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Abschied
Mit einem angenehmen Gefühl im Bauch mache ich mich auf den Weg in die Schule.
Ich denke an Erfurt. Ich genieße die Angst, die die Lehrer nun vor ihren Schülern haben. Die Beachtung, die wir momentan von ihnen erhalten, tut mir richtig gut.
Bedroht fühle ich mich nicht. Falls je ein Schüler meiner Schule Ähnliches vorhat, wird er wohl kaum seinen Mitschülern etwas antun.
Ich komme in der Schule an und trotte zu meinem Klassenzimmer. In der ersten und zweiten Stunde habe ich Mathe. Auf diese Stunden freue ich mich immer besonders.
Denn meine Lehrerin wird nicht mit uns fertig. Sie hat keine Autorität und eindeutig den Beruf verfehlt. In fast jeder Stunde machen wir uns lustig über sie, reden dazwischen und lassen sie kaum zu Wort kommen. Wir haben meistens was zu lachen.
Manchmal tut sie mir ja leid und ich nehme mir vor, ab jetzt nicht mehr so gemein zu sein und sie in Ruhe ihren Unterricht machen zu lassen.
Aber wenn dann wieder jemand anfängt sie zu provozieren, kann ich mich nicht mehr zurückhalten und mache auch mit. Wir sind ihr überlegen. Ich merke richtig, wie sie in jeder Stunde von Beginn an Angst hat, gleich könne wieder jemand anfangen sie zu verletzen.
Erst vor kurzem ist die Hälfte der Klasse, aus Solidarität mit einer der Klasse
Verwiesenen, auf dem Gang verschwunden. Dann ist eine mutige Schülerin, die ich sehr bewundere, zurück in das Klassenzimmer um sich einen Stuhl zu holen. Natürlich wollte sie sich im Gang auf keinen Stuhl setzen, sondern die Lehrerin provozieren.
Es gab dann richtig was zu lachen für uns. Die Lehrerin verbot ihr, den Stuhl mitzunehmen. Sie steuerte trotzdem mit dem Stuhl auf die Tür zu. Die Lehrerin kam und packte ein Ende. Da standen also Lehrerin und Schülerin und zerrten an einem Stuhl. Die Schülerin aus Freude am Gemeinsein, die Lehrerin aus Verzweiflung. Wir schauten zu und genossen. Die Schülerin siegte schließlich und nahm den Stuhl mit sich.
Um in Ruhe gelassen zu werden, schloss die Lehrerin die Tür von innen zu und unterrichtete den in der Klasse verbliebenen Rest.
Wir setzten noch eins drauf, öffneten im Klassenzimmer nebenan das hinterste Fenster und baten schreiend und ans Fenster unseres Zimmers klopfend um Einlass. Das war schon eine komische Situation.
Irgendwann hat sie uns dann reingelassen. Über ihre Klasseneinträge lachten wir nur. Wer nach der Stunde kam und beteuerte er wäre nur auf der Toilette gewesen, wurde wieder gestrichen.
Ab und zu machen wir uns auch den Spaß langweilige Parties durch Pizzabestellungen zu ihrem Haus und Anrufe bei ihr mit geheucheltem Interesse
aufzuheitern. Ich tätige die Anrufe nie selbst, aber animiere dazu.
Ich bin spät dran. Auf dem Weg zur Schule habe ich mich nicht sonderlich beeilt, denn in ihre Stunden komme ich in letzter Zeit kaum pünktlich. Ich genieße ihren vorwurfsvollen Blick, den sie mir dann jedesmal zuwirft. Etwas zu sagen traut sie sich nicht.
Jetzt bin ich schon fast eine Viertelstunde zu spät dran. Als ich mich der Klassentür nähere, wundere ich mich darüber, dass kein Lärm von innen zu mir dringt. Sind sie in ein anderes Zimmer gegangen?
Ich entschließe mich im leeren Klassenzimmer zu warten, bis sie in der zweiten Stunde wiederkommen. Als ich die Tür öffne, traue ich meinen Augen kaum.
Was geht hier vor sich? Im Zimmer hält sich meine ganze Klasse auf und trotzdem herrscht Totenstille. Sie sitzen wie erstarrt auf ihren Plätzen und rühren sich nicht. Seltsam ist das. Und was macht denn meine Lehrerin auf dem Pult? Was hält sie da in der Hand? Oh mein Gott! Oh nein! Hilfe! Sie hat einen Revolver! Er ist auf die Klasse gerichtet. In den blassen Gesichtern meiner Klassenkameraden spiegelt sich Todesangst. Es ist kein einziger Atemzug zu vernehmen.
Hat sie mich schon gesehen? Ich glaube nicht. Langsam, jedes Geräusch vermeidend, schleiche ich mich aus ihrem Gesichtsfeld. Jeder Zentimeter, den ich zurücksetze, kostet mich wahnsinnige Anstrengung. Sie darf sich ja nicht umdrehen!
Meine Mitschüler könnten mich verraten. Sie haben mich inzwischen entdeckt und die Hoffnung auf Rettung, die ich in ihnen weckte, können nicht alle nach außen hin verbergen. Hoffentlich sieht sie das nicht. Verdammt! Freut euch nicht zu früh! Wenn ihr euch was anmerken lässt, sind wir alle dran!
Nur noch wenige Schritte, dann habe ich es geschafft aus ihrem Blickfeld zu kommen. Noch drei Schritte, sie schaut immer noch in die Klasse, noch zwei Schritte, ihr Kopf bewegt sich langsam Richtung Tür. Sie wird mich gleich entdecken. Ein Schüler auf der Fensterseite scharrt mit den Füßen auf dem Boden. Sie schaut in seine Richtung. Das war knapp. Und jetzt den letzten Schritt. Geschafft!
Puh. Die Anspannung in mir lässt etwas nach, sie kann mich nun nicht mehr sehen, wenn sie sich umdreht.
Ich renne so schnell ich kann zum Lehrerzimmer. Außer Atem erzähle ich dem nächstbesten Lehrer, was los ist. Sofort wird die Polizei alarmiert. Einige Lehrer begeben sich gleich zum Klassenzimmer um das Schlimmste abzuwenden.
Ich laufe hinter ihnen her, sie nehmen mich nicht wahr. Als wir ankommen, hören wir Schüsse. O mein Gott! Was ist jetzt passiert? Hoffentlich hat sie niemanden getötet.
Das hat sie nicht. Den Anblick, der sich mir im nächsten Augenblick bietet, werde ich wohl nie mehr vergessen. Auf dem Pult liegt zusammengesackt und blutverschmiert die Lehrerin. Sie hat sich selbst das Leben genommen. Meine Mitschüler sehen erleichtert aus. Sie sind mit dem Leben davongekommen. Eine Frage drängt sich uns allen auf: Warum hat sie das bloß getan?
Ein Lehrer entdeckt sofort den Brief, den sie in den Händen hält.
Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, aber er liest ihn laut vor:
„Bevor ich mich aus meinem Leben verabschiede, will ich wenigstens einmal erleben, wie es ist, wenn die Schüler vor mir zittern, anstatt ich vor ihnen. Es gibt gewiss schönere Abgänge als diesen, und ich hätte sie alle bevorzugt. Aber ich kann einfach nicht mehr. Nichts ergibt mehr Sinn. Lebt wohl.“
Es sind nicht sehr viele Zeilen. Sie gehen mir jedoch durch Mark und Bein und werden mich wohl nie wieder ganz loslassen.