Was ist neu

Abschied

Mitglied
Beitritt
21.02.2002
Beiträge
8
Zuletzt bearbeitet:

Abschied

Mit einem angenehmen Gefühl im Bauch mache ich mich auf den Weg in die Schule.
Ich denke an Erfurt. Ich genieße die Angst, die die Lehrer nun vor ihren Schülern haben. Die Beachtung, die wir momentan von ihnen erhalten, tut mir richtig gut.
Bedroht fühle ich mich nicht. Falls je ein Schüler meiner Schule Ähnliches vorhat, wird er wohl kaum seinen Mitschülern etwas antun.

Ich komme in der Schule an und trotte zu meinem Klassenzimmer. In der ersten und zweiten Stunde habe ich Mathe. Auf diese Stunden freue ich mich immer besonders.
Denn meine Lehrerin wird nicht mit uns fertig. Sie hat keine Autorität und eindeutig den Beruf verfehlt. In fast jeder Stunde machen wir uns lustig über sie, reden dazwischen und lassen sie kaum zu Wort kommen. Wir haben meistens was zu lachen.
Manchmal tut sie mir ja leid und ich nehme mir vor, ab jetzt nicht mehr so gemein zu sein und sie in Ruhe ihren Unterricht machen zu lassen.
Aber wenn dann wieder jemand anfängt sie zu provozieren, kann ich mich nicht mehr zurückhalten und mache auch mit. Wir sind ihr überlegen. Ich merke richtig, wie sie in jeder Stunde von Beginn an Angst hat, gleich könne wieder jemand anfangen sie zu verletzen.
Erst vor kurzem ist die Hälfte der Klasse, aus Solidarität mit einer der Klasse
Verwiesenen, auf dem Gang verschwunden. Dann ist eine mutige Schülerin, die ich sehr bewundere, zurück in das Klassenzimmer um sich einen Stuhl zu holen. Natürlich wollte sie sich im Gang auf keinen Stuhl setzen, sondern die Lehrerin provozieren.
Es gab dann richtig was zu lachen für uns. Die Lehrerin verbot ihr, den Stuhl mitzunehmen. Sie steuerte trotzdem mit dem Stuhl auf die Tür zu. Die Lehrerin kam und packte ein Ende. Da standen also Lehrerin und Schülerin und zerrten an einem Stuhl. Die Schülerin aus Freude am Gemeinsein, die Lehrerin aus Verzweiflung. Wir schauten zu und genossen. Die Schülerin siegte schließlich und nahm den Stuhl mit sich.
Um in Ruhe gelassen zu werden, schloss die Lehrerin die Tür von innen zu und unterrichtete den in der Klasse verbliebenen Rest.
Wir setzten noch eins drauf, öffneten im Klassenzimmer nebenan das hinterste Fenster und baten schreiend und ans Fenster unseres Zimmers klopfend um Einlass. Das war schon eine komische Situation.
Irgendwann hat sie uns dann reingelassen. Über ihre Klasseneinträge lachten wir nur. Wer nach der Stunde kam und beteuerte er wäre nur auf der Toilette gewesen, wurde wieder gestrichen.

Ab und zu machen wir uns auch den Spaß langweilige Parties durch Pizzabestellungen zu ihrem Haus und Anrufe bei ihr mit geheucheltem Interesse
aufzuheitern. Ich tätige die Anrufe nie selbst, aber animiere dazu.

Ich bin spät dran. Auf dem Weg zur Schule habe ich mich nicht sonderlich beeilt, denn in ihre Stunden komme ich in letzter Zeit kaum pünktlich. Ich genieße ihren vorwurfsvollen Blick, den sie mir dann jedesmal zuwirft. Etwas zu sagen traut sie sich nicht.

Jetzt bin ich schon fast eine Viertelstunde zu spät dran. Als ich mich der Klassentür nähere, wundere ich mich darüber, dass kein Lärm von innen zu mir dringt. Sind sie in ein anderes Zimmer gegangen?

Ich entschließe mich im leeren Klassenzimmer zu warten, bis sie in der zweiten Stunde wiederkommen. Als ich die Tür öffne, traue ich meinen Augen kaum.

Was geht hier vor sich? Im Zimmer hält sich meine ganze Klasse auf und trotzdem herrscht Totenstille. Sie sitzen wie erstarrt auf ihren Plätzen und rühren sich nicht. Seltsam ist das. Und was macht denn meine Lehrerin auf dem Pult? Was hält sie da in der Hand? Oh mein Gott! Oh nein! Hilfe! Sie hat einen Revolver! Er ist auf die Klasse gerichtet. In den blassen Gesichtern meiner Klassenkameraden spiegelt sich Todesangst. Es ist kein einziger Atemzug zu vernehmen.
Hat sie mich schon gesehen? Ich glaube nicht. Langsam, jedes Geräusch vermeidend, schleiche ich mich aus ihrem Gesichtsfeld. Jeder Zentimeter, den ich zurücksetze, kostet mich wahnsinnige Anstrengung. Sie darf sich ja nicht umdrehen!
Meine Mitschüler könnten mich verraten. Sie haben mich inzwischen entdeckt und die Hoffnung auf Rettung, die ich in ihnen weckte, können nicht alle nach außen hin verbergen. Hoffentlich sieht sie das nicht. Verdammt! Freut euch nicht zu früh! Wenn ihr euch was anmerken lässt, sind wir alle dran!
Nur noch wenige Schritte, dann habe ich es geschafft aus ihrem Blickfeld zu kommen. Noch drei Schritte, sie schaut immer noch in die Klasse, noch zwei Schritte, ihr Kopf bewegt sich langsam Richtung Tür. Sie wird mich gleich entdecken. Ein Schüler auf der Fensterseite scharrt mit den Füßen auf dem Boden. Sie schaut in seine Richtung. Das war knapp. Und jetzt den letzten Schritt. Geschafft!
Puh. Die Anspannung in mir lässt etwas nach, sie kann mich nun nicht mehr sehen, wenn sie sich umdreht.
Ich renne so schnell ich kann zum Lehrerzimmer. Außer Atem erzähle ich dem nächstbesten Lehrer, was los ist. Sofort wird die Polizei alarmiert. Einige Lehrer begeben sich gleich zum Klassenzimmer um das Schlimmste abzuwenden.
Ich laufe hinter ihnen her, sie nehmen mich nicht wahr. Als wir ankommen, hören wir Schüsse. O mein Gott! Was ist jetzt passiert? Hoffentlich hat sie niemanden getötet.

Das hat sie nicht. Den Anblick, der sich mir im nächsten Augenblick bietet, werde ich wohl nie mehr vergessen. Auf dem Pult liegt zusammengesackt und blutverschmiert die Lehrerin. Sie hat sich selbst das Leben genommen. Meine Mitschüler sehen erleichtert aus. Sie sind mit dem Leben davongekommen. Eine Frage drängt sich uns allen auf: Warum hat sie das bloß getan?
Ein Lehrer entdeckt sofort den Brief, den sie in den Händen hält.
Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, aber er liest ihn laut vor:

„Bevor ich mich aus meinem Leben verabschiede, will ich wenigstens einmal erleben, wie es ist, wenn die Schüler vor mir zittern, anstatt ich vor ihnen. Es gibt gewiss schönere Abgänge als diesen, und ich hätte sie alle bevorzugt. Aber ich kann einfach nicht mehr. Nichts ergibt mehr Sinn. Lebt wohl.“

Es sind nicht sehr viele Zeilen. Sie gehen mir jedoch durch Mark und Bein und werden mich wohl nie wieder ganz loslassen.

 

hi rebecca!
puh, deine geschichte nimmt mich doch mit. du hast dabei an erfuhrt gedacht? ich kann mir vorstellen, dass so was passieren kann. nicht nur die lehrer können die schüler so weit treiben, auch die schüler die lehrer. ich kann mir das so gut vorstellen, weil ich auch mal so eine lehrerin hatte. sie hat sich zwar nicht selbst umgebracht, doch sie hatte mehrere nervenzusammenbrüche. ich war in der fünften klasse und die aus der achten, hat man mir erzählt, sollen sie mal mit tonkugeln beworfen haben. auch wir haben sie geärgert. wir sind anfang der stunde, so dass sie es sehen konnte, einfach an dem raum vorbei nach draußen gegangen. damals habe ich mir nicht vorstellen können, was solche handlungen anrichten können, wenn die person nervlich (nervlich?) sehr schwach ist. aber auch der eine andere kunstlehrer hat sie runtergemacht. schlimm ist so was.
ich finde man sollte sich gegenseitig mehr schätzen, einander nicht so fies behandeln und überhaupt freudnlicher sein. doch die jugend (okay ich gehör daszu, aber die jetzigen fünften klassen sind wirklich frech) wird immer frecher! man scheint gegen eine wand zu reden.

 

hi rebecca,
klasse von 1984, kennst du das buch oder den film?
die idee deiner geschichte ist leider schon vergriffen.
verdammt, musste es gerade der revolver sein?
die problematik ist schwierig. wenn einmal ein lehrer seine authorität verloren hat, ist es fast völlig unmöglich, diese wieder herzustellen. am sinnvollsten ist dann ein schulwechsel. gerade mathematik - mathe ist eigentlich das fach, das einen authoritätsbonus hat. die lehrer sind in der regel nüchtern und das fach selbst sehr schwierig und absolut kühl.
schwieriger haben es da musik oder kunstlehrer.
der text ist solide!
das ist in diesem fall leider gar kein so gutes lob, denn der erzählstil ist m.e. falsch. der schüler hat zu gewählt geredet. die formulierungen waren nicht schülergerecht.
ich überlege, ob ich diese geschichte nicht einfach mal aus meiner vorstellung herausschreibe, damit klar wird, wie ich es meine - wenn interesse besteht.
mit einer lässig legeren sprache würde die geschichte das richtige flair bekommen.

fazit: die geschichte ist solide, der sprachstil wäre bei einer anderen geschichte gut!
es ist ein wenig pech, dass die idee bereits vergeben war.

diese kritik fiel mir diesmal nicht leicht!

bye
barde

 

Hallo Rebecca,

so sehr ich barde schätze - *smile* - muss ich ihm hier wiedersprechen. Ob idee vergeben ist oder nicht - ich finde sie hervorragend. Dies gilt sowohl mit Blick auf auf den bezug zu Erfurt und die Umdrehung der dortigen Ereignisse als auch in Eriunnerung an meine Schulzeit und den Spaß an Quälereien gegenüber einer Lehrerin. Der Text läßt einen nachdenklich werden - sowohl Lehrer und Schüler - aber auch alle sonstigen "Gruppen" die sich "feindlich" gegenüber stehen...das gibts ja jeden tag und überall...... nur man merkts nicht mehr.....weil es nicht so weit kommt, dass jemand stirbt..

diese botschaft deines textes kam sehr gut rüber...und sie war auch dramaturgisch gut, weil ich soetwas am anfang überhaupt nicht erwartet hatte..

zum stilistischen: da gebe ich barde zum teil recht. entweder du versuchst den schulslang stärker reinzubringen..oder du konzentrierst dich noch stärker auf die erzählerrolle - das gibt dem text auch etwas, weil ich eine nüchterne darstellung sehr passend zu der botschaft finde..

so..das wars von mir..

grüße, streicher

 

Hi Moonshadow!
Ich habe bei meiner Geschichte an Erfurt gedacht (Mein Protagonist denkt in den ersten Sätzen übrigens auch an Erfurt...).
Damals ist mir aufgefallen, dass es doch genauso gut andersherum passieren könnte. Schließlich gibt es auch genügend Lehrer, die unter der Schule leiden, nicht nur Schüler. Als Reaktion habe ich etwas sehr Überarbeitungsbedürftiges geschrieben und es erst vor kurzem geändert.
Deine Kritik ist zwar gar keine wirkliche, aber ich finde es schön, dass du dich an deine Schulzeit zurückerinnerst. :-)
Ich finde es erschreckend, dass jüngere Schüler überhaupt kein Verständnis zeigen. So wie ich früher, du...

Hi Barde!
Ich kenne weder das Buch noch den Film. Deshalb konnte ich auch nicht ahnen, dass einige Leute meine Idee als vergriffen empfinden werden... Schade.
Was ist daran so schlimm, dass die Lehrerin einen Revolver hat?
Stört es dich, dass es eine Mathelehrerin ist? Das gibt es auch, ich spreche aus Erfahrung...

Was heißt „m.e.“?
Ich bin Schülerin...es ist meine Sprache. Ich habe schon vieles Selbstkritisches, was ich anfangs drin hatte, weggestrichen, weil ich dachte es passe nicht.
Vielleicht hätte ich mich vor einigen Jahren (als ich ein solche Lehrerin hatte) noch etwas anders ausgedrückt. Aber nicht sonderlich.
Kannst du mir vielleicht Beispiele nennen, die dir zu gewählt vorkommen und Änderungsvorschläge geben? Oder eben die Geschichte so schreiben, wie du es dir vorstellst?
Wieso fiel dir die Kritik nicht leicht?

Hi Streicher!
Mh...kann nicht ein Schüler, der sich „gewählt“ ausdrückt, nicht auch seine Lehrer quälen? Muss es ein etwas Dummer sein, mit flachem Schulslang?

Vielen Dank für eure Kritiken!

Rebecca

 

Versuche dich von dem Gedanken zu lösen, dass die Erzählerin...
Wieso? Sie kann doch von sich selbst erzählen oder was spricht dagegen?!?!:p

 

Stört es dich, dass es eine Mathelehrerin ist?

nein. mich stört nichts an deiner geschichte. m.e. = meines erachtens. ich glaube nur, dass ein anderes fach besser passen würde als mathe. aber das ist geschmackssache.

ich habe jetzt einfach mal eine geschichte "abschied (plagiat)" geschrieben, so wie ich sie schreiben würde. ich sage nicht, dass meine besser ist - es ist nur eine andere version!
ich habe damit auch versucht, das revolverproblem zu umgehen!

bye
barde :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom