- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Abseits der gewissen Stunden
In Susanne wuchs ein Unbehagen über den unverhofft freien Sonntagnachmittag. Ihr, der die Zeit sonst immer knapp war. In ihrem Beruf ging es um Geld, sehr, sehr viel Geld. Nicht, dass sie sich keine Freiräume gönnte, doch diese waren abgestimmt auf geschäftliche Interessen. Eine Ausnahme bildeten ihr ab und zu die gewissen Stunden. Wäre sie nicht zu Hause, würde sie eine dieser renommierten Escort-Agenturen anrufen, wie sie es zeitweise bei ihren Geschäftsreisen im Ausland tat. Die Manieren dieser gut gebauten jungen Männer waren geschliffen und Diskretion absolut gewährleistet.
Die Unterlagen und Verträge, welche sie mit nach Hause genommen hatte, waren in der Ausfertigung einwandfrei, es waren keine Änderungen oder Ergänzungen mehr erforderlich. Zeitiger als sie erwartete. An sich konnte sie zufrieden sein, ihre Mitarbeiter hatten gute Arbeit geleistet. Morgen könnte sie sich noch den normalen Arbeiten widmen. Dienstag wird sie fliegen, um das neue Projekt mit der Aerospace Newtech Inc. unter Dach und Fach zu bringen.
Im Haushalt konnte sie nichts tun, ihre Putzfrau war da sehr gründlich und sie mochte solche Tätigkeiten auch nicht. Gelangweilt griff sie zur Zeitung, um nachzusehen, ob eine Veranstaltung sie interessieren könnte. Das Einzige, was infrage kam, war ein Violinkonzert. Nein, solches musste sie im Rahmen der gesellschaftlichen Verpflichtungen zur Genüge wahrnehmen. Sie legte die Zeitung beiseite. Ines anrufen? Unmöglich, es sähe nach Aufdrängen aus. Sonst habe ich ja auch nur nach langer Vorausplanung Zeit für sie. In Gedanken kaute sie an ihren Fingernägeln. Verärgert unterliess sie es, als sie Kratzer im Lack bemerkte.
Sie vertiefte sich in die Financial Times, doch schweiften ihre Gedanken von den Themen ab. Die Nervosität wucherte.
Soll ich doch eine Agentur anrufen? Die Versuchung war gross, sich diese Entspannung zu gönnen. Nein, hier vor Ort aus Prinzip nicht.
Das Wasser im Fluss, dem sie entlang schlenderte, glitt ohne Wellen mit starker Strömung dahin. Es könnte ein Ebenbild meines Lebens sein, immer in Fluss, kein Moment des Stillstands. Es war lange her, seit sie letztmals einfach so promenierte. Der Frühjahrstag lockte vermehrt Spaziergänger ans Wasser, Paare und Familien kreuzten ihren Weg oder besetzten die Sitzbänke. Ihre Kindheit mit den Sonntagsspaziergängen kam ihr in den Sinn, die sie nicht sehr mochte.
Ein freilaufender, kleiner Hund kam des Weges und begann mit dem Schwanz zu wedeln, als er sie erblickte. Sie blieb stehen. Sein Verhalten war überschwänglich, als er näherkam, als ob er sie kennte. Unverhofft sprang er an ihr hoch. Seine Vorderpfoten reichten knapp über ihre Knie. Staubige Abdrucke zierten nun ihren schwarzen Jupe, was sie mit Verärgerung bemerkte. Ihre Versuche mit Worten und Handbewegungen den Hund abzuwehren, waren vergeblich. Heute ist gar nicht mein Tag.
Ein scharfer Pfiff liess den Hund aufschrecken. Mit einer Kehrtwendung spurtete er zu seinem Herrchen, der um eine Biegung des Weges kam.
«Es ist mir sehr peinlich», äusserte der Mann, als sie auf gleicher Höhe waren.
Sie hatte die Abdrücke mit der Hand gerieben, doch waren sie noch zu sehen.
«Ich werde die Reinigung natürlich übernehmen», bemerkte er.
Sie wehrte ab. «Nein, nein, es lässt es sich sicherlich ausbürsten.» Erst jetzt sah sie ihn sich genauer an. Er war einen halben Kopf grösser als sie mit ungewöhnlich wirkenden, hellblauen Augen in einem markanten Gesicht. Ihr Ärger dämpfte sich. Der Hund stand freudig wedelnd neben ihnen, keinerlei Schuldgefühle zeigend.
«Melden Sie sich bitte bei mir, wenn doch eine Reinigung notwendig sein wird. Ich heisse Tom Harder. Leider habe ich keine Karte dabei, aber Sie finden meine Nummer im Telefonbuch.»
Einige Wochen später begegneten sie sich zufällig in der Stadt. Vergessen hatte sie seinen Namen nicht, rief ihn aber auch nicht an. Nun stand er vor ihr, sie ansprechend.
«Schön, Ihnen wieder zu begegnen.»
Es war ihr unangenehm, da er Gefühle in ihr auslöste, die sie im Griff zu haben meinte. Er war nicht der Typ Mann, den sie für gewisse Stunden bevorzugte. Und doch fand sie ihn attraktiv, sehr sogar. Seiner Einladung auf ein Getränk entzog sie sich nicht, entgegen ihrem unbehaglichen Gefühl überrumpelt worden zu sein. Er erwies sich als angenehmer Unterhalter, der das Gespräch mit Geist und Witz bereicherte. Als sie sich nach einer halben Stunde trennten, versprachen sie sich, voneinander hören zu lassen.
Trotz mehrerer Anrufe gelang es Tom erst Monate später, sie zu einem Abendessen zu überreden. Nicht nur Zeitdruck hemmte sie, mehr noch verspürte sie Abwehr, da sie nicht in eine Abhängigkeit geraten wollte. Ab und zu kamen ihr Gedanken zu ihm auf. Erschreckend bewusst wurde es ihr, als sie mit einem jungen Mann zusammen war. Sie hatte gelernt, sich in solchen Stunden einfach fallen zu lassen und zu geniessen. Doch diesmal spielte ihr die Fantasie einen Streich. In entscheidenden Momenten dachte sie an Tom, ihn als ihren Partner projizierend. Es waren seine Hände, die feinfühlig ihrem Rücken entlangstrichen. Deren Berührung an den Oberschenkeln sie erzittern liessen. Seine Lippen, die zielsicher an erogenen Zonen lockten. Seinen Charme und seine Feinfühligkeit versteht er selbst hier einzusetzen, mein Verlangen behutsam steigernd zu entfachen, um dann endgültig das Feuer der Begierde zu entzünden. Es gab ihr Auftrieb, während ein anderer Körper ihr zugewandt war.
Sie hatte sich vorgenommen, beim gemeinsamen Abendessen Tom freundlich aber bestimmt zu erklären, dass sie nicht an einer vertieften Beziehung interessiert sei. Das Kerzenlicht erzeugte ihrem Zusammensein eine intime Note. Ein Beobachter hätte in ihnen Verliebte deuten können, wie sie an andern Tischen sassen, nur einander selbst wahrnehmend. Nun waren sie schon beinah drei Stunden zusammen, und sie konnte sich nicht dazu durchringen, diese Stimmung zu beeinträchtigen. Er ist anders, als ich es von Männern gewohnt bin. Seine Ausgeglichenheit gibt mir eine eigenartige Behaglichkeit, als ob ich mich anlehnen könnte, ohne dass er etwas fordert.
Sein Vorschlag, den Abend bei ihm ausklingen zu lassen, alarmierten ihre abwehrenden Gedanken wieder. Was erwartet er von mir. Ich muss es ihm sagen, selbst wenn er dann … Ach Blödsinn, dies sind Zweifel an mir selbst, die mir Verwirrung bereiten. Sollte es doch geschehen, wird es bei diesem einen Mal bleiben, darin werde ich kompromisslos sein.
Seine Wohnung war nur ein Strassenzug entfernt, im obersten Geschoss eines klassizistischen Gebäudes, direkt an der Limmat gelegen. Der Blick von der Terrasse über den Fluss auf den jenseitigen Teil der Altstadt gegenüber war faszinierend. In der Dämmerung hob sich das Grossmünster mit seinen beiden hohen Türmen im Scheinwerferlicht majestätisch ab. Die Lichter der Häuserfronten, entlang dem Limmatquai abwärts, begannen sich im Wasser reflektierend zu spiegeln. Über die Quaibrücke, den Blick auf den Zürichsee gerichtet, ragten im Hintergrund bei Vollmondlicht, dunkle Zacken der Berge gegen den Himmel. Die Mythen, wie Torwächter des Alpengebietes da thronend. Es war eines dieser Luxusappartements an bester Lage, sündhaft teuer. Er führte sie durch die Wohnung, gefolgt von seinem Hund, der sich freudig aber brav verhielt. Im Wohnzimmer waren gerahmte Fotografien aufgehängt, junge Männer mit nackten Oberkörpern darstellend, der Haltung nach einen asiatischen Kampfsport ausübend. Es waren schlichte schwarzweiss Bilder. Beinah wären sie ihrer Aufmerksamkeit entgangen, da das moderne Design der zweckmässigen Einrichtung ein Blickfang war. Sie blieb vor einem dieser Bilder stehen, ein sehniger Körper in einer gespannten Haltung, die im nächsten Moment zu blitzschneller Aktion übergegangen sein musste. Merkwürdig, sie passen so nicht in diesen Raum, nicht zu Tom. Zwei grossformatige Ölbilder, etwa farbenfrohe von Miro, würden hier viel eher zur Geltung kommen, die Raumgestaltung betonen. Sie betrachtete das nächste Bild. Einen besonderen Reiz konnte sie darin nicht erkennen. Na ja, vielleicht schätzt er diese Sportart. Oder er ist … Nein, das kann nicht sein. Aber möglicherweise ist er einer jener, die zu beiden Geschlechtern eine Zuneigung aufweisen. Zu weiblichen Reizen hat er auf jeden Fall eine sensitive Beziehung. Sie fühlte sich trotz ihres Rückschlusses verunsichert, konnte ihre Erkenntnis nicht recht zuweisen.
Während sie ihr Gespräch auf dem Sofa fortsetzten, überlegte sie, ob sie wohl die Initiative ergreifen sollte. Sie hatten beim Abendessen über alles Mögliche gesprochen, auch über ihre beruflichen Tätigkeiten, doch das Privatleben nur in gesellschaftlichen Bezügen erwähnt. Wahrscheinlich ist er geschieden. Seiner Einrichtung nach zu urteilen, lebt er nicht in einer festen Beziehung. Wobei, dies kann mir nur recht sein, wenn es signalisiert, dass er auch nicht auf eine feste Bindung aus ist.
Von ihm kam keine Initiative, wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass er zu scheu war. Als er sie beim ersten Wiedersehen ansprach, zeigte er keinerlei Hemmungen sie charmant aber aber zielbestimmt zu umgarnen. Sie beugte sich zum Weinglas vor, die Gelegenheit nutzend näher an ihn heranzurücken. Nach einem kleinen Schluck aus dem Glas sah sie ihn an. Die hellblaue Iris seiner Augen schienen, wie mit kleinen Funken durchsetzt. Eine kleine Neigung von ihr reichte, um ihre Lippen auf seine zu pressen. Er sträubte sich nicht, doch erwiderte er auch nicht ihr Verlangen, wenngleich er sie umarmt hielt und seine Lippen ihr nicht entzog. Sie setzte sich wieder aufrecht, verlegen zum Weinglas greifend. Verdammt, bin ich so reizlos, dass er mich nicht mal küssen will? Oder ist es so, dass bei ihm auf dieser Ebene gar nichts los ist? Der Gefühlssturm, der sie beherrschte, bereitete ihr Mühe. Ich muss noch einen Augenblick zuwarten, ehe ich aufstehe und gehe. Sonst wirkt es hysterisch. Obwohl, eine Frechheit, ist es von ihm. Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, nur leise Musik erfüllte den Raum.
Tom nahm einen Schluck aus seinem Glas, bevor er zu sprechen begann.
«Es tut mir leid, wenn ich dich in dieser Beziehung enttäusche. Ich mag dich Susanne. Das Zusammensein sowie die Gespräche mit dir sind mir bereichernd. Du bist auch zweifellos sehr attraktiv. Meine entsprechenden Bedürfnisse sind jedoch auf das Maskuline beschränkt. Ich wollte es dir eigentlich beim Abendessen sagen, doch dann hatte ich Skrupel. Ich befürchtete, du könntest dich verletzt fühlen und kurzerhand weglaufen. Um es dir diskreter und sanfter zu vermitteln, kam mir der Gedanke, dich in meine Wohnung einzuladen. Ich war der Meinung, die Bilder würden es offen legen.» Seine Hand wies die Wände entlang auf die Fotografien.
Susannes Wut war verklungen. Sie fühlte sich nur noch betreten. Nicht über das, was er ihr über sich offenbarte, sondern deshalb, da ihre Bedürfnisse die vorhandenen Signale offensichtlich ignorierten. Dies hätte ich spätestens bei unserer zweiten Begegnung merken müssen. Das gibt es doch nicht, dass man dies als Frau nicht spürt, das Bauchgefühl nimmt es sensorisch wahr. Oft ist es das äussere Erscheinungsbild, manchmal auch das Verhalten oder die Bewegungen, sicher aber die Blicke, wie sie hübsche Männer taxieren. Innerlich seufzte sie. Ich war es selbst, die die gesetzte Schranke überschritt. Sie atmete einmal tief durch. Dann erzählte sie ihm, welche abwehrenden Empfindungen sie im Vorfeld ihres Treffens plagten. Auch erwähnte sie nun ungehemmt, wie sie ihr Liebesleben regulierte.
Ihr Lachen, in das sie gemeinsam einstimmten, wirkte befreiend. Die Sympathie zueinander gewann wieder Raum. Sie konnten die Intimsphäre einander gegenüber nun unbelastet zulassen.
«Ich denke, du bist dir über deine wirklichen Bedürfnisse nicht im Klaren, Susanne. Deine Abwehr und dein Verlangen in dieser Konstellation scheinen mir tiefer gehender zu sein, als du dir selbst eingestehen willst. Was dir fehlt, ist ein wirklicher Partner.»
Susanne lachte verunsichert. «Ich hatte nie das Verlangen nach einer festen Beziehung. Mein Beruf erfüllt mich vollauf und er beansprucht mich auch rund um die Uhr.»
«Ein Beruf ist kein Partnerersatz. Glaub mir, ich weiss, wovon ich spreche. Ich lebte mal in einer Partnerschaft mit einem jungen Mann. Unsere Interessen waren jedoch zu unterschiedlich, das konnte nicht gut gehen. Aber fehlen tut es mir schon auch. Darum beanspruche ich manchmal auch die Dienste gehobener Escort-Agenturen. Dies ist aber nur eine Ersatzhandlung. Überlege mal, wie deine Gefühle reagieren, wenn du mit Paaren zusammen bist. Ist da nicht ein Unbehagen des Alleinseins, ja vielleicht gar Neid.»
Wieder einmal fühlte Susanne sich von Tom überfahren, diesmal mit harter Konfrontation. Es war ihr, wie wenn er eine Schleuse geöffnet hätte, die Gedanken welche auf sie einstürmten, waren nicht mehr zu bremsen. Sie war den Tränen nahe, als Tom seine Hand auf die ihre legte. Am liebsten hätte sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Doch sie liess es bleiben, da sie wusste, sie würde dann zu heulen beginnen.
Nach langer Pause, er hatte einen Arm um sie gelegt, als er merkte, dass sie wieder gefasster war, sah sie ihn an.
«Du hast recht. Ich verrannte mich so in meinen Beruf, dass ich meine wahren Bedürfnisse nicht mehr wahrnahm. Deine Art, wie du mit mir umgegangen bist, unsere Gespräche, die hatten da dieses Verschüttete wahrscheinlich geweckt. Und ausgerechnet du, der Mann der dies bewirkte, ist für mich unerreichbar.» Bei den letzten Worten begann sie, zu lächeln.