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Abschied
Es regnete.
Seit Stunden schon warfen sich mutige Heerscharen ewig-gleicher, grundverschiedener Wassertropfen aus höchster Höhe auf alles, was sich zwischen Ihnen und ihrem Weg nach Unten befand. Kaum angekommen vereinigten sie sich mit ihren Vorgängern und Nachzüglern, dem Asphalt, der Erde und dem sonstigen nutzlosen Allerlei, formten eine Schlange liquider Vergänglichkeit und krochen eilig in sämtliche Ritze und Hohlräume der nächtlichen Straßen.
Die Welt schien zu ertrinken und es schien sie nicht zu kümmern.
Es regnete weiter.
Ella stand am Fenster. Die Augen in die Stille gewandt. Irgendwo da draußen wartete er auf sie. Er wartete.
Er würde sich wohl daran gewöhnen müssen.
„Ella?“ wollte jemand wissen.
„Ella?“.
Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite. Vor ihr durchbrach nun die kantige Silhouette des Bettes die ansonsten ruhenden Schatten. Irgendwo musste auch ein Stuhl stehen.
Erneut schallte die Stimme, erneut neigte sich der Kopf.
Durch das Schlüsselloch der Zimmertüre kämpfte sich ein schwacher Lichtstrahl, welcher wohl nur aufgrund der ansonsten allumfassenden Finsternis die Möglichkeit besaß überhaupt von einem menschlichen Auge erfasst werden zu können. Doch das interessierte in diesem Moment nicht.
„Ella?“
Der starre Blick wandert zurück zum Fenster, durchbrach den gläsernen Vorhang und verweilte erneut im feuchtfröhlichem Schauspiel auf den Straßen.
Ellas linke Hand hob sich leicht und umfasste den hölzernen Griff des Rahmens. Ein Holzspan bohrte sich tief in ihren Daumen. Es tat kaum weh. Es war egal.
Was er wohl gerade tat?
Ella hatte Schmerzen.
Lethargisch schob sie das hölzerne Konstrukt bei Seite. Ein kurzes, hohles Knacken pries die vollendete Entriegelung an.
Regen prasselte laut singend auf den Fenstersims. Wasser strömte über den Boden, über ihre Kleidung, über ihr Gesicht. Es wurde kalt, frisch und auf wunderbare Weise unangenehm.
Ein Körper begann zu zittern.
Ihm würde es hier und jetzt gefallen.
„…Ella?“
Ella lehnte sich weit hinaus ins Freie. Nur die Spitze ihrer Zehen ließ sie auf der morschen, vom Regen geküssten Diele zurück. Der Rest ihres Körpers atmete Freiheit – atmete Hoffnung – atmete Leben – atmete Luft.
Sie atmete tief, wie noch nie zuvor.
„Irgendwo da draußen!“, dachte sie.
„Irgendwo da draußen?“.
„Ella?“
„Ella?“
Die monotonen Rufe näherten sich stetig. Ein weiteres Rufen – und Ella saß auf dem Fenstersims. Ihre Füße baumelten hin und Her. Berührten die raue, nasse Hauswand. Wurden kälter und kälter. Schürften sich auf.
Ein schönes Gefühl.
Die Glocken begannen zu läuten. Ella wollte die Schläge zählen.
„Ella?“
Die Stimme war nähergekommen. Vier Schläge.
„Ella…?“
Es dauerte nun nicht mehr lange. In der Ferne ein Blitz.
„Ella…!“
Die Glocken waren wieder verstummt. Ella hatte sie nicht mehr gezählt. Sie hatte losgelassen. Es regnete.
„Ella!“
Die Zimmertüre wurde aufgestoßen. Schnelle Bewegungen.
Ein alter Lumpen setzte den Trauertänzen des Regens ein abruptes Ende. Ein herzloser, stinkender Fetzen Stoff bändigte die Wasserlache auf dem Boden.
„Ella?“
Ein Fenster wurde geschlossen. Ein Span bohrte sich tief in einen fremden Daumen.
Ein Schrei. Ein kurzes Fluchen.
Ein Blitz erhellte das Zimmer.
Es regnete – irgendwo da draußen.