitternd stützte Vincent sich an der eisernen Stalltür ab und spähte in den viereckigen, mit Schmutz und Kot bedeckten Pferch hinab, aus dem der Gestank und das abscheuliche Kreischen der fressenden Tiere drangen.
„Es geht nichts über Kot, wissen Sie? Aber die Art is wichtig“, setzte der Farmer seinen Vortrag fort. „Und ich hab alles probiert, das können Sie mir glauben!“
Vincent erkannte nackte, mit Schmutz verschmierte Körper, die sich in den Trog beugten und wie wild die Innereien verschlangen. Er erkannte Haare, Hände, Füße und Gesichter, entmenschlicht und stumpf, der wilden, hirnlosen Raserei ihres Hungers ausgeliefert. Fette, glänzende Bäuche und knochige, gebeugte Rücken. Aufgeblähte, an den Trog gekettete Körper, die den aufrechten Gang verlernt und sich vollkommen und unwiderruflich ihrer niedersten und rudimentärsten Wurzeln besonnen hatten.
„Aber nichts … absolut nichts …“, hörte Vincent noch, bevor ihm die Sinne schwanden und er zusammenbrach, „… geht über menschlichen Kot!“