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Abspann

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15.02.2003
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Abspann

Den Kopf weit über den ausgefransten Rand der Packung gebeugt, starrt Maria in die Cornflakes, als hätte jemand die Lösung unseres Problems unter die Flocken gemischt, als hätte man das Verfallsdatum unserer Liebe versehentlicherweise auf die Innenseite der Pappschachtel gedruckt.
Wir schweigen seit geraumer Zeit. Was zu sagen war, ist längst gesagt. Nicht von uns, nein: Im Fernsehen haben sie es gesagt. Zu irgendwem, zueinander, zu uns, zur ganzen Welt. Kein Versprechen, das dort nicht schon geleistet und gebrochen, kein Argument, das nicht schon abgeschmettert worden wäre. Das Fernsehen hatte mittlerweile das Sprechen für uns übernommen, unsere eigenen Dialoge waren längst nicht so schön, so überzeugend und so traurig, uns blieben die Statistenrollen, wir doubelten uns selbst und kamen uns dabei nicht einmal dumm vor. Bloß ein bisschen überflüssig.

Am Abend hat Maria mir ihren endgültigen Entschluss mitgeteilt:
„Gestern noch heiter bis wolkig, in Küstennähe klar, örtlich sogar Sonnenschein, der Strandurlaub, weißt du noch. Heute dann erste Anzeichen von Regen, das Tiefdruckgebiet von Südwesten, aus der Richtung des Schlafzimmers, gegen Ende des Tages immer wieder kurze Regenschauer, speziell unter meinen Augen. Die weiteren Aussichten: Gewitterfront im Osten, örtlich Hagelschauer, die Temperatur fällt nachts unter den Gefrierpunkt, auch von dir kommt keine Wärme. Trotz allem geruhsame Feiertage! Ich bin mit dem Hochdruckgebiet nach Westen unterwegs. Frag nicht wohin, frag nicht warum, frag nicht.“
Maria arbeitet beim Wetterdienst. Ich kannte sie lange, bevor sie mich kannte, sie moderiert im dritten Programm. Nach den Abendnachrichten war sie dran, zweimal in der Woche. Die meisten Leute schalteten dann auf die anderen Programme um, wo um diese Zeit die Spielfilme anfingen.
Am Telefon habe ich mich mit „Dein einziger Zuschauer“ gemeldet, nachdem ich ihre Nummer rausbekommen hatte.

Ich nickte nur, stellte keine Fragen. Aber in der Nacht, in dieser letzten Nacht hatte ich den Schlaf verpasst, musste auf den nächsten warten. Maria auf dem Sofa im Wohnzimmer, hinter der Wand. Mein Bett belagert von dunklen Silhouetten. Jemand hatte die Farben wie Häute von den Dingen abgezogen und nur das Blau vergessen, das sich nun ungebremst vermehrte. Die großen Blätter des Bananenbaums klatschten leise gegeneinander, leicht bewegt von der durchs offene Fenster einströmenden Herbstluft. Und die Vorhänge blähten sich wie dunkelblaue Segel, die Gardinenstange war die Takelage, die mondlichtglasierten Dielen die Planken und ich war der betrunkene Steuermann mit einer Flasche ohne Post, der sich gegen den schweren Seegang am Bettzeug festklammerte und an der Zimmerdecke angestrengt nach dem Polarstern suchte, verzweifelt bemüht, die Orientierung wiederzugewinnen, das Festland am Horizont sowie den Horizont dieser Nacht zu sichten.

Der Lichtschalter katapultierte mich zurück in die Welt der Wachträume, der umgekippten Cognacgläser und durchgeschwitzten Unterhemden. Ein Geruch nach feuchter Erde und alkoholgetränktem Schweiß umwaberte mich. Draußen hatte es geregnet und drinnen wäre ich fast ertrunken in den seichten Wellen meines Halbschlafs.
Ich kroch mühsam aus dem Bett und schlich mich auf Zehenspitzen wie ein Einbrecher Richtung Wohnzimmer.

Maria hatte das Sofa in die Zimmermitte gerückt, eine schnaufende Insel in der Dunkelheit, etwas unerhört Fremdes, was da nicht hingehörte, ein Sarkophag oder die Überreste eines toten Elefanten, dem man den Rüssel abgeschnitten hatte. Auch sie schlief nicht gut. Ein leises Murmeln aus der Fernsehecke. Oder auch nicht, die Bildröhre war dunkel bis auf einen kleinen weißen Fleck, erzeugt vom allgegenwärtigen Mondlicht. Ein einzelnes schwarzes Auge, das uns im Schlaf beobachtete und am Tag so tat, als hätte es nichts gesehen.
Es war Maria, die da vor sich hinmurmelte. Gerne hätte ich mich ihr genähert, um vielleicht etwas davon zu verstehen, von ihrem Traumgemurmel, aber die Scham überkam mich bereits an der Türschwelle und ich fühlte mich ertappt wie einer, der etwas gesehen oder gehört hat, das nicht für ihn bestimmt war.
Vielleicht war es die Wahrheit, vor der ich zurückschreckte, Träumende lügen nicht.

Sie hat die Cornflakes-Packung wieder auf den Tisch gestellt, in die Mitte, zwischen uns wie eine lächerliche Mauer aus Pappe, darauf ein Hahn mit rotgeschwollenem Kamm, was das Ganze nur noch lächerlicher macht.
Was ist denn?, will ich sagen, die Worte drücken und brennen in meinem Hals als hätte ich zwei Rasierklingen und einen Frosch verschluckt. Aber ich weiß, dass diese Frage im Fernsehen schon tausendmal gestellt wurde, auf bessere Weise mit treffenderen Worten.
Und Maria bräuchte auch gar nicht zu antworten, das Fernsehen hätte bereits tausendmal für sie geantwortet. Auch drei Worte, scharf wie Rasierklingen: Es ist vorbei. Und ein trauriges Lächeln hinterher, das tausendmal echter als ihr eigenes aussähe.

Und wenn nun Blumen aus den Cornflakes wüchsen?

Ich fühle Marias erwartungsvolle Blicke und hebe den Kopf, um zu sehen, was mir ihr Gesicht zu sagen hat. Ihre Lippen formen ein Wort: Milch. Nur mit den Lippen und der Zunge, wie eine Stumme, die zu einem Tauben spricht.
Ich reiche ihr die Milch und schicke ein unverhältnismäßig lautes „Milch!“ hinterher.
Zucke selbst zusammen.
Als wollte ich für uns beide sprechen.

Sonnenblumen, die Blumen wären Sonnenblumen, rasant wachsende Sonnenblumen, wie im Zeitraffer, bis an die Decke und noch weiter, bis zwischen die Wolken, wie Speere.

Maria blickt auf und sieht hinüber in den Flur, wo ihr Koffer als eine letzte, jämmerliche Hürde steht. Der alte abgewetzte Lederkoffer mit den Aufklebern. Alabama. Louisiana. Virginia. Die Aufkleber hat sie im Karstadt um die Ecke während der Amerika-Themenwoche gekauft. Sie meinte, dass sie auch gerne so hieße. Alabama. Louisiana. Virginia. Ich lachte und erwiderte, dass es sicher irgendwo eine Stadt mit dem Namen Maria gebe.
Das sagte ich im Scherz, natürlich gab es keine solche Stadt., das wussten wir beide, wir hätten längst davon gehört, im Fernsehen, irgendwann.

Kräftig gelbe Sonnenblumen, keine mit verwelkten Blättern, keine mit braunen Flecken auf den Blüten, mit schlaffen Hälsen.
Perfekte Sonnenblumen.
Strahlend gelbe Blumensonnen. Mit Strahlen scharf wie Speere. Um die Wolken zu zerstören, das Gewitter zu vertreiben.

Von hier sieht es so aus, als wüchse Marias Kopf direkt aus der Packung mit den Cornflakes, der obere Rand verdeckt ihren Hals. Es heißt: Wenn man nichts isst und nicht spricht, braucht man keinen Hals. Auch nicht, wenn man sein Gesicht verstecken will.

Strahlend gelbe Sonnenblumen.

Ein leises Klicken wie von einem Schalter, der gerade umgelegt wird. Marias Löffel fällt klirrend in die Schüssel, die Hand fasst an die Tischkante, streicht an ihr entlang, packt sie fest und stützt den Körper, als er sich vom Stuhl erhebt. Wir blicken beide auf den Koffer.
Bleib doch.
Es ist vorbei.
Nur bis morgen, nur noch die eine Nacht.
Es ist vorbei.
Das ist doch albern.
Es ist vorbei.
Robotergespräche. System überladen. Und für ein Lächeln reicht die Batterienladung nicht.

Ich sehe, wie sie den Koffer anhebt, mit ihrer schwachen linken Hand, ohne mit der Wimper zu zucken, ganz leicht, ist auch nicht viel drin, nur das Allernötigste. Teilzeitzuhause, hat sie mal gesagt. Durchgangsstation, habe ich gedacht.
Sie geht zur Tür und verlässt die Bühne, das sinkende Schiff, ohne sich noch einmal umzudrehen. Gäbe ja auch nichts zu sehen. Nur mich, nur meine Augen, die ein bisschen beschämt zu Boden blicken, nur meinen Mund, der ein wenig ratlos ist, alles ist gesagt und für das Weitere habe ich keine Worte.
Dabei ist es doch so einfach, dieses Spiel mit zwei halben Schiedsrichtern und zwei halben Spielern.

Drücken Sie nun bitte die Eins für ein: Bitte, es tut mir leid, lass uns über alles reden.
Die Zwei für ein gequältes Lächeln.
Die Drei für eine innige Umarmung.

Die Liebe ist längst kein Rätsel mehr. Dieses eine Codewort gibt es nicht, kein Satz, der die Frequenz zu ihrem Herzen freigibt. Das ist alles weitaus komplizierter. Wir haben schon lange keine Nullachtfünfzehnherzen mehr, wir haben Mega- und Gigaherzen. An ihrem Herz hängt so ein Zahlenschloss. Und ihr Herz, das hängt an gar nichts, hing an mir, bis es irgendwann zu schwer wurde und uns beide zurück auf den Boden der Taten und der Sachen riss, raus aus den Gefühlen.

Sonnenblumen, Blumensonnen. Das ist Blödsinn, Blumen wachsen nicht aus Cornflakes. Sowas weiß man doch, aus dem Fernsehen.

Ohne Hintergrundmusik, völlig undramatisch verschwindet Maria einen Augenblick später im Gewühl der Birken vor der Haustür. Maria sagte: Albinokletterstangen mit hellgrünen Rauschebärten, pigmentgestörte, mordsmäßig ausgefranste Riesenrettiche. Das war, was ich so an ihr mochte. Manchmal hatte sie solche Einfälle, sie sagte neue Dinge. Dinge, die ich noch nicht kannte, so noch nirgendwo gehört hatte, die mich überraschten und mich zum Lachen brachten. Aber das Lachen war zuwenig, keine ausreichende Gegenleistung, ganz gleich wieviel ich lachte, es reichte einfach nicht, denn mir fielen keine neuen Sachen ein, und wenn ich die Leute zum Lachen bringen wollte, erzählte ich ihnen Marias Einfälle und tat ganz so, als wären es meine eigenen. Und die Leute lachten mit mir, nur Maria nicht. Du begreifst es einfach nicht, sagte sie erst neulich wieder.
Doch ich gab nicht viel auf ihre Warnungen, machte einfach weiter wie zuvor.
Und.

Es ist überraschend still hinter all dem Glas der Fensterscheibe.
Jetzt geht sie über den Kiesweg zum Tor, ohne dass die Steine unter ihren Sohlen knirschen.
Jetzt öffnet sie das Gartentor, ohne dass die Angeln quietschen. Jetzt geht sie zum Wagen, ohne einen Seufzer auszustoßen. Das ist wie Fernsehen. Sie hinter der Scheibe, ich davor, wie früher, sie sieht mich nicht und ich bin ihr einziger Zuschauer. Nur dass der Ton nicht funktioniert. Die Musikuntermalung fehlt. Keine Dramatik, keine Gefühle, keine Identifikation. Das alles wirkt überhaupt nicht echt. Ist schlecht gemacht, schrecklich amateurhaft.
Umschalten. Umschalten. Umschalten. Bitte.

 

Liebes Wolkenkind,

was soll man eigentlich als Leser schreiben, wenn man sprachlos ist? Ich habe schon lange keine bessere Geschichte über das Ende einer Beziehung gelesen als diese hier.
Was mir ausnehmend gut gefällt, dass du die Thematik des Fernsehens bis zum Ende miteinwebst in die Geschichte und zwar in einer Stimmigkeit, die mich sehr beeindruckt hat. Da wirkt nichts aufgesetzt oder bewußt gewollt, sondern geschieht einfach und paßt nahtlos.
Dann gefällt mir, dass du Stimmungen erzeugst, aber mir als Leser dennoch meine eigenen Stimmungen läßt, ich kann und darf selber fühlen, was dort passiert, mir meine eigenen Gedanken machen. Das finde ich gut, weil auf diese Weise durch mein Dazutun zusätzliches Leben in diese Geschichte kommt, eben durch meine Gefühle.
Sprachlich habe ich nichts auszusetzen.
Fazit: eine rundum gelungene mich stark beeindruckende Geschichte! :thumbsup:

Lieben Gruß
lakita

 

hi w.k.,

bedrückend realistisch (nicht zuletzt wegen der dargebotenen liebe zum detail), atmosphärisch dicht, glaubhaft, hoher identifikationsfaktor - so kanns zugehen, wenn man sich trennt; ich glaube dir.

starker text.

lg p.

 

Du mit deinen halben Menschen :D
Schöne Geschichte, du weisst es, Beschreibung und Handlung miteinander harmonieren zu lassen.

"Sonnenblumen, Blumensonnen.. Das ist Blödsinn..."

Sollte das "Das" nicht klein sein?

"...machte einfach weiter wie zuvor. Und.

Und es ist überraschend still hinter all dem Glas der Fensterscheibe."

Lesend gefällt mir die Wiederholung des "Und" nicht, könntest es im letzten Satz weglassen.

Frage: Wie lange brauchst du im Durchschnitt für eine Geschichte?

 

Danke für das viele Lob, wenn die Geschichte ankommt, hat sich die investierte Zeit auf jeden Fall gelohnt, irgendwann kann ich es vielleicht wirklich mit dem Fernsehen aufnehmen ;)
Hier hab ich mal wieder ohne Konzept gearbeitet, da die Handlung denkbar einfach ist, Schreib- und Korrekturzeit etwa 6h, und die Ideen kommen eh wann und wie sie wollen.

Freut mich besonders, dass alles glaubhaft wirkt, darauf kommt es mir besonders an.
An dieser Stelle möchte ich nochmal all die Leute grüßen, die sich vor lauter Bildern nicht trauen, die überaus langweilige Handlung zu bekritteln :)

 

Moin Wolkenkind.
Der lange, wortarme aber gedankenreiche Abschied, Bilderschwer, ist dir gut gelungen.
Deine Bilder sind stark und gut in passende Worte gekleidet.
Ja, es liegt in ALLEM Poesie, man muss sie nur entdecken... du scheinst das zu können.
Übrigens, "Sarkopharg" schreibt man glaub ich so...
Lord

 

Freut mich sehr, dass auch du etwas mit der Geschichte anfangen konntest, obwohl sie ja denkbar weit vom "Lord-Stil" entfernt ist.
Wenn man nicht viel zu erzählen hat, sucht man eben nach der Poesie.
Und Sarkophag schreibt man offenbar immer anders, als man denkt.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Die Geschichte ist wundervoll.
Man kann es gar nicht anders sagen.
Es passt alles zu allem und die vielen Andeutungen, Wortspiele etc machen alles noch besser.
Sonnenblumen. Blumensonnen. Wundervoll :)

 

Danke dir, erstaunt mich immer wieder, dass meine Geschichten so positiv aufgenommen werden.
Leider verlieren die Wortspiele ihren Reiz, wenn man die Geschichte so oft lesen muss wie ich während des Schreibens :)

 

Hallo Wolkenkind!

Du legst Deine Geschichten in wundervolle Bilder, die lange anhaltende Stimmungen vermitteln, ohne gekünstelt zu wirken. Wie sehr ich Dich darum beneide!

Aus dem "Miteinander" zweier Menschen entwickelte sich schleichend und zu spät bemerkt ein "Nebeneinanderher". Hast Du perfekt rübergebracht.

... wie eine lächerliche Mauer aus Pappe.
Am Ende die Resignation. Besser kann man das nicht ausdrücken. :thumbsup:


Ciao
Antonia

 

Hei Wolkenkind, treffender hättest du den Titel nicht wählen können. Ich habe einen kleinen Film gelesen. Total klasse und sehr einprägend. Es ist schon viel geschrieben worden, alles berechtigtes Lob. Was ich auch sehr schön fand: Robotergespräche. System überladen...wohl weil es mich selber an etwas erinnert!

Liebe grüsse stefan

 

Danke auch euch beiden für das Lob. Dass die Geschichte durchweg so gut ankommt, erstaunt mich wirklich. Freut mich, dass wieder einige Sätze im Gedächtnis haften bleiben, genau zu diesem Zweck gebe ich mir die Mühe mit den Formulierungen.

Jetzt fehlt nur noch jemand, der die Erfahrung, dass das Fernsehen viele Augenblicke und Dialoge entwertet hat, mit mir teilt, den Aspekt fand ich nämlich am interessantesten :)

 

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