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Absolut neutral
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und warte. Dabei bemühe ich mich, nicht zu denken. Natürlich geht das nicht. Also versuche ich meinen Geist auf etwas zu konzentrieren. Fehlanzeige. Mit einem Seufzer nehme ich mein Buch wieder zur Hand und lese weiter. Schon nach einer halben Seite passiert es erneut.
„Dieser Vergleich hinkt”, sagt die nervtötende Stimme in meinem Kopf.
„Halt die Klappe!”, gebe ich zurück und lese weiter.
„Das kann man weglassen”, klugscheißert sie schon nach drei weiteren Sätzen.
Entnervt lasse ich das Buch sinken.
„Ich habe dieses Buch bereits drei Mal gelesen. Es ist perfekt. Ich liebe es und werde es auch noch weiter lesen - ohne ständig dabei von dir gestört zu werden.” Böse blicke ich nach rechts in den Spiegel. Um meine Aussage zu untermauern, halte ich dem Blick meiner Augen eine Weile stand, bevor ich mich erneut der Lektüre zuwende.
Den nächsten Kommentar unterbinde ich schon gleich zu Anfang, indem ich das Buch zuklappe und vor mir auf den Tisch werfe.
Toll, ich kann es nicht glauben. Da habe ich nun gerade einmal eine Hand voll mittelmäßiger Kurzgeschichten geschrieben und kritisiere schon einen der größten Schriftsteller der Geschichte. Wie unglaublich arrogant. Ich will gar nicht kritisieren. Ich will lesen. Ich will mich in den Welten meiner Phantasie verlieren, nicht im Halbwissen von Grammatik und Dramaturgie.
Ich schalte den Fernseher an. 20.15 Uhr, genau richtig. Ich zappe durch die Kanäle, bis ich an einem Titel hängen bleibe. Den wollte ich schon im Kino sehen. Der Film fängt vielversprechend an, doch schon nach zehn Minuten reißt mich die altbekannte Stimme aus der Handlung heraus: „Unglaubwürdiger Charakter. Und diese Dialoge … “, wobei sie das Wort Dialoge mit einem langgezogenen „o” quält. Ich schalte den Fernseher ab.
„Okay”, entgegne ich. Ich bin in Streitstimmung. „Wenn Du willst, gebe ich dir etwas zum daran herum kriddeln.” Ich hole mein Netbook und öffne meinen letzten Entwurf von „Zwecklos”, einer fast acht Seiten umfassenden Kurzgeschichte, mit der ich seit Wochen nicht vorankomme.
Mit einem schadenfrohen Seitenblick auf den widerlichen Kritiker in mir beginne ich zu lesen. Wie erwartet, unterbricht mich die Stimme schon nach ein paar Minuten.
„Warte!” Ich warte. „Lies die letzten drei Sätze noch einmal.” Ich lese.
„Besser als Shakespeare!” Die Stimme trieft vor Stolz. Ich schließe mein Netbook. Ich gebe auf.