Abschnitte
Andrea legte den Kopf schief und hoffte insgeheim, der Dampf, der aus der warmen Kaffeetasse in die kühle Herbstluft stieg, würde sie unsichtbar machen.
Wie eine Detektivin aus einem dieser alten Filme kam sie sich vor, als sie dasaß und die Frau beobachtete, die gerade ihren grauen Wollmantel abstreifte, bevor sie sich dem großen, grauhaarigen Mann gegenübersetzte, der, wie Andrea fand, ein ziemlich überhebliches Lächeln hatte.
Andrea war froh, dass die Frau mit dem Rücken zu ihr saß, denn sie war sich mittlerweile sicher, dass sie genau die war, für die sie sie hielt.
Da saß Susanne also, noch immer groß und elegant mit blond gefärbten Haaren, um die grauen Strähnen zu überdecken, die man am Scheitel erkennen konnte, wenn man ganz genau hinsah. Wie sie dasaß, auf dem roten Ledersofa, den Rücken zu Andrea gewandt, könnte man meinen, das Mädchen von früher, in dessen Schatten Andrea fast 19 Jahre lang gestanden hatte, säße wieder dort. Unverändert zurückgekehrt von einer langen Reise, auf der sie ihr Ziel letztendlich doch nicht erreicht hatte.
Bei dem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Unverändert, noch immer perfekt genug, um sich in den Vordergrund zu drängen und vergessen zu machen, dass Andrea überhaupt anwesend war. Intelligent, talentiert und hübsch, sodass jeder begeistert von ihr war, wenn er sie nur ansah. Aber es hatte ihr nicht gereicht, was sie zuhause hätte erreichen können und wenn Andrea genauer darüber nachdachte, dann wäre es auch fast lächerlich gewesen, wenn jemand wie Susanne damals in Kröverath geblieben und für den Rest ihres Lebens Kühe gefüttert hätte.
Sie war doch eigentlich schon immer wie ein Filmstar gewesen, der sich auf einen Bauernhof verirrt hatte. Andrea lächelte und dachte an den Tag zurück, an dem sich die Wege zweier völlig unterschiedlicher junger Frauen, die es trotzdem irgendwie geschafft hatten, beste Freundinnen zu werden, endgültig getrennt hatten.
„Aber letztendlich“, sagte Susanne, die in der hautengen Jeanshose, die Andrea schon seit einer halben Ewigkeit neidisch beäugte, lang ausgestreckt auf dem Bett lag, „Letztendlich muss doch irgendwann jeder einsehen, dass im Leben nichts für immer ist. Man denkt das am Anfang immer und dann ist man enttäuscht, wenn es doch nicht so ist.
Vielleicht müssen wir einfach aufhören, dass zu glauben.“ Sie drehte sich schwungvoll auf den Bauch und sah Andrea mit einer fast unheimlichen Entschlossenheit in ihren blauen Augen an, die durch die verschmierte Wimperntusche noch stechender wirkten.
„Hm“, machte Andrea und schluckte den Rest der inzwischen viel zu warmen Cola runter, woraufhin sie erst einmal angewidert das Gesicht verzog.
„Denkst du nicht, dass es eher auf die Person ankommt? Ich meine, nur weil Peter anders war, als du anfangs dachtest, muss das doch noch lange nicht heißen, dass es mit jedem so laufen muss.
Was ist denn mit uns? Wir kennen uns schon seit über 12 Jahren!“
„Schon, aber was sind denn schon 12 Jahre gegen ein ganzes Leben. Versteh mich jetzt nicht falsch, aber wahrscheinlich ist es doch so, dass ein bestimmter Mensch immer nur für einen Lebensabschnitt da ist und wenn ein neuer beginnt, dann kommen auch neue Menschen.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und zuckte mit den Schultern. „Es ist eben einfach so“, sagte sie dann, mehr zu sich selbst als zu Andrea.
„Ich glaube, es ist Zeit“, Andrea fuhr vor Schreck zusammen, so plötzlich durchbrach dieser Satz die Stille.
„Zeit für was?“
„Na Zeit um was Neues anzufangen!“ Susannes Augen funkelten vor Begeisterung.
„Da draußen gibt es so viel, das wir entdecken können und wir sitzen seit 18 Jahren in diesem Kaff fest.“ Susanne zog die Augenbrauen zusammen, um ihre Wut gegen sich selbst zum Ausdruck zu bringen, sprang auf und stellte sich ans Fenster.
„Hier gibt es doch nur Kuhmist!“ Sie lachte kurz und schrill auf, man hätte meinen können, sie habe mit einem Mal den Verstand verloren. Andrea stützte nur den Kopf in die Hände und sah zu Susanne auf. Wie ein Hund, der auf ein wenig Aufmerksamkeit hoffte, musste das aussehen und im Grunde war es ja auch genau das, worum Susanne sich nicht bemühen musste und wovon Andrea gerne etwas mehr gehabt hätte. Manchmal glaubte sie, Susanne würde sie nur ständig mit sich herumschleifen, um neben einem Mauerblümchen wie ihr noch mehr hervorzustechen. Sie wand sich wieder Andrea zu. Ein zartes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Selbst mit verschmierten Augen und völlig zerzausten Haaren sah sie noch perfekt aus. An Susanne sahen solche Dinge immer aus, als seien sie genau so gewollt und als sei verschmierte Wimperntusche gerade schwer angesagt. Es ärgerte Andrea, dass man mit einem solchen Aussehen da draußen praktisch schon gewonnen hatte. Man brauchte nicht sonderlich intelligent zu sein, musste nicht fünf Sprachen sprechen und die deutsche Geschichte vom Beginn des Kaiserreichs bis hin zur Teilung auswendig können. Nein, man musste doch eigentlich nur Glück haben. Glück, so auszusehen, dass sich jeder nach einem umdrehte, wenn man eine Straße hinunterschlenderte. Glück, mit einem einzigen Lächeln alles erreichen zu können. Glück, das man hatte, wie Susanne, oder eben nicht, wie sie selbst. Die Welt war doch ungerecht. Und alles, was sie je über Fleiß und Lohn gelernt hatte, war totaler Müll, wahrscheinlich erzählten es sich die Leute nur, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen, weil sie viel zu hässlich war und jemandem wie ihr alle Hoffnung nahm.
„Kuhmist und Leute, die ihr eigenes Leben so langweilig finden, dass sie ihre Nasen in das der Anderen stecken müssen. Wir sind doch viel zu jung, um unsere Zeit hier zu vergeuden. Es könnte alles viel besser sein.“ Susanne achtete nicht darauf, dass Andrea ihr nur halbherzig zuhörte und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Insgeheim wusste Susanne nur allzu gut, dass sie dachte, sie wäre für sie in diesem Moment so etwas wie eine dieser geschmacklosen, dickbäuchigen Vasen, in denen ihre Mutter immer widerliche Kunstblumen irgendwo in einer Ecke des Hauses platzierte, die sie für zu leer und trostlos hielt. Dummerweise bemerkte sie nicht, dass eine alte, dickbäuchige Vase mit einem Strauß verstaubter Stoffblumen in einer von Allen vergessenen, dunklen Hausecke wohl tausendmal mehr Trostlosigkeit ausstrahlte, als jene dunkle Ecke des Hauses ohne eine solche Vase und stattdessen mit einigen Spinnen, die mit freudiger Erwartung auf die ein oder andere Fliege warteten, die sich in ihr Netz verirrte. Manchmal, wenn sie Andrea so dasitzen sah, dachte sie darüber nach, mit ihr zu reden aber nie wusste sie, wie sie solch ein Gespräch anfangen sollte. Sie wusste, dass sie nicht besonders gut darin war, die richtigen Worte zu finden und wenn sie länger darüber nachdachte, kam sie immer zu dem Schluss, dass ihre Freundin sie in diesem Moment sicherlich für all das verfluchte, das sie hatte und Andrea nun mal nicht. Das machte sie immer so wütend, dass sie es sich schließlich doch jedes Mal verkniff, etwas zu sagen wie: „Weißt du, dass ich dich schon immer um deine Klugheit beneidet habe?“ Andrea war doch gar nicht so schlecht dran, wie sie immer glaubte. Das eigentliche Problem war, dass sie ein riesengroßer Jammerlappen war, der ihr immerzu voller Neid auf ihre neuen Jeans starrte, als wollte sie sie ihr im nächsten Augenblick vom Leib reißen. Susanne steckte beide Hände in die Taschen der Jeans und drehte sich einmal um die eigene Achse, wie eins dieser Modells in den Werbespots, dann ließ sie sich schwungvoll auf das durchgesessene Sofa neben Andrea fallen. „Wir könnten abhauen. Es wäre ganz einfach und fürs Erste müsste niemand davon erfahren.
Wir könnten was richtig Großes machen.“
Andrea rutschte unruhig auf dem roten Stoff hin und her, denn Susannes mit Wimperntusche verschmierte Augen ruhten auf ihr und sie erwartete, dass Andrea ihr begeistert zustimmte, so wie es jeder tat.
Andrea musterte ihre Freundin aus dem Augenwinkel. Sie hatte ein wenig Ähnlichkeit mit einem Pandabären, der sie aufmunternd anlächelte. „Es ist erschreckend, aber selbst als deprimierter Pandabär sieht sie noch gut aus.“, dachte sie und musste plötzlich laut lachen.
Susanne fiel augenblicklich in ihr Lachen ein, obwohl sie keine Ahnung hatte, worum es überhaupt ging, aber so etwas war ihr schon immer egal gewesen, denn mit der Zeit hatte sie gelernt, dass die Menschen sie noch mehr liebten, wenn sie lachte, also tat sie genau das sobald sich eine Gelegenheit dazu bot und egal, ob sie gerade glücklich oder traurig war. Gefühle zu ignorieren konnte man lernen und irgendwann ging es ganz leicht. Susanne suchte nie nach Gründen, das hielt doch nur unnötig auf und früher oder später trieb es einen in den Wahnsinn, weil es für die meisten Dinge ohnehin keine Erklärung gab. Die Suche nach einem logischen Weg, die Dinge zu betrachten war für sie nicht mehr als eine lästige Angewohnheit der Menschen, die zu nichts als Unzufriedenheit und einer Menge vergeudeter Lebenszeit führte. Die Dinge kamen wie sie eben kamen und sie versuchte sich nicht mit so komplizierten Dingen wie Erklärungen auseinanderzusetzen.
„Also bist du dabei?“, fragte Susanne, obwohl sie doch eigentlich schon wusste, dass sie mal wieder gewonnen hatte.
„Ja, ich bin dabei.“, antwortete Andrea.
„Warte um halb 12 vor der Scheune auf mich.“
Als Andrea Susannes Zimmertür öffnete und auf den langen Flur hinaustrat konnte sie wie schon so oft nicht glauben, dass sie mal wieder einer von Susannes waghalsigen Ideen zugestimmt hatte, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Sie schüttelte den Kopf, um die lästigen Gedanken endlich loszuwerden, die sich darin angestaut hatten. Es wäre wohl das Beste, einfach mal mitzumachen und ein kleines Abenteuer zu erleben, statt sich ewig vor etwas zu verstecken, von dem sie noch nicht einmal genau wusste, was es eigentlich war. Wahrscheinlich war es nichts als ihre eigene Feigheit, die ihr im Weg stand. Sie war jetzt alt genug, auch mal etwas Waghalsiges zu unternehmen, etwas, woran sie sich ihr Leben lang erinnern würde und wie sie Susanne kannte, würden sie ohnehin nach einigen Tagen wieder nach Hause fahren, weil es nicht so perfekt sein würde, wie Susanne es sich ausgemalt hatte und damit unter ihrer Würde, nicht mehr als eine Vergeudung kostbarerer Zeit.
Aus dem Wohnzimmer drang Musik, vermischt mit der Stimme von Susannes Mutter, die sich darüber aufregte, wie so etwas Verdorbenes, Unansehnliches wie die Rolling Stones überhaupt so erfolgreich werden konnte. „Wahrscheinlich wegen Leuten wie eurer Tochter, die ihr Zimmer mit riesigen Postern von Mick Jagger tapezieren“, dachte Andrea.
Susannes Vater, der in seinem uralten Ohrensessel saß zuckte nur mit den Schultern. Er sah wie immer aus, als habe er nächtelang nicht geschlafen und ab uns zu mal eine trockene Scheibe Brot zu essen bekommen. Seit seine blassblonden Haare begonnen hatten, auszufallen, hatte sich dieses Bild mehr und mehr verstärkt und in Andreas Kopf verankert. Irgendwie strahlte er die Trostlosigkeit, die in diesem Haus in jeder Ecke steckte ähnlich stark aus, wie diese geschmacklosen Vasen mit den verstaubten Stoffblumen darin, die Susannes Mutter in allen möglichen Winkeln des Hauses platzierte und anschließend wieder vergaß.
Andrea räusperte sich kurz und steckte den Kopf durch den Türspalt. „Ich gehe jetzt mal nach Hause“, sagte sie.
„Jetzt schon? Oh, das ist aber schade. Ihr habt euch doch nicht gestritten oder? Susanne scheint momentan abweisender als sonst zu sein. Wahrscheinlich wegen der Schule oder diesem Jungen, der ein paar Mal hier war, ich glaube, er hieß Peter…“
„Nein, alles in Ordnung, ich hab nur versprochen, meiner Mutter mit dem Abendessen zu helfen, weil wir heute Abend Besuch bekommen“, log Andrea, denn eigentlich wollte sie ein paar Sachen packen, um nachts heimlich mit Susanne wegzufahren.
„Na dann kannst du ja morgen nochmal vorbeischauen.“
„Mach ich, bis dann!“ Andrea zog die Tür wieder zu und verließ das Haus.
Als sie pünktlich um halb 12 vor die Scheune trat, wunderte es sie nicht, dass Susanne noch nicht da war. Susanne war noch nie pünktlich gewesen, soweit sie sich zurückerinnern konnte.
Um viertel vor 12 kam sie schließlich mit schnellen Schritten und einem strahlenden Lächeln auf Andrea zu. Susanne umarmte sie so schwungvoll, dass Andrea fast auf die matschige, dunkelbraune Erde gefallen wäre, auf der stellenweise feuchtes Stroh klebte.
„Das ist so aufregend! Ich kann es noch gar nicht glauben, wir machen das wirklich, wir hauen ab!“ Andrea hielt sich schützend die Hand vor das Ohr, in das Susanne ihre Freude über ihr Vorhaben hineingebrüllt hatte und hoffte, dass sie davon nicht taub werden würde, als ihre Freundin ihren Arm packte, um sie hinter sich herzuziehen.
„Susanne, wie kommen wir eigentlich hier weg, ohne ein Auto?“, fragte sie, als sie in Richtung Straße liefen.
„Wer hat gesagt, dass wir kein Auto haben?“
„Selbst wenn wir eins hätten, würde uns das auch nicht viel weiterhelfen, wir haben ja nicht mal einen Führerschein“, langsam breitete sich dieses ungute Gefühl wieder in Andreas Magen aus, das sie die ganze Zeit über so erfolgreich unterdrückt hatte.
„Und genau das macht die ganze Sache ja so spannend“, antwortete Susanne.
Andrea beschloss, erst einmal gar nichts mehr zu sagen, sondern abzuwarten. Susanne schien sich schließlich sehr sicher zu sein, dass ihr Plan funktionieren würde.
Kurz vor einer Tankstelle einige Meter hinter dem Dorf blieb sie stehen und ließ ihre Tasche neben sich ins Gras fallen.
„Was soll das denn werden?“, fragte Andrea nach einiger Zeit, in der Susanne sie ganz vergessen zu haben schien und erwartungsvoll die leere Straße hinunterstarrte.
„Jetzt warten wir“, sagte sie nur.
„Worauf willst du denn hier warten?“
„Na auf ein Auto, dass uns mitnimmt, worauf denn sonst?“ Susanne sah Andrea belustigt an.
„Ist das dein Ernst?“
„Jetzt schau mal nicht so verzweifelt. Uns passiert schon nichts. Das ist ganz einfach die beste Art von hier wegzukommen.“
Hier würde so schnell kein Auto auftauchen und Andrea kannte Susannes Ungeduld nur allzu gut, also würden sie bestimmt am Morgen wie gewohnt in ihren Bette aufwachen und so tun, als hätte es diese Nacht nie gegeben. Vielleicht würden sie später einmal sogar darüber lachen.
Mit diesem Gedanken blieb sie schweigend neben Susanne stehen und fragte sich, seit wann genau sie sich schon nichts mehr zu sagen hatten. Waren es Tage, Wochen oder doch schon Monate?
Sie hatte die Antwort auf die Frage noch nicht gefunden, als am dunklen Horizont die Lichter zweier Autoscheinwerfern erschienen.
Susanne gab einen Ton von sich, nach dem Andrea glaubte, endgültig einen Hörsturz erlitten zu haben. Sie begann am Straßenrand auf und ab zu hüpfen und mit beiden Armen in der Nachtluft herumzufuchteln.
„Ich an seiner Stelle hätte Angst einer Verrückten zum Opfer zu fallen“, dachte Andrea, als der rot lackierte Audi neben Susanne zum Stehen kam.
Ein Junge mit brauen Harren und einer Zigarette im Mundwinkel steckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Autofenster.
Natürlich, es war mal wieder jemand der von Susanne magisch angezogen wurde. Einer von der Sorte Junge, der sein erstes eigenes Auto besaß und aus diesem Grund davon überzeugt war, dass ihm die ganze Welt gehörte.
Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang glauben können, irgendein älteres Ehepaar könnte im Auto sitzen, sich angesichts der am Straßenrand herumhüpfenden Susanne nur verstohlen ansehen, um dann die Köpfe zu schütteln und vorbeizufahren?
„Wo soll’s denn so spät noch hingehen, Mädels?“, fragte er und sein Blick glitt kurz über Andrea, die etwas Abseits stehen geblieben war, bevor er sich wieder Susanne zuwandte.
„Beeindruckend, er hat mich bemerkt!“, schoss es Andrea durch den Kopf. Der skeptische Ausdruck in ihrem Gesicht schien nicht sonderlich einladend zu wirken, denn der Fahrer des Autos blickte im ersten Moment drein, als sei sie eine gefährliche Massenmörderin, die sich gerade ihr nächstes Opfer ausgesucht hatte.
Sie musste lachen. Sie als Serienkillerin und Susanne als ihre Komplizin, die ihre Opfer in die Falle lockte. Das passte verdammt gut.
„Schön, dass du dich so sehr freust. Nimm deine Tasche und steig ein, der nimmt uns mit.“ Susanne sah sie irritiert an, fragte jedoch nicht weiter nach dem Grund für Andreas plötzliche gute Laune.
Wenig später saß Susanne neben dem Besitzer des Autos, der sich ihnen als Michael vorgestellt hatte, während Andrea die Rückbank mit ihren Taschen teilte und hoffte, dass sie möglichst viele Pausen machen würden, denn lange ließ es sich so eingepfercht nicht aushalten.
Sie glaubte gehört zu haben, dass Michael auf dem Weg nach Frankfurt war, als Grund hatte er irgendetwas von einem Studium gesagt.
Der Rauch seiner Zigarette hing im ganzen Auto. Es war wie in einer dieser überfüllten Kneipen, in die Susanne sie manchmal mitgeschleift hatte, nur dass es da auch noch nach abgestandenem Bier roch.
Sie konnte nicht wirklich verstehen, was Susanne mit diesem Michael redete, denn eine Musikkassette spielte „Let it be“ von den Beatles und die Lautstärke war fast voll aufgedreht.
Susanne konnte die Beatles nicht leiden, was sie sich jetzt jedoch nicht anmerken ließ, noch nicht einmal als Michael beim Refrain seine Zigarette aus dem Fenster warf und lauthals mitgrölte.
Andrea erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, an dem Susanne damit begonnen hatte, ihr Zimmer mit unzähligen Plakaten der Rolling Stones zu tapezieren.
„Ich hab es ja von Anfang an gesagt: Irgendwann denkt niemand mehr an die Beatles, irgendwann beginnt eine bessere Zeit, eine neue Ära!“
Andrea hatte daraufhin nur mit: „Schätze, das ist dann wohl jetzt“, geantwortet. Sie hatte die Beatles gemocht, aber alles ging einmal zu Ende und sie hatte beschlossen, über so etwas keine Diskussion mit Susanne zu führen. Es hätte nur in einem unnötigen Streit geendet.
Das Lachen von Susanne und Michael mischte sich mit Paul McCartneys Stimme, der ein letztes Mal den Refrain anstimmte.
Irgendwie machte es Andrea wütend, vergessen dort hinten auf der Rückbank zu sitzen und sie fragte sich, warum Susanne sie überhaupt mitgenommen hatte.
Ganz einfach, wie sie sich mit ihr im Schlepptau eben doch noch etwas sicherer fühlte, als allein. Es war wie bei diesen Menschen, die sich einen Hund anschaffte und ihn irgendwann im Wald aussetzten, wenn sie ihn nicht mehr brauchten.
Früher oder später würde Susanne sie auch irgendwo allein sitzen lassen.
„Tut mir leid, Andrea du warst eine wirklich gute Freundin, aber Jeder verändert sich und Jeder lernt irgendwann einmal neue Freunde kennen“, würde sie wahrscheinlich sagen.
Andrea wusste, dass sie aussteigen musste, wenn sie verhindern wollte, dass sie allein in einer fremden Stadt landete. Irgendwie hatte sie es ja von Anfang an gewusst, aber inzwischen hatte sich dieses ungute Gefühl in ihrem Bauch ausgebreitet und verursachte schreckliche Magenschmerzen. Die Sorte von Magenschmerzen, die nur dann verschwand, wenn man umgehend das tat, was man selbst für richtig hielt.
„Micheal!“ Natürlich hörte er sie nicht. Als sie ihn an der Schulter berührte, fuhr er erschrocken zusammen und konnte gerade noch verhindern, dass er das Auto in den Graben lenkte.
„Kannst du mal kurz anhalten, ich will aussteigen.“
Susanne sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Denkst du nicht, dass es noch ein bisschen früh für die erste Pause ist?“
Andrea ignorierte die Bemerkung, griff nach ihrer Tasche und trat an den Straßenrand, sobald das Auto zum Stehen gekommen war.
„Sag mal, spinnst du? Was soll denn das jetzt werden?“
Susanne war ausgestiegen und sah sie mit einer Mischung aus Ärger und Verständnislosigkeit an.
„Ganz ehrlich, Susanne, ich weiß nicht, wozu du mich überhaupt noch brauchst. Du wolltest raus aus dem Dorf und was Neues erleben, nicht ich.“
„Oh verstehe, du hast auf einmal doch Angst bekommen. Hätte ich mir eigentlich denken können. Du kannst nie irgendetwas zu Ende bringen!“
„Es geht doch nicht darum, es ist einfach so, dass du was Neues anfangen willst und ich eben noch nicht.“
„Du denkst, ich mache das Alles nur so aus Spaß? Du hast echt keine Ahnung, Andrea! Verdammt, ich hab den Abschluss nicht geschafft. Ich will weg von Zuhause, weil ich genau weiß, was für einen Aufstand das gibt. Ich bin nicht nur zu einem kleinen Abenteuer aufgebrochen, ich bin wirklich weggelaufen! Für mich ist nicht Alles so einfach, wie du denkst. Mir kommt nicht Alles zugeflogen, ohne das ich etwas dafür tun muss und ich würde das hier nicht machen, wenn ich es nicht wirklich für nötig halten würde!“
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Man hörte nichts als das leise Brummen des Motors neben ihnen.
„Warum hast du mir das nie gesagt?“ Andrea fühlte sich mit einem Mal so anders als zuvor, schuldig, gemein und irgendwie traurig.
„Ich konnte es nicht und ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil jetzt ein neuer Abschnitt beginnt und wir daran eben nichts ändern können. Wenn du wirklich zurück willst, dann soll es so sein. Dann habe ich mich eben anders entschieden, als du. Sollen wir dich zurück zum Dorf bringen?“
Andrea hatte genickt und wenig später hatte sie sich wieder in ihr Zimmer geschlichen.
Susanne war nicht lange weggeblieben. Andrea hatte nie erfahren, aus welchem Grund genau sie so schnell wieder zurückgekommen war, weil ihre Wege sich in dieser Nacht getrennt und danach nie wieder gekreuzt hatten.
Andrea war zum Studieren nach Wiesbaden gezogen und Susanne hatte ihr Abitur nachgeholt.
In den darauf folgenden Jahren waren beide nie mehr nach Kröverath zurückgegangen und beide hatten sich bis zu diesem Tag nie wiedergesehen.
„Es ist schon komisch“, dachte Andrea, als sie zusah, wie Susanne und der grauhaarige Mann aufstanden und sich lachend entfernten, „es ist wirklich komisch, wie plötzlich etwas so Großes vorbei sein kann.“
Aber sie musste wohl einsehen, dass es so war, wie damals mit den Beatles und den Stones: Irgendwann hatte Alles mal ein Ende. Es musste wohl so sein, damit immer wieder etwas Neues beginnen konnte.