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Abschied

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08.05.2019
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Anmerkungen zum Text

In einem Buch kann man eine Menge verstecken – Geldscheine, Fahrkarten, Einkaufszettel, Liebesbriefe, Eintrittskarten …
Wenn man ein altes Buch aufschlägt, findet man fast immer etwas darin. Manchmal "passt" es, manchmal bilden die Einlagen einen merkwürdigen Konstrast. Als ich mir auf dem Flohmarkt das hier erwähnte ungarische Kochbuch zugelegt habe, lag ein leeres Puddingpulver-Tütchen darin. Aus irgendeinem Grund ging mir das nach. Und so habe ich eine Geschichte geschrieben, die von dem Buch und von dem Tütchen erzählt.

Abschied

„Natürlich habe ich Imre geliebt, ganz klar. Aber ich hätte ihn doch nie geheiratet.“
Sie rührt ihren Kaffee um und hebt die Mokkatasse – Herend, wenn ich das Drachenmuster richtig erkenne. Sie führt die Tasse an die zinnoberroten Lippen und nimmt einen kleinen Schluck. „Ach, so muss ein Kaffee sein. Stark, heiß und süß.“ Sie schürzt kokett die Lippen und klimpert mit den Lidern. „Fast so wie ich.“
Ich staune – schließlich ist meine Nachbarin schon Ende siebzig. Aber ich spiele ihr Spielchen mit. „Frau Stahl,“ ich wedele schelmisch mit dem Zeigefinger, „Sie sind mir ja eine.“ „Och, Herr Hansen, tun Sie doch nicht so tugendsam. Sie wissen einen schönen Mann doch auch zu schätzen, oder?“ Spioniert sie im Treppenhaus? Woher weiß sie das? „Schauen Sie nicht so indigniert. Oder seien Sie künftig einfach etwas … leiser, wenn Sie Herrenbesuch haben. Unsere Schlafzimmer grenzen nämlich aneinander.“ Ich werde puterrot, sie kichert, fast wie ein junges Mädchen.
„Möchten Sie noch einen Schluck Kaffee? Er ist gut, nicht wahr? Das Kaffeekochen habe ich von Imre gelernt. Man darf ja kein Filterpapier nehmen, sondern muss das Pulver im Topf aufkochen, dreimal, und dann in die Kanne umgießen.“ Ich brumme zustimmend. Der Kaffee ist wirklich gut.
Während sie mir nachschenkt, schaue ich mich um. Es ist irritierend. Sie hat dieselbe Wohnung wie ich, nur spiegelverkehrt. Und eine andere Einrichtung natürlich. Der Blick aus dem großen Fenster ist anders. Auf dem Beistelltisch neben dem Sofa steht ein Porträtfoto eines älteren Mannes. „Ist das Ihr Imre?“ „Ja, zu schade, dass Sie ihn nicht mehr kennengelernt haben! Er kam aus Ungarn, klar, woher soll man mit so einem Namen auch sonst kommen. Nach dem Aufstand 56 ist er raus aus Ungarn. Es muss eine ziemlich abenteuerliche Flucht gewesen sein, aber davon hat er nie erzählt. Er hat dann hier beim Amerikaner gearbeitet. Und da habe ich ihn dann auch kennengelernt, beim Offiziersball Silvester 1958. Er war natürlich Zivilist, aber schneidig sah er trotzdem aus.“ Sie nimmt wieder einen Schluck Kaffee. „Er kam direkt auf mich zu, ich meine er kannte mich doch gar nicht, nahm meine Hand und gab mir einen Handkuss. Kezét csokolom, küss die Hand, das hat er wirklich ernst genommen!“
Sie schnauft, lässt sich in ihren Sessel zurückfallen und schaut ins Leere. Ich nehme noch einen Schluck Kaffee und einen der winzigen Kekse, die auf dem Gebäckteller liegen. Sie plappert in ihrem rheinischen Singsang weiter.
„Und dann sagte er, Drágám, meine Teure – er sagte immer Drágám zu mir, auch später noch –, Drágám, dich werde ich nach Hause holen.“ Sie lächelt leise, und ich grinse, denn so viel Ungarisch kann ich: nach Hause holen ist die Umschreibung für heiraten.
Sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf mich, der korallenrot lackierte Nagel leuchtet mich an. „Sie lächeln! Ich merke schon, Sie haben begriffen. Ach, das hätte Imre gefallen, jemanden zu haben, der seine Sprache versteht.“ „Ja, es ist schade. Ich hätte Ihren Imre gern kennengelernt.“
„Wir sind dann sehr schnell zusammengezogen, da kannten wir uns gerade ein halbe Jahr. Es war natürlich nicht einfach in der ersten Zeit. Norbert, also mein Sohn, war damals 14, und er hat ja noch nie einen Vater gehabt. Mein Sohn ist im August 45 geboren, und mein Mann ist im Krieg gefallen, eine Woche bevor alles vorbei war.“ Ihr Blick wird hart, und die Zinnoberlippen pressen sich kurz aufeinander. „Ganz allein habe ich das Würmchen aufgezogen, und dann, als ich mit ihm zu Imre gegangen bin, da war auf einmal ein Mann da, der ihm etwas sagen wollte. Die beiden haben sich nichts geschenkt!“
Ich kichere in mich hinein. Ich kenne Norbert Stahl, den Anwalt. Der ist heute noch ein Sturkopf. Die Auseinandersetzungen mit seinem Stiefvater kann ich mir lebhaft vorstellen.
„Und Norbert war auch der Grund, warum ich Imre nie geheiratet habe. Ich wollte nie einen anderen Namen tragen als mein Sohn. Wie hätten wir denn dagestanden? Guten Tag, ich bin Frau Pataki, und das ist mein Sohn Norbert Stahl. Ne, das geht nicht. Aber das hat natürlich ganz andere Schwierigkeiten gebracht. Schließlich gab es damals noch den Kuppeleiparagrapen.“ Ich hebe fragend die Augenbraue. „Ja, damals durften Unverheiratete nicht zusammen in einer Wohnung leben. Und der Vermieter, der seine Wohnung trotzdem hergegeben hat, hätte wegen Kuppelei belangt werden können.“
„Na, da können wir ja froh sein, dass unser Vermieter sich um so etwas nicht schert.“ Ich hebe meine Tasse, wie um anzustoßen. „Auf eine gute, lange, freundliche Nachbarschaft!“ „Neinneinnein, Herr Hansen,“ sie wedelt aufgeregt mit der Hand in der Luft, „mit Kaffee stößt man nicht an. Moment, ich hol mal ein Fläschchen Tokajer. Das ist das richtige zum Anstoßen!“ Sie springt erstaunlich behende auf, verschwindet kurz in der Küche nebenan und kehrt mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem zwei Kristallgläser und eine Flasche stehen. „Aufmachen müssen Sie das aber! Flaschen entkorken ist Männersache.“ Sie reicht mir die Flasche und einen Korkenzieher. „Wir müssen nämlich wirklich anstoßen, wenn auch nicht auf gute Nachbarschaft!“
Ich gebe ihr die geöffnete Flasche und frage nach: „Worauf dann?“ „Auf unsere Freundschaft natürlich! Ich hoffe, Sie besuchen mich öfter mal, auch wenn ich nicht mehr hier wohne. Ich will diese Wohnung nämlich aufgeben. Sie ist zu groß, es wird mir zu viel mit dem Putzen, und die drei Treppen fallen mir auch nicht mehr so leicht wie früher. Ich bin ja nicht mehr ganz jung, müssen Sie wissen.“ Sie klimpert wieder kokett mit den Lidern. „Darum will ich in zwei Monaten ins betreute Wohnen ziehen.“ „Och, Frau Stahl, das können Sie doch nicht machen. Jetzt, wo wir uns gerade kennenlernen! Und wer soll meine Blumen versorgen, wenn ich wegfahre?“ „Herr Hansen, glauben Sie mir, wenn Sie erst mal den Richtigen gefunden haben, dann müssen Sie auch nicht so oft verreisen. Und jetzt stoßen wir an.“
Kling. Der Tokajer ist gut. „Nein, ich hab’ mir das schon gut überlegt. Ich bekomme ein nettes Apartment dort, mit Sonnenbalkon und allem, aber natürlich viel kleiner als hier. Ich bin schon seit geraumer Zeit dabei, mich von etlichen Sachen zu trennen.“ Ich schaue mich wieder um. Stimmt, die Wohnung scheint gar nicht so vollgestopft wie bei alten Leuten sonst. „Und ich würde Ihnen gern etwas geben, von dem ich weiß, dass Sie’s in Ehren halten.“ Sie zeigt auf das Mokkaservice. Ich hebe abwehrend die Hände. „Frau Stahl, das kann ich nicht annehmen!“ „Dochdoch, das können Sie, keine Widerrede. Die warme Hand gibt lieber als die kalte, das kennen Sie doch. Und hier habe ich noch etwas, das wird Ihnen gefallen!“ Sie langt rüber zum Beistelltischchen und hält mir ein ziemlich zerlesenes Buch hin. Ich greife zu, drehe das Buch und schaue hinein. „Elek Magyar, Kochbuch für Feinschmecker. Das ist ja der Klassiker!“ Begeistert blättere ich es durch.
Sie klatscht vergnügt in die Hände. „Sehen Sie, ich wusste, dass Ihnen das gefällt! Mit dem Buch hat Imre mir das Kochen beigebracht. Also, das ungarische Kochen, meine ich. ‚Ejjn Ässen ohne Popprika und saure Sahne, dos ist kejnn Ässen,‘ hat er immer gesagt. Und dann habe ich ihm die ganze Palette rauf und runtergekocht, von gefüllten Fleisch-Palatschinken und Fischsuppe über gespickte Braten bis Kastanienpüree. Aber wissen Sie, was er am liebsten gehabt hat und was nicht in diesem Buch stand?“ Sie schaut mich mit ihren hellen Augen an, ich zucke nur mit den Achseln. „Schokoladenpudding.“

 

Hallo Ella,
danke für deine Rückmeldung.

Was ich eigentlich sagen wollte mit der Geschichte, steht in den Anmerkungen (auf das i rechts oben im Textfenster drücken), die ich hier nochmal zitiere:
In einem Buch kann man eine Menge verstecken – Geldscheine, Fahrkarten, Einkaufszettel, Liebesbriefe, Eintrittskarten …
Wenn man ein altes Buch aufschlägt, findet man fast immer etwas darin. Manchmal "passt" es, manchmal bilden die Einlagen einen merkwürdigen Konstrast. Als ich mir auf dem Flohmarkt das hier erwähnte ungarische Kochbuch zugelegt habe, lag ein leeres Puddingpulver-Tütchen darin. Aus irgendeinem Grund ging mir das nach. Und so habe ich eine Geschichte geschrieben, die von dem Buch und von dem Tütchen erzählt.

Ah Frage - schreibst Du in Present?

Ja, ich habe im Präsens geschrieben – das erschien mir unmittelbarer. Auf die verschiedenen Zeitebenen habe ich aber, meine ich, schon geachtet.


Sie rührt ihren Kaffee um und hebt die Mokkatasse – Herend, wenn ich das Drachenmuster richtig erkenne.
Fehlt hier etwas? Also irgendwie macht der Satz für mich keinen Sinn.

Herend ist das ungarische Meißen.


Zur Formatierung: Ich habe den Text aus der Word-Datei rüberkopiert. In Word sieht er besser aus, vielleicht weil ich dort viel kürzere Zeilen und einen automatischen Absatzeinzug habe.
Ich werde über deine Vorschläge (auch über die Anzahl der Redesätze und neue Zeilen bei wörtlicher Rede) nachdenken.

Nochmal danke!

A.

 

Hola @ arvoituksellinen,

willkommen bei den Schreib-Eleven! Dein stiller Text ist gut bei mir angekommen – allerdings finde ich es unoriginell, einen meiner Titel (‚Abschied’) mit ebenfalls ungarisch angehauchtem Inhalt zu benutzen.
Schwamm drüber. Ich bin willens anzunehmen, dass Du auch ohne meine Vorgabe gescheite Geschichten schreibst. Deinem Nick nach zu vermuten, wäre das beim nächsten Mal etwas Finnisches. (Vielleicht glaubst Du an die Sprachbrücke Finnisch – Uigurisch – Ungarisch:teach:).
Du bist in meiner Vorstellung ein älterer Autor, schreibst im Profil:

Ab und an schreibe ich Geschichten ... ... möchte ich vorzeigen und eine Rückmeldung bekommen.
Prima; denke nur daran, dass auch die anderen Mitglieder gern einen Kommentar zu ihren Texten möchten (Geben & Nehmen).
Möglicherweise ist einigen Lesern Dein Text zu brav, und auch ich hätte nichts gegen eine kleine Überraschung – es wird jedoch so sein, dass Du nach einiger Verweildauer im Forum nicht nur andere Texte, sondern auch Deine eigenen kritischer sehen wirst.

Noch ein paar Kleinigkeiten:

Sie rührt ihren Kaffee um und hebt die Mokkatasse ...
‚Kaffee’ und ‚Mokka’ stoßen sich auf engstem Raum.
Herend, wenn ich das Drachenmuster richtig erkenne.
Herend gibt’s bei uns nur bei Besuch – doch es werden nicht wenige Leser googeln müssen ...
Und überhaupt ist Vorsicht geboten bei Spezialkenntnissen jedweder Art, weil Leser zwar unterschiedlich, meist aber nicht positiv darauf reagieren. Unlängst hatten wir eine Kurzgeschichte, die hieß ‚Oxalá, uma tenda’ von @Fenryl und enthielt viele ungewohnte Wörter – und ich glaube, der fehlende Zuspruch war das Resultat daraus. Solche Beispiele gibt es dutzendweise – der Autor möchte glänzen, aber verprellt die Leser. Gott sei Dank hast Du darauf verzichtet, die Original-Namen der Gerichte aufzuführen, denn dann – siehe oben.

Viele Grüße, auch auf ungarisch:)!
José

 

Hallo José,
danke für deine Antwort. Nagyon köszönöm!

Ich sehe in deinem Profil, dass du aus Pécs bist (und älter, als ich gedacht hatte). Eine schöne Stadt! Leider war ich erst einmal dort, und meine Erinnerungen sind nicht die besten: Ich habe dort in einem Lokal – es war die "Goldene Ente", Arany kacsa, ich weiß es noch wie heute – ein "szelet cigány módra" gegessen. "Zigeunerart" bedeutet bei uns in Deutschland irgendwas mit gedünstetem Paprika und Tomaten (so ne Art Lecsó), dort wurde das Schnitzel mit gehackter, gebratener Hühnerleber serviert. Und das ist mir ü-ber-haupt nicht bekommen. Eine halbe Stunde nach dem Essen bekam ich wahnsinnige Kopfschmerzen, dann fing die Brecherei an, und ich war froh, dass wir zu zweit waren und mein Freund mich wieder nach hause fahren konnte.

Meine neueste Geschichte – aber die ist noch nicht "spruchreif" – spielt tatsächlich in Finnland. Dort bin ich in den letzten zehn Jahren einige Male gewesen, habe sogar im Übermut angefangen, die Sprache zu lernen, aber ... Ungarisch hatte ich Mitte der 90er Jahre gelernt, und das fand ich schon ziemlich anspruchsvoll, was die Schwierigkeit angeht. Ich dachte an die Sprachgruppenverwandtschaft und war dann mal mutig, aber bei Finnisch bin ich wirklich an meine Grenzen gestoßen. Und als dann der Lehrer unseres Sprachkurses weggezogen ist, war's vorüber. Vallitetavasti en puhun Suomea. (Leider spreche ich kein Finnisch.)
Aber das nur nebenbei.

Zur Geschichte: Die hieß schon "Abschied", da wusste ich noch gar nichts vom Wortkrieger-Forum; ich bin erst dieser Tage, als ich mich mal in das "Handbuch für Autorinnen und Autoren" (Uschtrin) vertieft habe, darauf gestoßen.

Ist die Geschichte wirklich "brav"? Kannst du das konkretisieren, oder anders: Wie würdest du sie denn "wilder" machen?

Du hast Recht, "Herend" kann man vielleicht nicht voraussetzen, ich werde mal sehen, wie ich das umformulieren kann, damit klar wird, dass es ein kostbares Service ist.

 

Hola @arvoituksellinen,

zuerst mal all mein Mitgefühl für Deine Leiden nach dem Essen in der ‚Goldenen Ente’. Eigentlich sollte ich mich vor deren Tür postieren und jeden vor einem Besuch dieses Lokals warnen. Wirklich ein Scheiß-Laden, aber vornehm. Jetzt aber zur Sache:

Ist die Geschichte wirklich "brav"?
Ja, drágám – das ist sie. Deine Frage klingt so verwundert, was wiederum mich verwundert:
Was haste denn gedacht, was bei Deinen ‚Zutaten’ herauskommt:
Und so habe ich eine Geschichte geschrieben, die von dem Buch und von dem Tütchen erzählt.

arv. schrieb:
Kannst du das konkretisieren, ...?
Ja. Es liegt am Plot – wo nix is, da is nix. Ist auch mein Problem; hab einen Haufen angefangener Geschichten, bei denen während des Schreibens Zweifel an der Tragfähigkeit des Plots aufkamen. Ist leider so: Mit der Schreiberei geht’s schon einigermaßen, doch wenn die Handlung nicht viel taugt, ist die Mühe vergebens – oder ich schreibe zu meinem Vergnügen und verzichte aufs Veröffentlichen.

arv. schrieb:
oder anders: Wie würdest du sie denn "wilder" machen?
Das scheint mir unmöglich, da müsste ich zaubern können. Die Story vom mordenden Puddingpulvertütchen will keiner lesen. Geb’s der Himmel, dass uns bald wieder was Gscheits einfällt.

Beste Grüße!
José

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola @arvoituksellinen,

Ja, drágám – das ist sie. Deine Frage klingt so verwundert, was wiederum mich verwundert:
Was haste denn gedacht, was bei Deinen ‚Zutaten’ herauskommt:

Ja. Es liegt am Plot – wo nix is, da is nix.


You made my day!

 

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