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- Anmerkungen zum Text
In einem Buch kann man eine Menge verstecken – Geldscheine, Fahrkarten, Einkaufszettel, Liebesbriefe, Eintrittskarten …
Wenn man ein altes Buch aufschlägt, findet man fast immer etwas darin. Manchmal "passt" es, manchmal bilden die Einlagen einen merkwürdigen Konstrast. Als ich mir auf dem Flohmarkt das hier erwähnte ungarische Kochbuch zugelegt habe, lag ein leeres Puddingpulver-Tütchen darin. Aus irgendeinem Grund ging mir das nach. Und so habe ich eine Geschichte geschrieben, die von dem Buch und von dem Tütchen erzählt.
Abschied
„Natürlich habe ich Imre geliebt, ganz klar. Aber ich hätte ihn doch nie geheiratet.“
Sie rührt ihren Kaffee um und hebt die Mokkatasse – Herend, wenn ich das Drachenmuster richtig erkenne. Sie führt die Tasse an die zinnoberroten Lippen und nimmt einen kleinen Schluck. „Ach, so muss ein Kaffee sein. Stark, heiß und süß.“ Sie schürzt kokett die Lippen und klimpert mit den Lidern. „Fast so wie ich.“
Ich staune – schließlich ist meine Nachbarin schon Ende siebzig. Aber ich spiele ihr Spielchen mit. „Frau Stahl,“ ich wedele schelmisch mit dem Zeigefinger, „Sie sind mir ja eine.“ „Och, Herr Hansen, tun Sie doch nicht so tugendsam. Sie wissen einen schönen Mann doch auch zu schätzen, oder?“ Spioniert sie im Treppenhaus? Woher weiß sie das? „Schauen Sie nicht so indigniert. Oder seien Sie künftig einfach etwas … leiser, wenn Sie Herrenbesuch haben. Unsere Schlafzimmer grenzen nämlich aneinander.“ Ich werde puterrot, sie kichert, fast wie ein junges Mädchen.
„Möchten Sie noch einen Schluck Kaffee? Er ist gut, nicht wahr? Das Kaffeekochen habe ich von Imre gelernt. Man darf ja kein Filterpapier nehmen, sondern muss das Pulver im Topf aufkochen, dreimal, und dann in die Kanne umgießen.“ Ich brumme zustimmend. Der Kaffee ist wirklich gut.
Während sie mir nachschenkt, schaue ich mich um. Es ist irritierend. Sie hat dieselbe Wohnung wie ich, nur spiegelverkehrt. Und eine andere Einrichtung natürlich. Der Blick aus dem großen Fenster ist anders. Auf dem Beistelltisch neben dem Sofa steht ein Porträtfoto eines älteren Mannes. „Ist das Ihr Imre?“ „Ja, zu schade, dass Sie ihn nicht mehr kennengelernt haben! Er kam aus Ungarn, klar, woher soll man mit so einem Namen auch sonst kommen. Nach dem Aufstand 56 ist er raus aus Ungarn. Es muss eine ziemlich abenteuerliche Flucht gewesen sein, aber davon hat er nie erzählt. Er hat dann hier beim Amerikaner gearbeitet. Und da habe ich ihn dann auch kennengelernt, beim Offiziersball Silvester 1958. Er war natürlich Zivilist, aber schneidig sah er trotzdem aus.“ Sie nimmt wieder einen Schluck Kaffee. „Er kam direkt auf mich zu, ich meine er kannte mich doch gar nicht, nahm meine Hand und gab mir einen Handkuss. Kezét csokolom, küss die Hand, das hat er wirklich ernst genommen!“
Sie schnauft, lässt sich in ihren Sessel zurückfallen und schaut ins Leere. Ich nehme noch einen Schluck Kaffee und einen der winzigen Kekse, die auf dem Gebäckteller liegen. Sie plappert in ihrem rheinischen Singsang weiter.
„Und dann sagte er, Drágám, meine Teure – er sagte immer Drágám zu mir, auch später noch –, Drágám, dich werde ich nach Hause holen.“ Sie lächelt leise, und ich grinse, denn so viel Ungarisch kann ich: nach Hause holen ist die Umschreibung für heiraten.
Sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf mich, der korallenrot lackierte Nagel leuchtet mich an. „Sie lächeln! Ich merke schon, Sie haben begriffen. Ach, das hätte Imre gefallen, jemanden zu haben, der seine Sprache versteht.“ „Ja, es ist schade. Ich hätte Ihren Imre gern kennengelernt.“
„Wir sind dann sehr schnell zusammengezogen, da kannten wir uns gerade ein halbe Jahr. Es war natürlich nicht einfach in der ersten Zeit. Norbert, also mein Sohn, war damals 14, und er hat ja noch nie einen Vater gehabt. Mein Sohn ist im August 45 geboren, und mein Mann ist im Krieg gefallen, eine Woche bevor alles vorbei war.“ Ihr Blick wird hart, und die Zinnoberlippen pressen sich kurz aufeinander. „Ganz allein habe ich das Würmchen aufgezogen, und dann, als ich mit ihm zu Imre gegangen bin, da war auf einmal ein Mann da, der ihm etwas sagen wollte. Die beiden haben sich nichts geschenkt!“
Ich kichere in mich hinein. Ich kenne Norbert Stahl, den Anwalt. Der ist heute noch ein Sturkopf. Die Auseinandersetzungen mit seinem Stiefvater kann ich mir lebhaft vorstellen.
„Und Norbert war auch der Grund, warum ich Imre nie geheiratet habe. Ich wollte nie einen anderen Namen tragen als mein Sohn. Wie hätten wir denn dagestanden? Guten Tag, ich bin Frau Pataki, und das ist mein Sohn Norbert Stahl. Ne, das geht nicht. Aber das hat natürlich ganz andere Schwierigkeiten gebracht. Schließlich gab es damals noch den Kuppeleiparagrapen.“ Ich hebe fragend die Augenbraue. „Ja, damals durften Unverheiratete nicht zusammen in einer Wohnung leben. Und der Vermieter, der seine Wohnung trotzdem hergegeben hat, hätte wegen Kuppelei belangt werden können.“
„Na, da können wir ja froh sein, dass unser Vermieter sich um so etwas nicht schert.“ Ich hebe meine Tasse, wie um anzustoßen. „Auf eine gute, lange, freundliche Nachbarschaft!“ „Neinneinnein, Herr Hansen,“ sie wedelt aufgeregt mit der Hand in der Luft, „mit Kaffee stößt man nicht an. Moment, ich hol mal ein Fläschchen Tokajer. Das ist das richtige zum Anstoßen!“ Sie springt erstaunlich behende auf, verschwindet kurz in der Küche nebenan und kehrt mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem zwei Kristallgläser und eine Flasche stehen. „Aufmachen müssen Sie das aber! Flaschen entkorken ist Männersache.“ Sie reicht mir die Flasche und einen Korkenzieher. „Wir müssen nämlich wirklich anstoßen, wenn auch nicht auf gute Nachbarschaft!“
Ich gebe ihr die geöffnete Flasche und frage nach: „Worauf dann?“ „Auf unsere Freundschaft natürlich! Ich hoffe, Sie besuchen mich öfter mal, auch wenn ich nicht mehr hier wohne. Ich will diese Wohnung nämlich aufgeben. Sie ist zu groß, es wird mir zu viel mit dem Putzen, und die drei Treppen fallen mir auch nicht mehr so leicht wie früher. Ich bin ja nicht mehr ganz jung, müssen Sie wissen.“ Sie klimpert wieder kokett mit den Lidern. „Darum will ich in zwei Monaten ins betreute Wohnen ziehen.“ „Och, Frau Stahl, das können Sie doch nicht machen. Jetzt, wo wir uns gerade kennenlernen! Und wer soll meine Blumen versorgen, wenn ich wegfahre?“ „Herr Hansen, glauben Sie mir, wenn Sie erst mal den Richtigen gefunden haben, dann müssen Sie auch nicht so oft verreisen. Und jetzt stoßen wir an.“
Kling. Der Tokajer ist gut. „Nein, ich hab’ mir das schon gut überlegt. Ich bekomme ein nettes Apartment dort, mit Sonnenbalkon und allem, aber natürlich viel kleiner als hier. Ich bin schon seit geraumer Zeit dabei, mich von etlichen Sachen zu trennen.“ Ich schaue mich wieder um. Stimmt, die Wohnung scheint gar nicht so vollgestopft wie bei alten Leuten sonst. „Und ich würde Ihnen gern etwas geben, von dem ich weiß, dass Sie’s in Ehren halten.“ Sie zeigt auf das Mokkaservice. Ich hebe abwehrend die Hände. „Frau Stahl, das kann ich nicht annehmen!“ „Dochdoch, das können Sie, keine Widerrede. Die warme Hand gibt lieber als die kalte, das kennen Sie doch. Und hier habe ich noch etwas, das wird Ihnen gefallen!“ Sie langt rüber zum Beistelltischchen und hält mir ein ziemlich zerlesenes Buch hin. Ich greife zu, drehe das Buch und schaue hinein. „Elek Magyar, Kochbuch für Feinschmecker. Das ist ja der Klassiker!“ Begeistert blättere ich es durch.
Sie klatscht vergnügt in die Hände. „Sehen Sie, ich wusste, dass Ihnen das gefällt! Mit dem Buch hat Imre mir das Kochen beigebracht. Also, das ungarische Kochen, meine ich. ‚Ejjn Ässen ohne Popprika und saure Sahne, dos ist kejnn Ässen,‘ hat er immer gesagt. Und dann habe ich ihm die ganze Palette rauf und runtergekocht, von gefüllten Fleisch-Palatschinken und Fischsuppe über gespickte Braten bis Kastanienpüree. Aber wissen Sie, was er am liebsten gehabt hat und was nicht in diesem Buch stand?“ Sie schaut mich mit ihren hellen Augen an, ich zucke nur mit den Achseln. „Schokoladenpudding.“