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Abysstos Heimsuchung
(Wörter: 4442)
Bitterer Rauchgeschmack betäubte meine Zunge, Rauch brannte in meinen Augen und meiner Nase, sogar auf meiner Haut schien sich Rauch abgesetzt zu haben, trocken wie toter Staub. Durch eine Welt von Rauch stolperte ich vorwärts, weiter und weiter. Vielleicht erhellte der Rauchschleier vor meinen Augen und verdunkelte kurz darauf wieder zusammen mit dem Auf- und Untergehen der Sonne, aber das wusste ich nicht. Es spielte keine Rolle, ob ich Stunden durch meine Rauchwelt taumelte oder Jahre. Zeit war bedeutungslos geworden. Nichts mehr bedeutete mir etwas, selbst der Schmerz wurde zu einem ewigen, gleichgültigen Begleiter meiner Reise. Er war da, verließ mich nicht mehr.
Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Um mich herum ein Wald. Wusste nicht, wo ich war, aber ich musste weit gelaufen sein. Stunden oder Jahre? Hauptsache weit weg von dem Rauch und dem Abgrund, den ich zurück ließ, mein Schlachtfeld. Mein Zuhause. Nun hatte ich keins mehr, auch keine Freunde, die hatte ich nie. Wusste nicht wohin, denn es gab nichts mehr zu tun, seit sie alle fort waren. Frieden, Ruhe. Ich wollte sterben und wusste doch, dass ich es nicht mehr konnte, seit es mir einmal gelungen war. Nie mehr konnte ich es, denn ich war Abyssto und verfügte über die Macht, die einst eine ganze Stadt tyrannisierte. Sie bedeutete mir ebenfalls nichts. Wenn ich schon nicht sterben konnte, wollte ich wenigstens Ruhe und Frieden, jetzt sofort und für immer.
Ein hübsches Plätzchen in der Nähe lockte mich und ich legte mich ins Moos, breitete die Arme aus. Ein paar Stöckchen piekten mich, die ich beiseite schob. Über mir zwischen den Wipfeln erstreckte sich der unendliche Raum, tausende Welten, die angenehmer waren als meine, mit weniger Schmerzen und mehr Licht. Ich war mächtig und unsterblich, vielleicht konnte ich sie besuchen, alle nacheinander. Doch ich fürchtete die Enttäuschung, dass die Wesen dort genauso schlecht waren wie hier. Dann müsste ich auch sie alle vernichten, diese herrlichen Glitzerpunkte, die nur aus dieser Ferne meine Augen erfreuten. Müde war ich, verlangte nichts weiter vom Universum, keine Freude, keine Hoffnung. Nur ewige Ruhe bis ans Ende der Zeit.
Ich stellte mir vor, wie ich im Moos versank, wie Teile von mir in den Boden sickerten, als wäre ich selbst Moos. Ich nahm Wasser und Nährstoffe aus dem Boden auf. Kleines Getier krabbelte auf mir herum und durch mich hindurch. Anfangs störte es und kitzelte mich, später wurde es ein Teil von mir und meiner Erfüllung. Mein Körper ragte kaum noch aus dem Moos hervor, dafür spürte ich alles weit darunter. Ich nahm Würmer und Käfer wahr, die sich durch ein Labyrinth aus Wurzeln bewegten, ohne Schwierigkeiten, als hätten sie Karten im Kopf, die mit den Wurzeln wuchsen und stets den richtigen Weg wiesen. Die Wurzeln waren unendlich verworren und von verschiedener Art in Farbe, Dicke, Festigkeit und Wachstum. Ich griff mir einige der zarten Triebspitzen heraus, tastete mich an ihnen über Zweige und Verästelungen entlang, weiter und weiter, dicker und dicker, bis ich die zugehören Tannen erreichte und ich kroch noch weiter, bis das Holz wieder dünner wurde und ich die höchsten Zweige und Nadelspitzen erreichte. Von hier konnte ich diffus den Wald überblicken, ganz grau und verschwommen wie durch Rauch, doch ich nahm mehr wahr, als ich sah. Millionen kleiner Wesen spürte ich um mich herum, in der Luft, im Boden, in den Tannen, ohne einen von ihnen herausgreifen und identifizieren zu können, denn für mich existierten sie nur zusammen wie eine Wolke von Leben, in der ein einzelnes Wassertröpfchen ohne Bedeutung war, aber zusammen waren sie alles.
Größere Wesen nahm ich einzeln wahr, einen Specht, der in die Rinde gekrallt nach Holzwürmern pickte, ein Eichhörnchen, das flink herumkletterte. In der Nähe schlummerte eine Dachsfamilie in einer Erdhöhle. Eine Blindschleiche kroch übers Moos. In der Ferne spürte ich sogar ein Reh, das an einem Busch knabberte und ständig die Ohren in alle Richtungen drehte, als könnte es mich bemerken. Aber das konnte es nicht, weil ich nichts Fremdes mehr war, sondern eins mit dem Wald.
Ich war der Wald. Als Tanne warf ich eine einzelne, trockene Nadel ab, die mich juckte. Als Hase erschnupperte ich Löwenzahn auf einer Lichtung und stillte meinen Hunger. Die Wurzeln des Springkrauts stillten meinen Durst. All dies war ich. All dies erfüllte mich, während ich alles erfüllte. So wollte ich existieren, bis in alle Zeit, wollte Wind und Regen spüren, wollte zur Ruhe kommen, wenn im Herbst die Blätter fielen und erleben, wie sich im Frühling das Leben erneuerte, immer wieder, ein Prozess, der mich nicht betraf, dem ich aber auf diesem Wege beiwohnen konnte. Er stärkte auch mich, denn nun wuchs ich mit dem Wald. Ich war die Tiere und Pflanzen um mich herum, bis zu jeder Bakterie, auch wenn ich diese kleinsten Wesen nicht einzeln wahrnahm. Alles zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Kein neuer Spross, kein schlüpfendes Vogelküken blieb mir verborgen, ich wusste wo die Pilze wuchsen und wo zarte Blattlausherden von Ameisen gemolken wurden.
Immer öfter bemerkte ich große Tiere in der Ferne, die mir seltsam vertraut vorkamen, doch etwas in mir sträubte sich dagegen, sie genauer anzusehen. Vermutlich waren sie unwichtig, sie streiften nur in der Ferne vorbei. Aber jedes Mal kamen sie näher. Ich bemerkte, dass sie störten. Sie scheuchten Hasen und Rehe auf, zertraten Insekten unter ihren breiten Füßen und liefen herum ohne Rücksicht auf die Pflanzen, die sie knickten oder die Pilze, die sie zertraten. Und sie machten Lärm, gaben ständig Geräusche von sich und schrien. Ich begann, sie zu verabscheuen, wollte dass sie verschwanden. Aber mein Frieden war mir kostbar, deshalb blieb ich still und hoffte, dass sie von selbst verschwanden.
Doch noch immer kamen sie näher und eines Tages erreichten sie den innersten Kreis um mich herum. Als eines von ihnen einen grünen Zweig knickte, ließ mich der Schmerz erstarren. Die weiche Rinde war zäh und hielt stand, so wurde der Zweig hin und her geknickt und umgedreht, auf dass er endlich nachgäbe. Der Schmerz durchströmte mich, ließ mich erkennen, wer ich war und wo. Er teilte mir mit, dass ich lebte und holte mich in die Realität zurück.
Der Rauch verschwand, ich lag wieder hier, starrte diesmal zu weißen Wolken empor, die zwischen den Wipfeln vor mir hingen. Das Loch war viel kleiner als letztes Mal, als ich dort die Sterne betrachtete. Dichter, sie versperrten mir die Sicht auf den unendlichen Raum, umhüllten diese Welt, die auf ewig meine sein würde, sperrten mich hier ein. Ich wollte sie dafür hassen.
Langsam erhob ich mich, doch mit einer Leichtigkeit, als hätte ich mich eben niedergelegt und nicht vor endloser Zeit. Mein Blick streifte das ausgefranste Loch in einer Tanne, wo bis eben noch ein Zweig wuchs und ich vermeinte, immer noch den Schmerz dieser brennenden Wunde zu fühlen, spürte förmlich, wie sich Pilzsporen dort niederließen, sich in das junge Holz gruben und es verfaulen ließen, sterben. Sterben.
Ein kleiner Junge hielt den verdammten Zweig in der Hand und kitzelte ein kleines Mädchen, das obgleich nur leicht berührt wurde, laut aufkreischte.
"Hör auf damit, hör auf hab ich gesagt!", rief es verärgert, doch der Junge grinste und fuhr scherzend fort. Wieder kreischte das Mädchen, dass es mir durch Mark und Bein zog, endlich drehte sich die Frau zu den beiden um.
"Hör doch damit auf, wenn sie schon sagt, dass du aufhören sollst. Musst du sie immer zum Schreien bringen?"
Enttäuscht warf der Junge den Zweig weg. "Die schauspielert doch nur. Und du fällst wieder drauf rein ..."
Nun hob das Mädchen den weggeworfenen Zweig auf und begann seinerseits den Jungen zu necken.
"Mensch, lass das", nörgelte er, ohne dass dem eine Reaktion folgte. "Siehst du, du hörst auch nicht, wenn ich was sage!"
Wütend schubste er das Mädchen, das auf dem Hintern landete und losheulte wie die Feuerwehrsirenen am letzten Tag von Abyssto.
Wieder schimpfte die Frau mit dem Jungen, verstummte kurz, als sie mich endlich bemerkte und schloss leicht verschämt mit einem "benimm dich!" ab.
Ohne auf das Mädchen zu achten gingen sie weiter, das nun aufstand und ihnen hinterherlief, als wäre nichts gewesen.
Ich sah ihnen nach, sah dem Augenblick hinterher, in dem ich die kleine Familie ansprechen und ihnen die Meinung hätte sagen können. Doch in mir wusste ich, dass Menschen verabscheuungswürdig waren, alle miteinander. Sollte ich ihnen sagen, dass sie egoistisch waren und alles außer sich missachteten, würden sie mich verwundert fragen, warum ich mich wegen eines kleinen Zweigs aufregte. Und selbst wenn sie mich verstanden, würde es doch nichts ändern, dann kämen andere. Alle würden sie Zweige knicken, Pilze zertreten und Bäume fällen. Sie hatten meine Ruhe gestört und würden wiederkehren mit ihrem Lärm und Schmerzen bringen. Nie könnte ich für längere Zeit in Frieden existieren wie bisher, solange es Menschen gab. Ich hasste sie. Ich sollte sie alle umbringen, so wie schon einmal. Könnte ich sie nur alle vernichten, dann wäre die Welt mein ewiges Paradies. Doch vielleicht würden mir diese drei vorerst genügen.
Langsam streckte ich mich, ließ mein Bewusstsein herausfließen wie einst im Moos, doch die Wesen stießen mich fort wie einen Fremdkörper, als hätte ich sie nicht beobachtet und bewacht und Geheimnisse mit ihnen geteilt für so lange. War herausgerissen worden aus meiner Ruhe, meiner tiefen Erfüllung im Schoß des Lebens, durchtrennt die Nabelschnur, die mich an die Erde band. Verstoßen und vergessen als wäre ich ein Parasit, dabei gedieh alles in meiner Nähe besser als jemals zuvor. Verachtete mich der Wald nun genauso, wie die Menschen es taten?
Doch nein, es war anders. So wie ich zuvor den Wald begriff, so begriff er nun mich, fühlte sich in mich hinein. Spürte meine Absicht. Und die Pflanzen ernährten sich von Licht und Wasser, waren friedlich und wollten nicht töten.
So zerfloss ich ohne mich erneut mit dem Wald zu verbinden, als wäre ich eine Wolke, die zwischen den Stämmen schwebte. Zwischen vielen Stämmen. Und wieder sah ich alles, jeden Busch, jeden Ameisenhügel, jedes Vogelnest. Wieder wurde ich zu meiner Umgebung, jedoch ohne die frühere Einfühlung in diese, gleichzeitig löste sich meine Manifestation auf und wurde nicht fester als die Luft, die lebende Wesen atmen.
Gleich einem Windhauch bewegte ich mich in eine Richtung, gleich einem Luftzug, dann einer Böe, bevor ich mich zusammenzog und in meiner menschlichen Gestalt manifestierte, in der ich mich eingeschränkt fühlte, als trüge ich eine Augenbinde und die Hände auf den Rücken gebunden. Dafür war der Gesichtsausdruck der Frau einmalig, als ich plötzlich vor ihr stand.
Nach einem Moment der Erstarrung schaute sie hinter sich, als erwartete sie einen Doppelgänger von mir zu sehen oder überlegte, ob es einen kürzeren Weg als den gab, den sie gegangen war. Menschen waren so schrecklich berechenbar. Und gleichzeitig so grauenhaft unzuverlässig.
Die beiden Kinder hingegen sahen mich verwundert aus großen Augen an.
"Bin geflogen", teilte ich der Frau mit, auch wenn es vollkommen egal war, ob ich was zu ihnen sagte. Oder hoffte ich, sie würden mir einen Anreiz bieten, meinen Entschluss zu ändern? Das würde eh nie geschehen!
"Was wollen Sie denn?", fragte mich die Frau und schob die Kinder hinter sich, wie um sie zu schützen. Lächerlich.
"Sie haben zugelassen, dass Ihr Sohn zum Spaß einen Zweig abknickt."
Ich nahm an, dass es sich um eine Mutter und ihre Kinder handelte. Der sichtbare Altersunterschied ließ keinen anderen Schluss zu.
"Was kümmert Sie das? Der wächst doch wieder nach!"
Nun verärgert schob die Frau ihre Kinder von mir weg. "Kommt, wir gehen nach Hause."
Schon verschwanden sie hinter den Stämmen in Richtung des Tannenwäldchens.
"Nachwachsen, ja? Ihr schert euch doch einen Dreck um das, was um euch herum geschieht!", rief ich ihnen hinterher, merkte aber mit Schrecken, dass ich nun genauso wie sie Lärm machte und die Ruhe des Waldes störte. Die Vögel im Umkreis verstummten und blickten in meine Richtung, auf das Wesen, das bis vor Kurzem im Einklang mit ihnen allen lebte. Verfluchte Menschen, nun hatten sie auch mich vergiftet!
Schnell zerfloss ich wieder und eilte der Familie nach. Ich sollte es zu Ende bringen und mich beruhigen. Nur die Art, wie ich sie vernichten wollte, musste ich mir noch überlegen.
Damals in Abyssto hatten welche behauptet, all das Grauen, all der Schrecken wäre nur eingebildet gewesen, in Wahrheit hätten sich die Menschen gegenseitig umgebracht. Als bräuchten sie ihre Einbildung dazu.
Und wenn schon. Das war vor meinem Tod, bevor ich diese Macht erlangte, bevor ich mit diesem mysteriösen Höllengas in Kontakt kam, das angeblich Halluzinationen verursachte. Ich existierte, ich lebte, das sollte Beweis genug dafür sein, dass es mehr war. Und tot waren sie am Ende, ob sie es sich einbildeten, dass sie starben oder nicht. Das Resultat blieb das gleiche.
"Ihr sollt den Dreck sehen, um den ihr euch nicht schert. Bis zum Hals soll er euch stehen", murmelte ich vor mich hin.
Die Kinder schienen mich vergessen zu haben, denn sie liefen bereits unbekümmert voraus, während sich die Mutter nach jedem dritten Schritt umdrehte, als erwartete sie mich erneut zu sehen. In dem Versuch seinen schnelleren Bruder einzuholen, achtete das Mädchen nicht auf den Weg und stolperte über einen abgebrochenen Ast. Der Junge lachte es kurz aus und lief außer Sicht.
Sein rechter Fuß durchstieß plötzlich die Blätterschicht und versank schnell bis zum Knie in weichem Schlamm. Mit Schwung zog er sein linkes Bein nach und suchte mit rudernden Armen nach Halt, als er bis zum Schritt versank.
"Mutti!", rief er überrascht, da er so schnell noch nicht begriff, was geschehen war. Dann schrie er panisch: "Mutti! Hilfe! Ich versinke!"
Sein Kreischen gellte durch den Wald, dass seine Mutter es vermutlich vom Waldrand aus gehört hätte. Sie kam zwischen den Bäumen herbeigelaufen und warf sich am Rand des Morastes auf die Knie, um den ausgestreckten Arm ihres Sohnes zu erreichen, der einen großen Schritt entfernt feststeckte. Wenn man aufmerksam schaute, konnte man die dunklere, flache Blätterebene, die den Schlamm bedeckte, sehr gut vom gewöhnlichen Waldboden unterscheiden.
"Bleib ganz ruhig, ich zieh dich da raus!"
Die Frau hatte den Arm des Jungen ergriffen, fand aber selbst nichts zum Festhalten, gegen das sie sich stemmen konnte. Glücklicherweise hatte der Junge keinen Schwung mehr und versank nur langsam. Aber das ließ sich ändern ...
Ebenfalls tauchte das Mädchen auf, starrte erschrocken auf seinen Bruder und eilte seiner Mutter zur Hilfe. Schnell merkte es, dass es zu klein war um den Arm des Jungen zu erreichen und zog stattdessen am Arm der Mutter, wo es sie eher behinderte als ihr half. Aber die Frau achtete sowieso nur auf ihre Sohn und darauf, ihn langsam herauszuziehen.
"Mutti!", schrie er plötzlich. "Mutti, jemand greift nach meinem Knöchel und zieht, Mutti! Mutti!"
Er versank schneller, doch die Frau war zu beschäftigt damit, ihn festzuhalten und selbst nicht reinzufallen, dass sie nicht auf den Schrei reagierte. Sie zog mit aller Kraft ohne sichtbares Resultat, doch selbst als sie ihm fast den Arm ausriss, erreichte sie nichts und schrie panisch irgendwas zurück.
Der Junge versank bis zur Hüfte, bis zur Taille, bis zur Brust. Sein Gesicht war vor Panik grausam verzerrt, als die Blätterschicht seine Schultern erreichte. Verzweifelt reckte er den Kopf zum Himmel, um seinen letzten Atemzug hinauszuzögern, doch obwohl allen Anwesenden klar sein musste, wie es endete, gab keiner seine Bemühungen auf. Selbst als der Kopf des Jungen untergetaucht war, zerrte die Frau weiterhin an seinem Arm und rief ihm zu, durchzuhalten.
Eine ganze Weile verging und erst nachdem sich das Mädchen heulend niedersetzte, begriff die Frau und brach schluchzend zusammen. Gleich darauf nahm sie das Mädchen in den Arm und da saßen sie beide zusammen weinend.
Ach diese dummen Menschen! Hatten sie etwa vergessen, dass sie anfangs aus dieser Richtung gekommen waren, als dort keine Schlammgrube lauerte? Wie töricht musste man sein, dass einem solche Veränderung nicht aufmerken ließ und man lieber schleunigst das Weite suchte! Aber nein, wir blieben sitzen und jammerten um die Brut, alles andere vergessend. Nun gut, ihr wollt es so. Ihr sollt ihn wiederhaben. Aber ob er euch dann noch gefällt?
Unbemerkt von den beiden zog sich die noch herausragende Hand in den Schlamm zurück. Was dort geschah würde kein Mensch je erfahren. Und was ich war wusste ich nicht, ein Mensch jedenfalls nicht mehr.
Die Blätterdecke raschelte. Schon schnellten zwei Arme nahe dem Rand heraus und stemmten sich auf dem festen Grund hoch. Die rechte Hand trug ein langes Messer, stark angerostet aber scharf genug.
Ich hielt es für möglich, dass ein Pilzsammler oder ein Wanderer so eines im Wald verlor, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine tief verwurzelte, gesunde Tanne plötzlich umkippte, was mein Ziel schneller erfüllt hätte. So musste es auch gehen.
Schon tauchte der schlammverschmierte Kopf auf und der Körper des Jungen kletterte heraus, so dreckig, dass man ihn nur an den Umrissen erkannte. Seine Ohren, seine Augen, seine Nase, alles triefte von Schlamm. Er konnte nichts sehen und nur dumpf hören, aber das machte nichts. Ich konnte für ihn sehen.
Unterdessen verstummten die anderen beiden. Mit rot verquollenen Augen versteckte sich das Mädchen hinter dem Rücken seiner Mutter und lugte vorsichtig hervor. Die Frau hatte erleichtert wie zur Begrüßung die Arme ausgebreitet, blieb aber unschlüssig an ihrem Platz. Mir schien es, sie übersah das Messer oder zog den Schluss nicht, der aus diesem folgen musste. Ich wollte den Kopf schütteln über so viel Naivität.
Der Junge legte das Messer auf dem Boden ab - niemand würde versuchen, es ihm wegzunehmen - und streifte sich den Schlamm von Gesicht und Armen ab, so gut es ging. Sie sollten sehen, dass er es wirklich war, wenn auch sein Blick so kalt wie Eis brannte. Mit diesem Blick fixierte er die Frau, nachdem er das Messer wieder aufgehoben hatte.
Immer noch unschlüssig, aber leicht eingeschüchtert war sie aufgestanden, wartete. "Du ... ist alles in Ordnung mit dir? Ich hatte solche Angst um dich. Lass uns nach Hause gehen, ja?"
Das Mädchen krallte sich in ihr Hosenbein.
"Mutti", flüsterte der Junge tonlos und trat wackelig einen Schritt vor. Der Kampf um sein Leben hatte ihn ausgelaugt. Hoffentlich konnte er seinen Zweck trotzdem erfüllen. Andererseits könnte ich mir gerade das zu Nutze machen.
"Mutti", flüsterte er wieder und ließ sich kraftlos zu Boden sinken. Sofort stürmte die Frau auf ihn zu, als wollte sie ihn auffangen und kniete sich vor ihm hin. "Ach, mein Armer ..." Sie hielt an den Schultern, damit er nicht umfiel, gleichzeitig sah es aus, als wollte sie ihn auf Abstand halten. Zurecht, meinte ich.
Schon schnellte das Messer hoch, ritzte über Bauch und Brust der Frau, bevor diese erschrocken zurücksprang. Leider war sie nur leicht verletzt.
Der Junge hob den Kopf und grinste hämisch, bevor er aufstand und auf sie zuwankte.
Das Mädchen kreischte auf.
Ich erwartete, dass spätestens jetzt die Frau den Ernst der Lage begreifen und zusammen mit dem Mädchen ihre zwei Beine in die Hand nehmen würde.
Doch sie trat auf den Jungen zu und schlug ihn mit der flachen Hand, dass er umfiel und das Messer in den Sumpf flog.
"Was fällt dir ein?", schrie sie unter Tränen. "Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und so dankst du es mir? Ich habe dich geboren und aufgezogen, hab mein Herzensblut für dich geopfert und dann so was? Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede!"
Hätte ich in diesem Moment einen menschlichen Körper besessen, hätte mir vor Staunen der Mund offen gestanden. Mit soviel Dummdreistigkeit hatte ich nicht gerechnet.
Der Junge wollte in den Sumpf zurück kriechen, um sich das Messer zurück zu holen, doch die zornige Frau zerrte ihn zurück und begann, ihm kräftig den Allerwertesten zu versohlen. Ihre Verletzung hatte sie bereits vergessen; der Blutfluss versiegte bereits.
Ich hätte besser dieses Teufelsweib zuerst in den Sumpf locken und sie auf die Blagen hetzen sollen!
"Warum machst du es mir so schwer?", flüsterte ich neben ihrem Ohr in den Wind.
Plötzlich hielt sie inne, ließ den Jungen langsam zu Boden fallen und schaute sich um. Ihr Zorn schien verflogen. "Wer ist da?"
Niemand war zu sehen, auch wenn meine Stimme deutlich erklungen war.
"Zeig dich, wo bist du?"
Direkt hinter ihr manifestierte ich mich mit dem weggeworfenen Messer in der Hand. Das Mädchen kreischte erneut und lief davon, vermutlich versteckte es sich und beobachtete uns. Anstatt alleine nach Hause zu laufen.
Von dem Schrei gewarnt fuhr die Frau herum, sah mir direkt in die Augen.
Ich hob das Messer.
"Sie schon wieder, was wollen Sie?", fauchte sie, machte aber angstvoll einen Schritt zurück und wäre fast über den Jungen gestolpert.
"So lange habe ich in Frieden in diesem Wald existiert, hab beobachtet und gelauscht und mich an jeder Kleinigkeit erfreut, manchmal hab ich eingegriffen, nur ein wenig, um das Gleichgewicht zu erhalten und das Wachstum um mich herum zu fördern. Doch dann seid ihr gekommen, habt die Ruhe gestört mit eurem Lärm, habt sinnlos zerstört, ohne euch um die Konsequenzen zu scheren. Als ich es euch sagen wollte, habt ihr nichts begriffen und ich erinnerte mich, warum ich euch Menschen abgrundtief hasse bis in alle Zeit. Ich würde euch alle vernichten, aber ihr seid wie ein widerwärtiges Geschwür, das nachwächst, so oft man es herausschneidet, und jeder Eingriff verschafft zumindest kurzzeitige Befriedigung. Und deshalb", ich rief den Jungen zu mir und reichte ihm das Messer, "bring es zu Ende."
Pflanzen waren friedlich, Pflanzen töteten nicht. Außer einigen, die sich von Insekten ernährten, doch die wussten es nicht besser. Aber ich sagte ihnen, dass ich den Boden bereichern würde, auf dem sie standen, würde ihn fruchtbarer und nahrhafter machen mit einer Substanz flüssiger als Harz und so rot wie wenige Blätter im Herbst, wenn sie mir halfen.
Ich ließ harte Brombeersträucher wachsen, mit spitzen Dornen dran, ließ sie wachsen zu den Füßen der Frau und ihre Knöchel umschlingen. Sie merkte es zu spät, kreischte erschrocken auf und wollte fliehen, stolperte aber und fiel mir zu Füßen.
Der Junge hob das Messer.
"Lass wenigstens meine Tochter leben!", flehte sie und ich spürte, wie das Mädchen in der Nähe aus seinem Versteck kroch und davonrannte. Braves, mutiges Mädchen, wenn auch etwas spät. Ich sollte ihr fairerweise einen Vorsprung lassen.
"Ich habe bisher nur einem Menschen das Leben geschenkt und bezweifle, dass er es verdient."
Nun löste ich mich auf und ließ Mutter und Sohn alleine. Den Rest schafften sie auch ohne mich.
Bestürzt merkte ich, dass ich das Mädchen verloren hatte. In welche Richtung war es geflohen? Vermutlich einen Bogen um den Sumpf und in die Richtung aus der die Familie zuvor kam, das machte Sinn. Oder gab es einen anderen Weg? Ich musste feststellen, dass mir die Ausmaße des Waldes nicht bekannt waren, noch weniger wusste ich über das Umfeld. Gab es Orte in der Nähe, eine Straße, einen See oder einen Picknickplatz? In all meiner Zeit hatte ich mich nicht darum gekümmert, hatte angenommen, der Wald wäre endlos wie mein Dasein, keine Menschenseele in der Nähe. Ich hatte mich getäuscht. Zu dumm. Und was gab es noch alles, das ich nicht wusste? Die Welt war so groß, die Welt war so klein. Das Mädchen hatte mein Gesicht gesehen. Es gab noch jemanden, der es kannte, der von mir wusste. Was, wenn sie sich begegneten, wenn er erfuhr, dass ich hier war? Er kannte meine Geschichte, wusste, wie ich zu dem geworden war, was ich war. Ich war unbesiegbar, unsterblich, ein Kind des Hasses, das mit den Gedanken des Menschengezüchts spielte und sie dazu brachte, sich gegenseitig abzuschlachten. Doch was geschah, wenn sie auf die Idee kämen, mich in einen Raum einzuschließen, ohne Tür und ohne Fenster, in den kein Lichtstrahl eindrang? Könnte ich mich daraus befreien?
Zum ersten Mal seit langem, seit jener Nacht während meines eigenen Menschenlebens, in der diese schwarze Gestalt in mein Haus eindrang und mich fortlockte, verspürte ich so etwas wie Angst. Ich durfte das Mädchen nicht entkommen lassen!
Hastig breitete ich mich aus, in alle Richtungen gleichzeitig, um nichts zu übersehen, pfeilschnell wie hundert Vögel. Zur selben Zeit warf ich einen Blick zurück auf das Geschehen, das ich kurz zuvor verließ.
Die Frau lag im Sterben, hatte nur noch wenige Augenblicke. Ihr Blut nährte den Waldboden, wie ich versprochen hatte.
Der Junge mit dem Messer versank im Sumpf, der sofort zu festem Waldboden erstarrte, als das Wasser in den Grund zurückfloss.
Sogleich entdeckte ich weit entfernt das Mädchen, das erstaunlich gut vorangekommen war. Seine Tränen waren getrocknet, jetzt zählte nur noch die Flucht. Kinder vergaßen leichter, konnten schneller loslassen. Ob es auch mich vergessen würde? Jedenfalls nicht schnell genug.
Ich wollte einen weiteren Sumpf erscheinen lassen, doch der Boden stieg dort an. Ich wollte Dornensträucher wachsen lassen, doch sie wuchsen zu langsam für die trippelnden Füße und wer würde den Gnadenstoß geben, wenn mein letztes Werkzeug tief vergraben lag? Was war ich doch voreilig.
Aber dort, den Ast vom morschen Baum konnte ich brechen und hinabstürzen lassen, direkt auf das kleine Köpfchen, wenn es denn diesen Weg nahm.
Der Ast knackte, Holzsplitter stoben in alle Richtungen.
Das Mädchen näherte sich, würde mit Sicherheit dort entlang laufen.
Der Ast senkte sich.
Das Mädchen war gleich da.
Er fiel - knapp hinter ihm zu Boden.
Schon erreichte das Mädchen unversehrt den Waldrand. Ich sollte ihm folgen und schnell mein Werk vollenden. Aber halt, dahinter lag der Parkplatz einer kleinen Gaststätte. Junge Menschen hörten Musik aus einem offenen Auto, rauchten und tranken Bier.
Das Mädchen blieb einige Meter vor ihnen stehen, zögerte. Dann brach seine Fassade zusammen und es in Tränen aus.
Die Umsichtigsten der anderen kamen herbei, fragten, was los sei.
Es war zu spät, ich hatte versagt. Abyssto hatte ich damals in kurzer Zeit vernichtet, die Stadt war dem Untergang geweiht gewesen. Doch wie lange würde ich für ein Dutzend Zeugen brauchen, die sich möglicherweise in alle vier Winde zerstreuten? Niemals wäre ich schnell genug, um das Wissen über mich aufzuhalten, das dort bereitwillig verteilt wurde wie ein teuflisches Geschenk, ein Hydrakopf der sich vermehrte, wenn man ihn teilte. Ich könnte es versuchen und vielleicht scheitern, aber verdammt, es sollte ein Ende haben, meine Ruhe wollte ich, nichts weiter. Verflucht seien sie alle, die nachschauen kämen, ob wirklich etwas im Wald gewesen war!
Oder halt, wer glaubte schon dem Fantasiegespinnst einer kleinen Göre. Natürlich war ihr Bruder nicht in einem Sumpf versunken, den es hier nicht gab und hatte seine eigene Mutter nicht mit einem rostigen Messer erstochen. Ja, das war alles erfunden. In Wahrheit hatte sich die Familie beim Versteckspiel verloren, Mutter und Bruder verlaufen. Keiner wusste, was geschah, keiner fand sie jemals wieder. Leute kämen meine Ruhe zu stören, kämen um die Verschwundenen zu finden. Keiner würde Verdacht schöpfen, solange ich es still ertrug. Genau so sollte es sein.
Langsam zog ich mich in den Wald zurück.
(geschrieben: 25.7.2009 - 1.8.2009)