Ach, Adam
Langsamen Schrittes schlendert sie über den Marktplatz, wo um 11Uhr noch kaum ein Mensch unterwegs ist. Gerade hat sie den kleinen zur Kinderkrippe gebracht und während sie am Gemüsestand den letzten Einkauf für das bevorstehende Mittagessen tätigt überlegt sie, dass es wohl langsam Zeit wird, Ingo für den Kindergarten anzumelden.
Zufrieden zahlt sie die frischen Tomaten und malt sich aus, wie sie in wenigen Stunden in der Küche routierend ein leckeres Mittagessen für ihre beiden Lieben zaubert und gerade als sie dem Essen die letzte Würze, durch das eigens aus dem letzten Italienurlaub mitgebrachte Oregano gibt, hört sie auch schon den Schlüssel in der Haustür und kurz darauf den Ruf ihres Namens. "Katharina." Dann ein kommentar über den köstlichen Duft des Essens, die Tür geht auf, Julian kommt auf sie zu, lächelt, entschuldigt sich kurz für die Verspätung, "Weisst du, es gab wieder Stress im Büro." Sanft küsst er sie auf die Stirn und geht während weiterer Ausführungen seines Arbeitstags ins Wohnzimmer, um dem kleinen durch seine dünnen, blonden Haare zu streichen.
"Das wird schön", denkt sie.
Mittlerweile an der Einkaufspassage angekommen, schaut sie in das ein oder andere Geschäft. Ziemlich warm für die Jahreszeit und besonders für die Uhrzeit. Sie zieht ihren längst aus der Mode gekommenen grünen Wollpullover aus, der ihr als Jackenersatz dient, und bindet ihn sich um die taille. Bestimmt 10 Jahre ist dieser schon alt, doch die vielen Erinnerungen, die sie mit ihm verbindet, hindern sie immer wieder daran, sich von ihm zu trennen.
Sie sieht Bilder vor sich: Sie, als Studentin am Lagerfeuer in Holland. Die langen Ärmel ihres grünen Wollpullovers reichen bis an die mit Wein gefüllte Tasse, die sie in den Händen hält. Ihr Kopf lehnt an Adams Schultern.
Sie sieht Adam, den nassen grünen Wollpullover aus dem Wäschekorb nehem, um ihn auf dem Dach ihrer alten Wohnung zum trocknen in die Sonne zu hängen.
Als er sich streckt, um den Pullover an der Wäscheleine zu befestigen, rutscht sein T-Shirt hoch, so dass sie seinen Bauchnabel sehen kann.
Jetzt sitzt sie in ihrem grünen Wollpullover am Schreibtisch um für ihr Examen zu lernen. Adam steht hinter ihr und spinkst ihr über die Schulter. Er bückt sich ein wenig, so dass sein Kinn für wenige Sekunden auf ihrem Kopf liegt.
Sie sieht sich auf dem Sofa sitzen, im grünen Wollpullover wartend, gerade vom Arztbesuch zurückgekehrt. Ein beruhigendes Gefühl macht sich in ihr breit. Sie weiss, jetzt kann sie ihn halten, ihm die Angst nehmen.
Sie wartet. Sie wartet eine Stunde, zwei Stunden, sie wartet die ganze Nacht, sie weint, wischt sich den Rotz mit dem Ärmel ihres grünen Wollpullovers ab.
"Oh Gott, 3 Jahre ist das schon her", sie schüttelt den Kopf und merkt, dass sie stehengeblieben ist.
"Tee", denkt sie und steuert auf das nächste Cafe zu.
"Oh Gott", denkt sie erneut:"Adam."
Obwohl er mit dem Rücken zu ihr sitzt und das Schaufenster durch die Spiegelung nicht so leicht zu durchschauen ist, erkennt sie ihn sofort. Adam in seiner gekrümmten Haltung am Tisch.
Als die Shreckenssekunde vorbei ist, beschliesst sie, hinein zu gehen. Sie öffnet die Tür des Cafes und geht auf den Tisch, an dem Adam sitzt, zu.
"Adam," er hebt den Kopf, blickt sie an. "Katharina." haucht er mehr als er es spricht, dann mit etwas gefestigterer Stimme:"Katharina."
Nach einem kurzen Augenblick fängt er sich ein wenig und rückt ihr, jedoch immer noch recht unbeholfen, den Stuhl zurecht.
Während der Kellner zu ihrem Tisch eilt, um die Bestellung entgegen zu nehmen, betrachtet er sie. Sie sitzen sich schweigend gegenüber, bis er sich nach einiger Zeit räuspert und eine geradere Haltung einnimmt. "Katharina, ich hatte Angst, Ich hatte einfach Angst. Ich weiss nicht, ob du das verstehen kannst..."
Sie kann es verstehen, aber sie bekommt kein Wort heraus. Ohne ihm in die Augen zu sehen nimmt sie den Tee in die Hand, den der Kellner gebracht hat. Er hat sich kaum verändert. Seine schulterlangen Harre sind immer noch zu einem dicken Zopf zusammengebunden und geben den Blick auf seine grünen Augen frei, die von seinen sichelförmigen Brauen umrandet sind. Sie merkt, dass sie ihn anstarrt und wendet sich abrupt ab.
"Was ist los?" flüstert er schüchtern. Sie weiss es nicht, doch langsam verspürt sie ein Gefühl der Erleichterung in sich. "Adam, ich muss gehen." Sie setzt die Tasse ab und lächelt ihn an. "Warte bitte... können wir uns nicht nochmal sehen?"
Wie lange hatte sie auf diese Worte gewartet? Drei lange Jahre...! Langsam erhebt sie sich und nimmt den letzten Schluck aus ihrer Tasse. "Adam, ich muss nach Hause, mein Kind wartet auf sein Essen." "Dein Kind?" Lächelnd legt sie Geld auf den Tisch un rückt den Stuhl zurecht. "Mach's gut, Adam." Verwirrt beobachtet er sie, wie sie die Tür ansteuert.
Die Sonne scheint, als sie das Cafe verlässt und neben dem Eingang erblickt sie einen Obdachlosen, der ihr bittend die Hand entgegenstreckt. Ohne zu überlegen bindet sie sich den grünen Wollpullover los und drückt ihn dem Obdachlosen in die Hand, verdutzt bedankt dieser sich und Katharina macht sich auf den Weg nach Hause.