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Acht Tage bis Weihnachten
Acht Tage bis Weihnachten.
Im Regen hatte ich den Weihnachtsbaumverkäufer fast zu Verzweiflung getrieben und dann – nach gefühlten drei Stunden – einen der Bäume gekauft. Er war nicht perfekt aber so nah dran, wie man es für 25 Euro erwarten konnte.
Sieben Tage bis Weihnachten.
Ich hatte den ganzen Tag gearbeitet und den Baum vollkommen vergessen, bis ich im Dunkeln das Schüsselloch suchte und mich in Tannenzweigen wieder fand. Ich schob einige nasse Äste zur Seite und öffnete vorsichtig die Tür. Meine Tasche schmiss ich mit der einer Hand auf die Treppe, während ich mit der Zweiten den Baum in Balance – und vor allem – vor der Tür hielt. Nachdem ich meine Pumps in den Flur geschleudert hatte, packte ich die Tanne mit beiden Händen und zog sie durch den Flur bis an die Wand gegenüber der Tür.
Als ich die Tür schloss prasselten schon wieder die ersten Regentropfen gegen das Vordach.
Sechs Tage bis Weihnachten.
Abends holte ich den Christbaumständer und die Kugeln vom Dachboden und richtete den Baum in meinem Wohnzimmer zu seiner vollen Größe auf.
Im Hintergrund spielte die Weihnachts-CD, die ich jedes Jahr wieder aus der hintersten Ecke kramte. Die letzten Zeilen von Let it Snow verklangen gerade, als ich die Spitze auf die Tanne setzte und vom Stuhl stieg. Dieses Jahr würde perfekt werden.
Fünf Tage bis Weihnachten.
Heute war der erste Tag meines zweiwöchigen Urlaubs und für heute stand backen auf dem Programm.
Marzipan-Marmor-Plätzchen, Kokos-Makronen, Erdnuss-Cookies und einfache Ausstech-Plätzchen (mit echten Vanille-Schoten), sollten es werden. Als ich das letzte Blech aus dem Ofen zog, klingelte es an der Tür. Ich streifte die Handschuhe ab und wischte mir mit einer Hand eine Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte aus dem Gesicht.
Mir einem Grinsen öffnete ich die Tür.
„Ich dachte ich schau mal…“ Sie schaute mich verwirrt an: „Was ist denn mit dir passiert?“
Ich trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn an mir vorbei in die Wohnung. Franziska war eine meine beste Freundin.
Während sie dem Duft von frisch gebackenen Keksen in die Küche folgte, schaute ich in den Spiegel und verstand nun, was sie gemeint hatte: Neben Mehl und Kakao klebte etwas Schokolade in meinem Gesicht. Ich sah aus, als hätte ich mir einen erbitterten Kampf mit einem Konditor geliefert und - ganz eindeutig - verloren.
„Du kannst backen?“
Ich zog eine Augenbraue hoch und sah zu, wie sie misstrauisch einen der Marzipan-Marmor-Kekse musterte.
„Ich hoffe es. Sonst hätte ich fünf Stunden vollkommen umsonst in der Küche verbracht.“
Sie drehte sich lachend zu mir um und schüttelte den Kopf: „Umsonst mit Sicherheit nicht, um das Chaos wieder in Ordnung zu bringen wirst du eine Ewigkeit brauchen oder eine gute Reinigungsfirma.“
Ich sah mich in meiner kleinen Küche um und zuckte mit den Schultern: „Zu zweit geht das bestimmt ganz schnell.“
Vier Tage bis Weihnachten.
An diesem Morgen weckte mich mein Nachbar mit dem unvergleichlichen Geräusch des Eiskratzers, aus meinen vorweihnachtlichen Träumen.
Knurrend drehte ich mich auf die andere Seite. Doch – wie immer, wenn man frei hat – kam der Schlaf nicht zurück zu mir. Also schlug ich schon um halb Acht meine Beine aus dem Bett und huschte nach unten, um Kaffee aufzusetzen. Während sich der Duft von frischem Kaffee mit dem Tannengeruch vermischte, nahm ich eine schnelle Dusche. Ich trank gerade den ersten Schluck und blickte gedankenverloren aus dem Fenster, da bemerkte ich, dass es geschneit hatte. Mit großen Augen starrte ich aus dem Fenster und freute mich wie ein Kind über das Weiß, dass die Mülltonnen, Autos und Vordächer überzog.
Drei Tage bis Weihnachten.
Ente
Hähnchen (möglichst ohne Innereien)
Kartoffeln (rot)
Rotkohl
Erbsen
Karotten
Salat (Feldsalat)
Zwiebeln
Wein
Cola
Bier
Sekt
Eis
Krischen
Servietten
Kerzen
Orangen
Blumen
Ich brauchte drei Stunden und zwei Kaffeepausen, um alle Punkte auf meiner Einkaufsliste abzuarbeiten und weitere 20 Minuten an der Schlange der Reinigung, bis ich das dunkelrote Kleid – in einem dieser Plastiksäcke – über der Schulter trug.
Zuhause angekommen verstaute ich die Einkäufe und ließ mich auf die Couch fallen, wo ich wenige Minuten später einschlief.
Ich wachte vom Klingeln des Telefons auf.
„Markt?“, meldete ich mich und schaute auf die Uhr – Sieben. Ich hatte zwei Stunde geschlafen.
„Hey Süße. Hab ich dich geweckt?“
Die Stimme meines Vaters klang besorgt.
„Nein. Bin nur etwas kaputt vom einkaufen. Was gibt’s?“, fragte ich und setzte mich auf.
„Sag mal, wäre es schlimm, wenn ich erst am zweiten Weihnachtstag kommen würde? Sandra würde es so viel bedeuten, wenn wir bei ihrer Familie Heiligabend verbringen würden.“
Obwohl er mich nicht sehen konnte versuchte ich krampfhaft zu lächeln.
„Kein Problem. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.“
„Ich wusste, du würdest das verstehen. Ich hab dich lieb Schatz. Wir sehen uns dann am 26ten.“
Als er aufgelegt hatte ließ ich mich zurück auf das Sofa fallen und starrte in die Lichter des Weihnachtsbaumes. Sandra war ein Jahr jünger als ich und seit drei Monaten mit meinem Vater zusammen. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er mich wegen einer Blondine mit drei Gehirnzellen versetzt hatte, dass sie jünger war als ich war nur ein Extra.
Aber davon würde ich mir meine Weihnachtsstimmung nicht vermiesen lassen. Würde er eben nicht kommen.
Zwei Tage bis Weihnachten.
Wie besprochen hatte mir Franziska dabei geholfen die Girlanden im Haus aufzuhängen und draußen die Lichterketten anzuschließen. Es wurde schon dunkel, als wir ins Haus zurückkehrten und den Kaffee tranken, den ich vor einer Stunde gekocht hatte.
„Wie wär‘s mit einem Film und was vom Chinesen?“, fragte sie und schaute mich über ihre Tasse hinweg an.
Ich nickte, stand auf und holte das Telefon sowie den Speiseplan des Chinesen, bei dem wir immer bestellten. Ente süß-sauer für sie, Saté-Spieße und Curry für mich.
Zeitgleich mit unserem Essen kam auch Franziska von der Videothek zurück. Mit vier Dosen Bier, dem Essen und zwei Horrorfilmen zogen wir ins Wohnzimmer um. Doch schon nach einem der Filme fielen mir langsam die Augen zu.
Ein Tag bis Weihnachten.
Das Licht der bunten Lichterketten im Weihnachtbaum passte nicht zu der Helligkeit des Raumes. Als ich aufwachte fühlte ich mich merkwürdig entrückt. Eine Wolldecke lag über mir und eines der großen Kissen unter meinem Kopf. Auf dem kleinen Couchtisch lag ein Zettel: Solltest du’s dir doch noch anders überlegen, unsere Tür steht dir immer offen. –Franziska
Franziska hatte mich zu sich und ihrem Freund zum Weihnachtsessen eingeladen. Ich hatte abgelehnt, weil ich nach vier Jahren Weihnachtsabstinenz endlich mein eigenes Weihnachten feiern wollte.
Ich hatte die ganze Familie (ausgenommen meine Mutter) zu mir eingeladen, einen Baum gekauft, gebacken, Geschenke gekauft und Morgen würde ich das perfekte Essen kochen. Ich hatte sogar einige Kochstunden genommen, um sicherzugehen, dass ich nichts anbrennen lassen würde.
Am Abend saß ich in einem Haufen Geschenkpapier, Schleifen und Karten und packte die unzähligen Geschenke ein, die ich gekauft hatte. Danach legte ich sie unter den Baum und saß dann einfach nur da und schaute mir an, wie schön sie unter den dunklen Zweigen doch aussahen.
Weihnachten.
Nachdem ich mich einigermaßen in Stand gesetzt hatte, fing ich an die Kartoffeln und Karotten zu schälen, das Hähnchen und die Ente zu waschen und den Rotkohl klein zu schneiden. Während ich die Haut der Ente einschnitt und verschiedene Kräuter in die entstandenen Taschen drückte, spielte meine Weihnachts-CD Merry Little Christmas. Als beide Geflügeltiere im Ofen verschwunden waren, rührte ich den Teig für die Waffeln an, die es zusammen mit Eis und heißen Kirschen zum Nachtisch geben sollte.
Es war gerade drei Uhr, als ich anfing den Tisch im Esszimmer, an den – dank der Ausziehfunktion – nun 12 Leute Platz hatten, zu decken. Da mein Vater und seine Freundin nicht kommen würden, würden alle an den Tisch passen. Neben dem großen Adventskranz, den ich für heute abend gekauft hatte verteilte ich noch einige Goldsterne und Tannenzweige auf der Tischdecke. Zufrieden mit meinem Werk griff ich gerade nach der letzten Gabel, als das Telefon klingelte.
„Ja?“
„Hallo Lena.“, hörte ich am anderen Ende der Leitung meine kleine Cousine Susie, die für mich immer wie eine kleine Schwester gewesen war.
„Hi Süße. Seid ihr schon auf dem Weg zu mir?“
Sie wollte zusammen mit ihrer Mutter und deren Freund aus Berlin kommen.
„Genau deswegen rufe ich an. Wir können leider nicht kommen. Es tut mir so Leid.“
Ich legte die Gabel zur Seite und setzte mich auf einen der Stühle, die ich mir von einem Partyservice geliehen hatte.
„Ist irgendwas passiert?“
Sie schwieg einen Augenblick und ich ahnte schlimmes – Meine Mutter.
„Es geht einfach nicht. Es tut mir Leid.“ Dann legte sie auf.
Sie hatte immer zwischen den Stühlen gesessen. Ich war wie eine Schwester und meine Mutter ihre Patentante.
Es dauerte keine fünf Minuten, da klingelte das Telefon ein zweites Mal. Ich atmete erleichtert durch: „Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Im ersten Moment habe ich dir tatsächlich geglaubt.“, sagte ich und lachte.
„Lena…“ Das Lachen blieb mir im Hals stecken. Das war nicht Susie, sondern Kathrin, eine meiner anderen Tanten.
„Du wirst nicht kommen oder?“, fragte ich bevor sie etwas sagen konnte.
„Tut mir Leid. Henry, Karl, Andrea und ich werden in Berlin bleiben“
„Werden Hanna, Gerold und Anna kommen?“ Hanna war meine dritte Tante und Gerold und Anna ihre Kinder.
„Ich fürchte wir schaffen es dieses Jahr nicht zu dir.“
Ich lächelte schwach und nickte dann.
„Ihr feiert mit ihr zusammen.“
„Sie ist unsere Schwester.“, erwiderte sie und ich hörte Stimmen im Hintergrund. Vielleicht feierten sie schon. Aßen zusammen und lachten ohne mich. Wie sie es all die Jahre nach meinem Auszug getan hatten. Davor hatten wir uns an den Feiertagen immer nur gestritten. Jedes Jahr hatte ich versucht zu schlichten, hatte mein bestes gegeben alle an einem Tisch zu versammeln. Ich hatte es nie geschafft. Nie war ein Weihnachten harmonisch verlaufen. Und jetzt, nachdem ich – die einzige, der Weihnachten etwas bedeutet hatte – nicht mehr da war, war Weihnachten harmonischer und friedlicher denn je.
„Und ich bin eure Nichte.“, erwiderte ich schließlich doch ich wusste aus der Vergangenheit, dass das nichts ändern würde. Egal wie viel ich durchgemacht hatte, meine Mutter war Teil der Familie und ich nicht. Egal, was sie getan hatte, ihr wurde vergeben und ich wurde dafür bestraft, dass ich mich geweigert hatte das Spiel weiterhin mitzuspielen
„Ich muss jetzt Schluss machen. Es tut mir Leid.“
Dann herrschte Stille, bis das rhythmische Tuten der toten Leitung einsetzte.
Ich legte das Telefon auf den Esstisch und ging in die Küche. Dort öffnete ich den Backofen, zog die Topflappen-Handschuhe über und zog einen Vogel nach dem anderen heraus. Dann öffnete ich die Mülltonne und schmiss sie samt Bräter, die ich extra für den heutigen Abend gekauft hatte, in den Müll.
Der Ente und dem Hähnchen folgten die Kartoffeln, der Rotkohl, die frischen Erbsen, die Karotten, der Waffelteig, die Kirschen und sogar das Sahneeis.
Ich war gerade dabei die Weinflaschen in den Ausguss zu gießen, da klingelt das Telefon ein drittes Mal.
Mein Magen zog sich vor Wut und Trauer zusammen.
„Markt.“
„Hallo Lena.“ Ich hatte die Stimme meiner Mutter seit sechs Jahren nicht mehr gehört und im ersten Moment war ich mir nicht mal sicher, ob sie es war.
Doch als sie sich Räusperte kamen all die Erinnerungen an die früheren Weihnachten meiner Kindheit und an sie zurück.
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Was willst du?“
„Ich wollte dir frohe Weihnachten wünschen.“, antwortete sie.
Ich ließ mich, in dem weinroten Kleid, an der Küchenzeile herunter auf den Boden rutschen, weil ich den Geruch des Alkohols nicht mehr ertragen konnte.
In meinen Augen brannten die Tränen, die ich mich weigerte zu zeigen - weder ihr noch mir selbst.
Ich schwieg und hörte sie atmen, wie ich es sooft getan hatte, wenn ich mich gefragt hatte, ob sie noch lebt.
„Ich dachte, dass vielleicht nach all den Jahren die Möglichkeit bestünde…“
„Dass was?“, schrie ich fast ins Telefon. „Dass ich dir verzeihe?“
„Ich bin jetzt trocken. Ich hab seit über vier Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.“
Ich fragte mich, wie oft ich ihr diese Worte geglaubt hatte oder sie hatte glauben wollen.
Ich konnte mich noch gut an das letzte Weihnachten mit ihr erinnern. Ich war 18 gewesen und sie war mit der Zigarette in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen.
Ich hatte in meinem Zimmer geweint, bis sie an die Tür geklopft hatte und mir, mit einem Säuseln in der Stimme gesagt hatte, dass ich mich bald fertig machen müsse. Ich konnte mich noch an die fettigen Strähnen erinnern, die ihr ins Gesicht hingen und an das XL-T-Shirt auf dem ein großer dunkler Fleck war. Ich hatte mir die Tränen weggewischt und hatte solange gewartet, bis ich die Dusche gehört hatte. Dann war ich in die Stube geschlichen. Ich hatte nach dem neuen Brandloch im Teppich getastet und den Tannenbaum angestarrt. Er war das einzige, was perfekt war an diesem Weihnachten. Die Lichter hatten mich in ihren Bann gezogen, bis sie hinter mir gestanden und eine Hand auf meine Schulter gelegt hatte.
Noch heute konnte ich manchmal diese Berührung spüren. Und noch heute hatte ich danach immer das Bedürfnis mich zu waschen. Drei Wochen später war ich zu meinem Vater gezogen. Danach hatte ich sie nur noch einmal gesehen. Damals war ich 20 gewesen. Ich hatte ihr an diesem Tag gesagt, dass ich sie nie wieder sehen oder sprechen wolle, dass sie sich ab jetzt und für immer aus meinem Leben heraushalten solle.
Und jetzt, nach sechs Jahren, nachdem ich all das hinter mir gelassen hatte, war ich kurz davor wie an jenem Weihnachtsabend zu weinen.
„Ich kann es nicht.“, mit diesen Worten legte ich auf.
Tränen liefen über meine Wange. Niemand würde kommen. Sie waren bei ihr und ich war allein – so, wie es immer gewesen war.