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Abschied
Geduld ist nötig, eine der beiden Rezeptionistinnen telefoniert. Es ist wohl ein heiteres Gespräch, sie lacht dabei und gestikuliert mit den Händen.
Dass das letzte Winken ihm gilt, nimmt Ernö zu spät wahr. Hinter ihm wird gegrummelt und geschoben. Er entschuldigt sich und wechselt zu Schalter zwei, den allerdings eine Sekunde vor ihm, erstaunlich flink, eine quadratische Matrone in Besitz nimmt.
‚Na, Gnädigste, das läuft jetzt aber gewaltig aus dem Ruder!' So würde er sie am liebsten anraunzen, doch in einem Land, wo die Männer den Frauen hundertmal täglich die Hand küssen, geht das nicht so einfach – außerdem steht die resolute Dame auf sehr stämmigen Beinen. Also sagt er nichts und fügt sich.
Endlich ist er dran. Die Rezeptionistin fragt – immer noch frohgelaunt – was sie für ihn tun könne.
„Ehm ja, guten Tag. Küss die Hand. Also, mein Freund, Lajos Janos, der liegt bei Ihnen, im Sterben sozusagen. Und ehm ... ich wollte ihn noch einmal besuchen. Lebewohl sagen, gewissermaßen.“
„Lajos ist der Familienname?“
„Lajos Janos. Wie – Familienname? Na, Lajos natürlich.“ Ernö sucht ein Taschentuch, da fällt ihm ein:
„Der Vorname ist Janos, ja. Aber wir haben ihn immer Janni gerufen.“
Die Heiterkeit der Rezeptionistin verfliegt: „Also Lajos Familienname, Janos Vorname – und den möchten Sie besuchen?“
„Ja, das ist richtig, bitte.“
Sie spielt ein bisschen Klavier auf einer schwarzen Schreibmaschine und schaut sich dabei das Fernsehprogramm an. Dass ein Mensch diese zwei verschiedenen Dinge gleichzeitig tun kann, verblüfft Ernö, und er stellt sich vor, wie viel eleganter ein solcher Apparat aussähe, wenn er neben den schwarzen auch weiße Tasten hätte.
„Zimmer 238.“
„Oh, ja. Meinen verbindlichsten Dank! Küss die Hand.“
Auf dem Weg zum Fahrstuhl muss er an der Cafeteria vorbei. Die unangenehme Frau von vorhin nimmt eine Kleinigkeit zu sich. Die Tortenglasur glänzt wie Bernstein.
Seit ewigen Zeiten war er in keinem Krankenhaus – das letzte Mal zur Geburt seiner Tochter. Die Gummibäume aber erkennt er wieder. Zweite Etage.
Die Luft im Fahrstuhl ist fürchterlich. Ernö denkt an unschöne Dinge, die hier vielleicht transportiert wurden; wenigstens ist er froh, dass er in diesem Gestank nicht bis zur sechsten Etage ausharren muss. Aber alles wird freundlich, als er das Zimmer seines sterbenden Freundes betritt.
Ein matt schimmernder Sektkübel voller grellgelber Forsythien steht im weit geöffneten Fenster, Frühlingsluft strömt herein.
Lajos Janos schläft. Ernö zieht den weißlackierten Stuhl etwas näher ans Bett und setzt sich. Der Stuhl ist aus Holz und sehr hart. Aber er will eh nicht den halben Tag hier herumsitzen, sondern nur so lange, wie’s eben sein muss.
Die Tür schwingt auf. „... und bringen Sie mir eine Vase, aber nicht zu klein!“ Die Matrone steuert auf den anderen Patienten zu, lässt die Blumen aufs Fußende fallen und umschlingt ihn mit ausgebreiteten Armen. „Oh, mein Ärmster – was machen sie denn nur mit dir?“
Der so Gekoste antwortet mit bitterem Gesicht: „Ach, die machen nur ihre Arbeit“ und streift ihre Arme ab.
„Ja, aber beide Füße!“, jammert die dicke Frau, „einer hätte doch gereicht!“
„Der Professor sagt, der andere ist genau so schlimm, und es wäre auf jeden Fall besser, wenn der auch ab wäre.“
„Aber gütiger Himmel – wie willst Du denn die Gäste bedienen, ohne Füße?“
„Na, das geht dann nicht mehr. Sie werden mich zum Invaliden schreiben.“
„Und wovon sollen wir leben? Die Rente ist lächerlich.“
„Tja, dann müsstest Du einspringen. Du hast das doch gelernt.“
„Ich? Das fehlte grad noch! Erst die Kinder aufziehen – und jetzt die Gäste bedienen? Auf gar keinen Fall. Ich muss auch mal an mich denken, außerdem hab’ ich Hüftprobleme.“
Ernö ist unwohl. Er fühlt sich genötigt, Privates zu hören, sehr Privates, und es macht ihm keinen Spaß. Doch seinen Freund will er noch nicht wecken, der braucht alle Ruhe der Welt.
Eine Krankenschwester kommt mit dem Abendessen auf einem orangefarbenen Tablett herein. Ernö wundert sich, denn es ist erst Nachmittag.
Sie setzt Brot, Margarine und Schmelzkäse ab, Ernö sagt: „Küss die Hand!“ und sie fragt automatisch: „Brauchen Sie auch eine Vase?“
„Ehm, eigentlich nicht, weil ...“ Er wischt mit dem Taschentuch über die Stirn, Janos rührt sich nicht. „Weil – ach, das ist so ... nein, Blumen habe ich nicht mitgebracht.“
Schaut ihn die Schwester vorwurfsvoll an? „Ich werde ihm einen schönen Kranz aufs Grab legen. Der hält länger als Blumen.“
Die Schwester nickt, geht hinaus und Janos öffnet die Augen. Oh Scheiße. Hat er das gehört?
„He, Ernö, altes Haus“, sagt er leise, „Was führt dich denn hierher?“
„Ach, weißt du – ich war grad in der Nähe, und da dachte ich ...“
“In der Nähe? Wohnst du nicht mehr in Kövágyósszölössy?“
„Ja, doch. Aber ich bin auf dem Weg nach Eszt...“
Janos muss niesen und wird von einem furchtbaren Hustenanfall heimgesucht. Ernö greift ihm hinter den Rücken und will ihn etwas aufrichten. „Soll ich die Schwester rufen?“, aber Janos schüttelt den Kopf und kommt langsam zur Ruhe.
„Hab dir was mitgebracht. Selbstgebrannt“, flüstert Ernö und zieht sein Geschenk aus der Jacke.
Janos ist hellwach. „Lass mal riechen.“
Ernö schraubt den Verschluss auf und hält ihm den Schnaps unter die Nase.
Der schnüffelt wie ein Fährtenhund, sagt: „Quitte!“ und bekommt eine neue Hustenattacke.
Da beschleicht Ernö ein flaues Gefühl: Hätte er statt Schnaps ein Stück Schinkenspeck mitbringen sollen? Doch ehe er sich’s versieht, setzt Janos an und trinkt.
Als es ihm genug erscheint, gibt er Ernö die blecherne Jagdflasche zurück und schmatzt: „Das tat mal wieder gut.“ Dann beutelt ihn der Husten ein drittes Mal, diesmal ärger als zuvor. Sein Gebiss fällt heraus, glücklicherweise aufs Laken, Ernö packt es mit seinem Taschentuch und legt es auf den Nachttisch.
Janos ist völlig fertig, starrt zur Decke und raunt: „Morgen bin ich tot.“
Ernö will ihm Mut machen: „Das haben schon andere gesagt, und die leben immer noch.“ Er verstaut die Flasche wieder in seiner Jacke. „Ich kann sie dir nicht hier lassen, die finden sie bestimmt. Kannst ja noch mal nuckeln, wennst Lust hast.“
„Bist ein echter Freund“, sagt Janos so leise, dass sich Ernö nach vorn beugen muss.
„Gern geschehen. Ich weiß doch, dass du hier nur Tee bekommst“, sagt er. „Ist aber gut für die Gesundheit.“
„Der Tee oder der Schnaps? Ist sowieso egal – ich mach’s eh nicht mehr lang.“ Janos schließt die Augen, spricht aber weiter: „Ist nur schad’ um Frau und Kinder.“ Er stöhnt auf und muss weinen.
Ernö fasst ihn beidhändig am Unterarm. „Ach hör mal, Janni! Wirst doch nicht den Mut verlieren!“
Das klingt wie gekauft, deshalb fügt er hinzu: „Deine Kinder sind erwachsen, die unterstützen Maria. Da brauchst du dir keine Sorgen machen.“
Überzeugend ist das nicht, Ernö kennt Jannis Kinder – also legt er nach: „Stell dir mal vor, mit mir wäre es so weit, und Ari bliebe allein zurück – das wäre doch die reine Katastrophe!“
„Oh, mein Gott, das wäre wirklich schlimm“, flüstert Janni.
Ernö hat sich schnell an Jannis undeutliche Aussprache gewöhnt, dessen Zähne in ein Wasserglas getan und erwidert: „Er ist doch so jung, hat noch gar nicht richtig gelebt! Der käme nie und nimmer alleine zurecht.“
Er nimmt einen Schluck und reicht den Flachmann seinem Freund. Dem stehen die Augen immer noch unter Wasser.
Doch er trinkt tapfer und sagt: „Was ist das nur für ein Trauerspiel auf der Welt. Kaum hast du einen Zipfel vom Glück, reißt man ihn dir schon wieder aus der Hand“, dann bricht er ab, überwältigt vom Szenario der Ungerechtigkeit und des Leidens.
Wieder quellen Tränen aus seinen Augen, klar wie Kristall aus dem Born des Mitgefühls; kalt und heiß, süß und salzig rinnen sie hinab, durch Furchen und Falten, benetzen Haut, Herz und Seele.
Beide schauen sich an, unendlich traurig, der Alkohol wärmt ihr Inneres, gern möchten sie sich umarmen und nie wieder loslassen. Wahre Freundschaft – und Janos sagt: „Schön, dass du gekommen bist. Danke.“ Matt hebt er die Hand, zeigt auf Ernös ausgebeulte Jackentacke und fragt: „Haben wir noch was?“
„Viel ist es nicht mehr, aber wir teilen brüderlich.“
Jeder nimmt einen letzten Schluck; Ernö klopft bestätigend aufs leere Blech und Janos sagt mit gebrochener Stimme: „Menschenskind, ich darf gar nicht daran denken“, er muss tief Luft schöpfen, „wie elendiglich Ari zugrunde gehen würde, wenn du vor ihm gingst.“ Die letzten Worte sind mehr gehaucht als gesprochen.
Das geht Ernö sehr nahe, doch bevor ein Mann seine Rede wegen aufsteigender Tränen unterbricht, sagt er lieber gar nichts. Janos flennt sich in den Schlaf, Ernö drückt ihm die Hand und schaut ihn ein letztes Mal an. Das Haar ist durch das ständige Liegen verklebt, und ohne Zähne sieht er furchtbar aus. Ernö erinnert sich an gemeinsame Feste, bei denen Janos in der Gunst der Frauen hoch im Kurs stand - ein sehr gut aussehender Mann, für den jede ein Stündchen Zeit gehabt hätte - und schüttelt den Kopf. Er strebt in einem nicht uneleganten Bogen zur Tür und verlässt leise, fast auf Zehenspitzen, das Zimmer.
Er muss noch zum Metzger, da gibt’s dienstags Pansen. Aristoteles ist ganz verrückt drauf.