Abschied
Seit Tagesanbruch hatte ich mich in die Schatten gedrückt und das Dunkel unter den Brücken gesucht. In der Hitze des Mittags zog ich die Kapuze über die Augen; während der goldenen Stunden des Nachmittags eilte ich an den verlassenen Stadtmauern entlang, grau und braun wie sie. Ich mied Straßen und Gassen, die betriebsam und unruhig waren an diesem Tag, an dem die anderen sich auf das große Fest vorbereiteten. Doch endlich kam der Abend heran. Die Sonne versank hinter Zinnen und Giebeln, die Schatten wurden länger, und das Licht, das mich den Tag über verfolgt hatte, wich der Dämmerung. Als einzige Tageszeit war die Nacht zu ertragen, die mich den anderen ähnlich werden ließ. Nur im Dunkeln konnte ich leben, verborgen vor ihren Blicken.
Denn bei Licht war ich ihnen ausgeliefert. Die Fenster ihrer Verkaufsläden, Handelskontore, Schreibstuben und Wohnungen, die Lampen, die die Straßen erleuchteten, die Fackeln, die die anderen trugen, wenn sie am späten Abend von ihren Versammlungen und Gesprächen heimkehrten, die Laternen der Bediensteten, die ihre Herrschaft durch die abendlichen Straßen geleiteten, sie waren gefräßige Augen, durchdrangen das Dunkel, hielten Ausschau nach mir und wollten mich bannen. Ja, die ganze Stadt war ein großes Auge, sie war darauf aus, Verrat zu üben, sie war ein wacher böser Verfolger, niemals ganz abzuschütteln und niemals ganz vom Schlaf übermannt.
Meine Verbündeten waren das tiefe Braun und das Schwarz der Nacht. Auf Wegen, die mir seit langem vertraut waren, konnte ich in der Dunkelheit die Straßen durchstreifen und die Plätze der anderen umschleichen, selbst kaum auszumachen wie eine graue Katze. Aus finsteren Toreinfahrten und von selten begangenen Treppen, hinter den Brunnen hockend und unter den Büschen ihrer Gärten kauernd sah ich ihnen zu, studierte ihre Mienen und Gesten, beobachtete durch die golden leuchtenden Fenster ihre Verhandlungen und Feste. Ich sah den Ernst und die gemessenen Bewegungen, mit denen sie ihre Gewänder trugen, hörte ihre gewichtigen Worte und nahm die Sicherheit wahr, mit der sie Streitigkeiten austrugen, Verbindungen stifteten, das Ihre vermehrten und sich fortpflanzten. Selten benutzten sie Fäuste und Waffen. Sie lachten einander zu und sprachen miteinander; bei der Begrüßung reichten sie einander die Hände, und sie umarmten und küssten sich.
Zu ihnen gehörte ich nicht. Ihre Häuser zu betreten, wo nach Sonnenuntergang Kerzen und Öllampen entzündet und Herdfeuer entfacht wurden, war mir versagt. Schon lang war es her, dass ich mich auf den Märkten gezeigt hatte, wo Bauern aus der Umgebung und Händler aus fernen Ländern vielblättrige Artischocken, glänzende Auberginen, gelb gereifte Birnen, Trauben, Äpfel, die der Hand schmeichelten, Pilze, duftende Gewürze und manchmal sogar goldfarbene Pomeranzen feilboten. Wann ich zuletzt in ihren Gasthäusern hatte Mahlzeit halten können, wusste ich nicht mehr. Der Lärm der Gaststuben, das Geschrei der Handwerker und Markthändler, die ihre Suppe aßen und die Becher in der Luft schwenkten, der Glanz der Lichter in ihren Augen hatten mich oft dort hingezogen, wo ich, auf einer der hinteren Bänke hockend, ihr Treiben verfolgt hatte. Nicht einmal die Kirchen waren sicher, in denen sie ihre Gottesdienste abhielten, und auch ihren prächtigen Prozessionen musste ich fernbleiben. Nur von weitem sah ich noch manchmal das wundertätige Standbild des Heiligen, wie es, fast als wäre es lebendig, Achtung gebietend hin- und herschwankte, während es durch die Straßen getragen wurde.
Denn sie stellten mir nach. In den Straßen patroullierten gedungene Sucher, Häscher und Aufpasser, die nach mir Ausschau hielten. Sie verstellten sich, verschwammen mit den vielen anderen und gaben sich nicht zu erkennen. Vielleicht kannten sie sogar meinen Namen, den ich sorgsamer hütete als die anderen ihren größten Schatz, ja, den ich nicht mehr verwendete und selbst fast schon vergessen hatte. Warum hatten sie mich nicht längst aus den Augen verloren? Ihren Nachstellungen war ich ausgeliefert und ihrem Zugriff preisgegeben. Auch sie waren gnadenlose Augen in dieser Stadt des Sehens, der verfolgenden, gehässigen, quälenden Blicke. Die Signalements, die an den Stadttoren und an den Wänden der Häuser angeschlagen waren, wem galten sie als mir. Genau und treffsicher, ihrer Wirksamkeit gewiss und ohne Zweifel am Erfolg beschrieben sie meine Gestalt und mein Wesen.
So eilte ich, selbst ein Schatten, von einem dunklen Ort zum anderen, mied die Terrassen und die prächtigen Treppen, die in der hellen Sonne zum Spaziergang und zum Aufenthalt einluden, und huschte ungesehen in die Kellereingänge.
Während die Schatten tiefer fielen, saß ich, den Rücken gebeugt und den Kopf gesenkt, in der Nähe des großen Stadttors. In meiner Kindheit, vor langer Zeit, war ich dort oft mit den Chorschülern vorüber gezogen. Von fern vernahm ich die Musik, die sie heute, am Vorabend des großen Fests, in der Residenz spielten. Unter meiner Kapuze sah ich, wie verspätete Gäste Hand in Hand vorübereilten, festlich gekleidet und voller Vorfreude. Ihre Stimmen erreichten wohltönend mein Ohr und gesellten sich zu den Bildern, die unscharf, wie mit verlaufender Farbe gemalt, vor mein inneres Auge drängten. Worte und Bilder erinnerten an alte Erzählungen und verströmten einen warmen Schein.
Du Tor, so sprach ich zu mir, warum bist du noch immer am selben Platz? Warum verlässt du nicht diesen Ort, an dem du umherirrst ohne feste Stelle, gejagt von deinen Feinden, gepeinigt von deinen Verfolgern, ohne Ruheplatz, ein Vertriebener, wo auch immer du dich aufhältst?
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Denn hier, nahe der Stadtmauer, hatten sie keine Lampen angezündet. So brach ich auf. Im Wasser lagen die Kähne bereit, mit denen sie morgen, bei hellem Sonnenschein, den Fluss befahren würden, um mit ihren Sonnenschirmen Spaziergänger und Zuschauer am Ufer zu grüßen. Ich bestieg das letzte Boot, das am Steg angebunden war, löste die Leine und stieß ab. Während ich mich zurücklegte, trieb das Boot auf das schwarze Wasser hinaus und drehte sich leise in die Strömung. Die Lichter der Stadt blieben zurück und die Sterne, die Sterne kamen näher als je zuvor.