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Achtzehn
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Achtzehn Jahre war sie jetzt. Ihren Geburtstag hatte Iris nicht gefeiert. Sie verstand nicht, was an ihm soviel besser sein sollte als an allen anderen. Insgeheim hatte sie vielleicht gehofft, dass es jemanden geben würde, der sie mit einer Feier überraschte, aber das hätte sie niemals zugegeben. Bisher hatte sie an jedem Geburtstag gefeiert. Der letzte hatte ihr nicht sonderlich gefallen. Die Kontakte zu ihren Gästen hatten sich auf Smalltalk beschränkt und gegen Ende waren die meisten sowieso kaum mehr ansprechbar gewesen. Sie wollte an ihrem Achtzehnten nicht das Gleiche erleben. Außerdem war da noch dieser Wunsch anders zu sein, als die anderen, etwas Besonderes zu sein. Sie wollte sich von der Masse abheben, indem sie gerade den, den sonst alle besonders ausgiebig feierten, einfach ignorierte.
Nun befand sie sich auf der Geburtstagsfeier einer Freundin. Vergangene Schulerlebnisse wurden in Erinnerung gerufen. Man lachte über ehemalige Lehrer und lästerte über unbeliebte Mitschüler.
Auf einmal beschlich Iris das Gefühl, schrecklich alt zu sein. Wann hatte sie das letzte Mal etwas wirklich Verrücktes unternommen? Wann hatte sie sich das letzte Mal so richtig ausgelassen und frei gefühlt? Sie kam sich total brav vor, wie sie so am Tisch saß, mit den anderen und über ihre Vergangenheit redete. Was war denn mit der Gegenwart? Oder der Zukunft? Sie verglich sich mit alten Leuten, die keine Zukunft mehr vor sich haben und nur glücklich sind, wenn sie über Vergangenes reden.
Das Gespräch der anderen wurde ausgelassen weitergeführt. Niemand bemerkte Iris’ geistige Abwesenheit. Was, wenn sie aufstünde, zur Tür hinausginge, die anderen zurückließe und heute Abend etwas Wildes unternehmen würde? Der Gedanke gefiel ihr sehr gut. Nun musste ihr nur noch etwas Wildes einfallen. Sich betrinken? Nein, das interessierte sie nicht sonderlich. Vielleicht war es wild, aber sie hatte keine Lust dazu. Sie fühlte sich besser, wenn sie nüchtern war. Sie wollte bei vollen Sinnen sein und so das Leben genießen. Was andere so spannend daran fanden, am Tag nach einer Party aufzuwachen, sich an nichts mehr zu erinnern und ihre begangenen Peinlichkeiten von den anderen erfahren zu müssen, konnte sie nicht nachvollziehen.
Außerdem hätte sie zum Trinken nicht gehen müssen, denn ihre Freunde würden auch bald den Alkohol auspacken.
Die Frage, ob sie sich einmal in ihrem Leben so richtig betrinken sollte, hatte sie sich schon sehr oft gestellt und war immer wieder zu der gleichen Antwort gelangt. Ihre Sehnsucht nach Wildheit und Freiheit wurde mit jeder Minute größer und schien ihr innerlich das Herz zu erdrücken. Sie lastete wie eine schwere Mauer auf ihrem Brustkorb.
Freiheit. Sie ließ sich dieses Wort in Gedanken auf der Zunge zergehen. Je älter sie wurde, desto unfreier fühlte sie sich. Sie durfte jetzt zwar so lange ausbleiben, wie sie wollte, aber das brachte sie nicht dazu sich frei zu fühlen. Es gab immer mehr Dinge, die ihre Gedanken in Besitz nahmen und sie daran hinderten, für kurze Zeit alles loszulassen. Da waren ihre privaten Sorgen um ihre eigene Zukunft. Welchen Beruf sollte sie erlernen? Sie hatte bis jetzt noch keine Entscheidung treffen können und ihre Zukunft kam ihr sehr ungewiss vor. Würde sie später glücklich sein?
Außerdem gab es da noch die restliche Welt mit ihren Kriegen, ihrer Armut, ihren Hungersnöten, ihren Menschenrechtsverletzungen, ihren Umweltverschmutzungen, ihrer Korruption, ihrer Machtgier,... Sie wusste, sie hätte diese Aufzählung noch endlos weiterführen können, ihr fehlte jetzt jedoch die Kraft dazu.
„Iris?"
Ihre geistige Abwesenheit war mit der Zeit wohl aufgefallen.
„Ja?“
„Willst du auch? Es ist was Neues.“
Nein, war sie doch nicht. Ihr wurde lediglich etwas Alkoholisches angeboten, dessen Namen sie sofort wieder vergaß.
„Nein, danke.“
„Ach komm’ schon, das vertreibt dir alle Sorgen. Es ist echt harmlos. Morgen wirst du nichts mehr davon spüren, aber heute Abend wird es dich glücklich machen.“
„Ich weiß nicht.“
„Wir haben auch alle schon davon getrunken. Schau dir doch mal die andern an.“
Iris warf einen Blick in die Runde. Ihre Freunde schienen alle fröhlich und ausgelassen. Sollte sie nicht auch mal? Aber halt! Was war mit ihrem Vorsatz, immer bei vollen Sinnen zu bleiben? Diese Sinne bereiteten ihr im Moment grausame seelische Schmerzen. Es konnte eigentlich nur noch besser werden.
„Von mir aus, was soll’s, ich trinke.“
Mit einem Zug leerte sie das Glas. Es schmeckte widerlich, aber ihr wurde sogleich wohlig warm und ihre Sorgen verflüchtigten sich. Ein Strom von angenehmen Bildern floss vor ihrem geistigen Auge dahin. Sie war entspannt. Sie dachte nicht mehr nach, sondern ließ sich treiben. In ihren Ohren, hallte noch ein lautes „Halt“, das immer leiser wurde, bis es ganz verstummte.
Sie kümmerte sich nicht darum. Sie hörte nicht mehr, wie gesagt wurde, dass sie nur einige Schlucke hätte nehmen sollen. Sie bekam nicht mit, dass sich in dem Glas noch härtere Dinge als Alkohol befanden. Sie bemerkte nichts von der Hysterie, die um sie herum entstand. Sie hörte auch nicht die Sirenen des Krankenwagens, der sie abholte. Als sie im nächsten Krankenhaus ankam, war sie tot.