Abseits der Mitte
Simon legte die CD ein, drückte auf den Knopf und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen und wartete. Die Musik begann. Debussy, stellte er ein wenig überrascht fest. Er blickte auf die Schachtel, die in seinem Schoß lag. Dort stand Ravel. Einer seiner kleinen Fehler, Dinge nie an den richtigen Platz zurückzugeben. Aber er ließ die Musik weiterlaufen. Debussy war auch gut. Der regen prasselte noch immer an die großen Glasscheiben der Terrassenfront. Seit zwei Tagen regnete es mehr oder weniger ununterbrochen, dabei wäre er zu gern wieder Mal raus gefahren in den Garten. Früher hatte er ihn nicht gestört, der Regen, und zwei Tage waren auch noch nicht so lange gewesen. Mit Unbehagen fühlte er die Gedanken in seinem Kopf, wie sie wieder anfangen wollten, zu kreisen. „Zuviel denken ist nicht gut“, sagte Simon leise zu sich selbst.
Die Worte stammten von seinem Arzt, ‚Zuviel Denken ist jetzt nicht gut’, hatte er damals gemeint und wohlwollend gelächelt.
Er musste sich ablenken. Mit ein paar kräftigen Schüben fuhr er mit seinem Rollstuhl an die Bücher heran. Die gesamte Längsseite des Arbeitszimmers bestand nur aus Büchern. Es war das erste, was er machen ließ, als er vor Jahren hier eingezogen war. Die Längsseite in ein einziges Regal umbauen, damit es ein wenig so aussah, wie jener Salon, den er einmal in einem Bildband über herrschaftliche Landgüter in Groß Britannien gesehen hatte. Der einzige Unterschied zu damals war, dass er heute nur mehr an die untersten Reihen herankam. Sein Blick glitt über die Buchrücken, ein Titel nach dem anderen streifte durch seinen Kopf, aber keiner wollte ihn so richtig interessieren. Er blickte kurz nach oben und fragte sich, ob sich vielleicht gerade dort das Richtige für diese späte Samstagnacht finden würde, aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Kurz entschlossen wendete er und blickte durch die Glasscheiben hinaus in die Dunkelheit. Unschlüssig saß er da, aber bevor Simon noch weiter darüber nachdenken konnte, wie er sich die Zeit – und vor allem die bösen Gedanken – vertreiben sollte, hörte er Geräusche.
Die Eingangstür wurde aufgeschlossen und im nächsten Moment dröhnte das Lachen seiner Frau über den Flur. Das kannte er nur allzu gut. Neu war aber die Stimme eines Mannes, die sich in Janes Lachen mischte. Simon wollte nicht glauben, dass sie es tatsächlich wagte - dass sie ihn tatsächlich hierher brachte... Der Drang davonzulaufen war mit einem Mal da und so übermächtig, dass ihm sein Rollstuhl in diesem Moment mehr als je zuvor wie ein Gefängnis erschien. Mehr noch als an jenem ersten Tag zuhause, als seine Welt plötzlich auf Bauchhöhe zusammengeschrumpft war. Aber Flucht war nicht möglich. Die einzigen Wege nach draußen führten auf die Terrasse, in den strömenden Regen, oder eben auf den Flur, direkt in ihre Arme. Nervös packte Simon die beiden Räder und schob sich ein paar Schritte rückwärts in die Ecke, neben die Musikanlage. Mehr konnte er nicht tun. Außer warten – und hoffen, dass sie es nicht tun würde und wenigstens noch einen Rest Feingefühl besaß.
Sie lachte noch immer, eigentlich nahm es gar kein Ende. Sie war betrunken, das war klar. Mittelstark, tippte Simon. Nicht das Schlimmste was er an ihr erlebt hatte, aber auch kein harmloser Schwips mehr. Irgendetwas schepperte. Die Bronzeschale, nahm Simon an.
„Pass auf“, kicherte der Mann, soviel konnte Simon verstehen.
Dann sagte seine Frau etwas, und für einen kurzen Moment war es still, bis plötzlich beide wieder in schallendes Gelächter ausbrachen.
„Komm mit“, hörte er seine Frau sagen, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten.
Geht nach oben, geht nach oben, wiederholte Simon stumm und starrte gebannt auf die Tür. Ihre Schritte wurden lauter – zu laut – sie mussten längst an der Treppe vorbei sein. Aber sie würde es nicht wagen, was hätte sie auch davon....
Die Tür zum Arbeitszimmer wurde geöffnet. Seine Frau betrat den Raum, in ihrem Gesicht etwas wie ein Lächeln, oder ein Grinsen, oder eine Mischung aus beiden. Er starrte sie ungläubig an. Im nächsten Moment erschien der Mann neben ihr – groß, athletisch, Jeans, Lederjacke. Genau wie ich es mir vorgestellt habe, dachte Simon nüchtern und wunderte sich, dass er plötzlich ganz ruhig war. Der Kerl hatte Simon noch nicht bemerkt, weil er zu sehr damit beschäftigt war, am Hals seiner Frau herumzuknabbern. Erst als sie demonstrativ und übertrieben laut „Hallo, Liebling!“ sagte, blickte er verwirrt auf, und bemerkte Simon am anderen Ende des Zimmers. Sein Gesicht erstarrte.
„Was soll’n das werden“, stammelte er. „Was is das für eine Scheiße hier?“
Sein Blick wanderte zwischen Simon und Jane hin und her.
„Ich dachte, ihr solltet euch mal kennen lernen“, sagte Jane und kicherte.
„Bist du bescheuert“, sagte der Mann ernst und seine Stimme wurde laut. Er sah Jane fassungslos an. „Du hast gesagt, er wär’ nicht da, verdammt noch mal.“
„Ja, hab ich...sonst wärst du doch nicht mitgekommen...“
Sie grinste. Simon beobachtete stumm.
„Auf diese beschissenen Spielchen hab’ ich keine Lust“, sagte der Mann wütend, und noch ehe Jane etwas erwidern konnte, hatte ihr Geliebter bereits kehrt gemacht und war aus dem Zimmer gelaufen. Ihr Grinsen verebbte und sie lief hinter ihm her. Durch die geöffnete Tür hörte Simon seine Frau mit weinerlicher Stimme ständig um Verzeihung betteln. Aber Mr Lederjacke sagte nichts mehr, Simon hörte nur schnelle Schritte den Flur entlang und kurz darauf wurde die Eingangstür geöffnet und heftig wieder zugeschlagen. Dann war es still.
Simon atmete tief durch.
Jane kam wieder ins Zimmer, von ihrer alkoholgeschwängerten Fröhlichkeit war nicht mehr viel übrig. Sie sah ihn böse an.
„Ganz toll...er ist weg.“
Simon lachte bitter.
„Soll ich jetzt traurig sein?“
„Wir haben eine Abmachung...“
„...ein Abmachung, ja. Aber es war nie die Rede von einer solchen...lächerlichen...’Menage à trois’. Du kannst durch die Gegend vögeln mit wem du willst, aber dann macht es dort, wo Typen wie dieser herkommen. Aber nicht in meinem Haus!“
„Unserem Haus...“, fauchte sie.
„Wenn es darum geht, sind wir also noch verheiratet“, sagte er und lachte kraftlos.
Sie sagte nichts mehr, aber ihre funkelnden Augen fixierten ihn von der Tür aus. Der Regen prasselte wieder stärker gegen die großen Glasscheiben. Simon blickte gedankenverloren hinaus in die Nacht. Er hätte gerne irgendetwas gesagt, einen Satz, ein Wort. Irgendetwas, das ihr zeigte, wie er sich fühlte. Etwas damit sie sich schuldig fühlte. Aber die Worte fehlten.
„Ich gehe schlafen“, sagte Simon schließlich.
Er schob sich auf die Tür zu, Jane beobachtete ihn. Ohne sie anzusehen fuhr er an ihr vorbei, hinaus auf den Flur. Und dann hörte er plötzlich ihren Schrei in seinem Rücken. Simon hatte keine Zeit nach hinten zu sehen. Im nächsten Moment wurde der Rollstuhl an einer Seite angehoben und kippte nach links. Erschrocken klammerte er sich an der Armlehne fest und stemmte sich nach rechts, aber vergebens. Der Rollstuhl kippte und Simon krachte unsanft zu Boden. Mit dem Kopf prallte er gegen die Glasvitrine mit seiner Zinntellersammlung. Das Glas zitterte, Simon schlug die Arme vor sein Gesicht und wartete darauf, dass die Scherben auf ihn hinunterregnen würden. Aber das Glas hielt. Langsam nahm Simon wieder die Hände vom Gesicht. Jane stand neben ihm, sie sah von oben auf ihn herab. Ihre Augen waren kalt und plötzlich hatte er Angst.
„Du hast ihn vertrieben“, sagte sie leise, und das Lauernde in ihrer Stimme gefiel Simon gar nicht. „Ich lass’ sie mir von dir nicht vertreiben.“
Er zog sich auf seinen Unterarmen von ihr weg. Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
„Ich lass’ mir von dir nicht sagen, wen ich zu lieben habe“, schrie sie, und Simon zuckte zusammen. „Niemand hat mir gesagt, dass ich einen Krüppel heiraten werde!!!“
Der stechende Schmerz in seiner Magengegend kam so überraschend und schnell wie das Kippen seines Rollstuhls. Sie trug ihre Hochhackigen, und die waren sehr spitz. Simon krümmte sich wie ein an der Sonne gestrandeter Regenwurm. Sein ganzer Körper war Schmerz. Das hastige Klack-Klack ihrer Absätze, als sie weglief, ebenso wie die Einganstür die lautstark ins Schloss fiel, nahm er nur mehr wie beiläufig wahr.
Irgendwann später ließ der Schmerz nach. Und noch später hievte er seinen Rollstuhl wieder auf die Räder und zog sich an ihm hoch.
Am Nachmittag des nächsten Tages saß Simon wieder im Arbeitszimmer. Jane hatte ihn angerufen und ihm nüchtern erklärt, sie würde endgültig ausziehen, ihre Sachen ehebaldigst abholen lassen und danach aufgelegt. Geld genug hast du ja, du Schlampe, hatte Simon gedacht, während er noch immer den Hörer in der Hand hielt und das leise Tuut-Tuut an seine Ohren drang. Geld genug, um noch tausend neue Leben anzufangen.
Er saß in derselben Ecke wie vorige Nacht. Sein Blick fiel auf das Bild, das auf dem antiken Sekretär neben der Tür stand. Es zeigte einen Mann und eine Frau, die fröhlich in die Kamera lachten und im Hintergrund Sandstrand und Palmen. Ob sie dieses Bild auch mitnehmen wollte? Simon fixierte die Frau mit seinem Blick, hob langsam den Arm und streckte den Mittelfinger aus der geballten Faust hervor.
„Auf Nimmerwiedersehen, Drecksschlampe“, sagte er leise.
Dann lächelte er zufrieden. Seit langer Zeit wieder das erste Mal.