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Abschlussrede
Sehr geehrter Herr Dr. Meier,
Dies ist auch für mich ein ergreifender Augenblick. Dass ich einmal hier oben stehen und eine Rede vor Ihnen halten würde, hätte mir wohl keiner zugetraut, und besonders Sie haben mich das auch deutlich spüren lassen.
Heute bin ich Ihnen dankbar für die Verachtung, die Sie mir täglich durch Verweise, schlechte Noten oder Nachsitzen haben zukommen lassen. Im Gegensatz zu früher bin ich heute sicherlich in der Lage, beurteilen zu können, wieviel Gutes Sie mir dadurch getan haben. Jetzt erst erkenne ich den wahren Beweggrund für Ihr Verhalten. Die Zurückweisungen und Schmähungen ihrerseits waren nicht etwa böse gemeint- nein, sie sollten mein Selbstwertgefühl sozusagen auto-immunisieren! Ich sollte lernen, nicht auf Freundlichkeit angewiesen zu sein- was heutzutage wirklich wichtig ist, wenn man sich durchsetzen will. Das Fehlen jeglicher Ermutigung bei der Arbeit- es war eine Lektion in Selbstdisziplin und bewirkte, dass ich nie den Kontakt zur Realität verlor. Wie weise haben Sie erkannt, dass ein Lob für einen Fortschritt, eine Verbesserung oder eine Note über dem Durchschnitt mich leicht hätte abheben und überheblich werden lassen. Ich selbst musste mich antreiben, um weiter zu arbeiten und zu lernen in der Hoffnung, irgendwann Ihren Ansprüchen genügen zu können. Zu viele ermutigende Worte hätten mich da leicht in den Glauben versetzen können, ich hätte es fast geschafft und müsste mich nicht mehr anstrengen. Stundenlang ließen Sie mich vorne an der Tafel Transferaufgaben lösen, die ich leider nicht beantworten konnte, was die Klasse oft zu höhnischem Gelächter verleitete. Dass Sie dies noch durch hämische Bemerkungen förderten, anstatt dem Einhalt zu gebieten, hatte sicherlich seine Berechtigung. Was den Schüler nicht umbringt, macht ihn hart; und ich bin sicher, ich werde künftig bei Reden oder Referaten vor Publikum viel selbstsicherer sein: es gibt wohl kaum etwas, was mich noch aus der Fassung bringen könnte. Diesen Panzer aus Abgestumpftheit und Gewohnheit habe ich Ihnen zu verdanken. Danke.
Eine Zeitlang habe ich versucht, Strategien zu entwickeln, durch die ich glaubte, unbemerkt durch den Alltag kommen zu können. Ich musste feststellen, dass es nichts half und Sie mich in jeder Maskierung- egal ob ich mich als fleißiger, ruhiger oder taubstummer Schüler zu verkleiden suchte- gefunden und ans Licht gezerrt haben. Das geschah natürlich nur mit den besten Absichten: wie hätte je etwas aus mir werden sollen, wenn ich nicht gelernt hätte, immer und überall meinen Mann zu stehen?
Obwohl Sie nie ein persönliches Wort mit mir gesprochen hatten, wussten Sie komischerweise um meine Vorlieben. Um mir mehr Privatsphäre zu ermöglichen, gaben Sie mir die Möglichkeit, in einer Einzelbank zu sitzen. Sie ahnten wohl, dass ich leicht abzulenken bin, und stellten die Bank deshalb weit entfernt vom Fenster, dafür aber neben die Tafel mit der Brandschutzordnung. Letzteres will ich nicht als weiteren Zuneigungsbeweis überinterpretieren; es wäre wohl zu weit hergeholt zu glauben, Sie wollten dafür sorgen, dass ich mich mit den Fluchtwegen bestens vertraut machen könnte. Sie lasen meine Aufsätze deshalb immer laut vor der Klasse vor, weil Sie das große Potential in mir erkannten und mir durch öffentliche Kritik die Gelegenheit geben wollten, mich weiterzuentwickeln.
All die Jahre, während Sie mein Klassenlehrer waren, haben Sie mich wirklich mit den besten Absichten auf mein späteres Leben vorbereitet, Herr Doktor. Aber Ihre größte erzieherische Leistung war wohl, mich wegen eines Formfehlers durch die Abschlußprüfung fallen zu lassen. Sie müssen geahnt haben, dass ich noch keine Ahnung hatte, was ich später einmal machen soll, und wollten mich wohl in einem weiteren Jahr unter Ihrer Aufsicht bei der Entscheidung unterstützen. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle mitteilen, dass ich eine Entscheidung gefällt habe.
Ich kann Ihr Gesicht ganz deutlich sehen, trotz der Menge, die sich versammelt hat; komisch, es sticht richtig hervor aus dem bunten Haufen an Menschen- und an Ihrem Gesichtsausdruck glaube ich zu erkennen, dass Sie mich nicht verstehen. Vielleicht sollte ich etwas lauter reden, aber schließlich haben Sie mir beigebracht, leise zu sein und nicht aufzumucken?
Es ist aber auch schwer, hier oben vom Schuldach alle Ohren dort unten zu erreichen...Kommt Ihnen die Situation nicht bekannt vor? Ich alleine vor allen anderen?
Es war eine pädagogische Meisterleistung, wie Sie mich während all der Jahre immer aufgefangen haben, wenn ich drohte, Selbstbewusstsein, eine eigene Meinung oder Freude am Lernen zu entwickeln.
Dann versuchen Sie das doch jetzt auch mal...