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Abschied

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27.10.2013
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Abschied

Schon am Vorabend trat die Einsamkeit ein. Wie ein unsichtbarer Schleier floss sie durch die kleinen Räume unserer Wohnung, drang durch jede Tür und zwischen uns. Jedes Wort war überflüssig. Bedeutungslos. Wir standen an der Schwelle, an zwei Schwellen, jede in eine andere Welt. Und wir wussten, der nächste Schritt wird gegangen. Wir wollen es so. Wir wollen weiter, auch wenn es uns das Herz zerreißt. Was gab es da noch zu sagen?

Schon am Vorabend wurde jede Berührung unerträglich. Ein Schatten nur, eine Erinnerung aus der verblassenden, so glücklichen gemeinsamen Zeit.

Der Morgen des Aufbruchs beginnt früh. Das Gepäck wartet griffbereit. Schnell etwas essen, die Zähne putzen, an letzte Kleinigkeiten denken. Keiner von uns sagt ein Wort. Wir nehmen ein Taxi. „Hast du Geld?“, fragst du, und ich habe keins. Also gehe ich zurück. Das Taxi wartet drei Straßen weiter. Die Stadt ist noch menschenleer.

Schweigend fahren wir zum Bahnhof. Im Auto riecht es nach Leder und Herrenparfüm, das Radio spielt Telemann und ich bin verwundert über den Weg, den der Fahrer nimmt. Als müsste ich diesen Morgen mit allen Einzelheiten in mich aufnehmen und für immer in mein Herz einschließen, schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel ist mit einer hellgrauen, fleckigen Wolkenschicht bedeckt, es ist warm, eine junge Frau in violetter Bluse läuft auf dem Trottoir und liest in einem Manuskript. Alles ist wichtig. Dabei weiß ich im selben Augenblick, dass ich alles wieder vergessen werde. Schon morgen vielleicht. Von welchem Abschied bleiben einem schon die Einzelheiten?

Das ist der große, schreckliche Moment, auf den wir so lange gewartet haben, ohne ihn herbeizusehnen. Er zieht vorbei wie ein Film. Ich sitze regungslos, sehe dich nicht einmal an. Deine Hand liegt in meiner – und doch sind wir uns fern. Der Schleier ist zwischen uns. Ist dichter geworden über Nacht.

Am Bahnhof haben wir noch etwas Zeit. Ich hole mir einen Milchkaffee für einsfünfzig. Wenigstens die Verkäuferin hat gute Laune, denke ich. Wir sitzen nebeneinander in der Bahnhofshalle, ich trinke meinen Kaffee und erzähle dir etwas, das ich im nächsten Moment schon wieder vergesse. Dann wieder Schweigen. Als wir den Bahnsteig betreten, fährt der Zug gerade ein. Ich steige mit ein und helfe dir mit dem Gepäck. Sechs Gepäckstücke sind es, drei große und drei kleine. Dann umarmen wir uns und geben uns flüchtige Küsse. Du sagst „See you soon“, „Do well at the test“ und „I love you“. Meine Stimme findet den Weg durch die Tränen nicht. Vor der Türe sagst du noch einmal „I love you“. „I love you too“, sage ich und laufe davon, heraus aus dem Bahnhof so schnell ich kann. Der Zug ist noch nicht abgefahren, die Uhr zeigt 06:55. Noch eine Minute.

Draußen fühle ich mich besser. Ich öffne meinen Geldbeutel und nehme den Zweidollarschein heraus, den du am Vorabend hineingesteckt hast. Ich lese „The hardest thing I'll ever do...“ Eine letzte Nachricht aus unserer Welt.

Ich laufe durch die sich langsam bevölkernde Innenstadt und wünsche mir, es wäre eine Großstadt, die um diese Zeit schon zu tosen anfinge. Noch immer drängen sich mir Einzelheiten auf. Im ersten Stock des Eiscafés Fontana an der Alten Brücke steht eine Frau und wedelt grotesk mit einem Putzlappen in der Luft herum. Ich überquere die Brücke, um mich herum viel Platz, kaum ein Mensch zu sehen. Ich bin allein. Es fühlt sich anders an.

Erst kurz vor der Haustür wage ich, in ein Café zu gehen. Ich kaufe mir ein Croissant. Die Tränen sind getrocknet, man sieht mir den Abschied nicht mehr an.
Der Rest des Tages hüllt sich in hellgraue, fleckige Wolken.

 

Hallo Akuvi!

Ich finde Deinen Schreibstil packend und sehr atmosphärisch, gerade auch die kleinen Blicke an den Rand der Szene, die die Stimmung wunderbar unterstreichen. An einem verregneten Herbstmorgen zieht mich Deine KG gut in ihren melancholischen Bann.

Wörtliche Rede
Allerdings finde ich, dass der Wechsel ins Englische bei der direkten Rede ein nicht notwendiger Stimmungskiller ist. Wenn der Rest des Textes auf Deutsch geschrieben ist und auch vorher keine Indizien genannt werden, dass die Szene in den USA spielt, dann stolpert man meines Erachtens beim Lesen erheblich darüber.

Trennungsgrund
Und natürlich bleibt die Frage, warum es zu dieser tragischen und offenkundig endgültigen Trennung der beiden kommt. Wenn es entsprechende Andeutungen geben würde, dann wäre das Bild für mich abgerundeter.

Da ich natürlich keine Ahnung über den gedachten Hintergrund der KG habe, kann ich leider keine entsprechenden Ideen nennen, wie man mit den beiden Aspekten umgehen könnte.
So mitreißend wie Du schreibst, wird Dir sicherlich selbst was dazu einfallen. Bin gespannt, was ;-)

 

Mein erstes Feedback! Wie schön! :-)

Danke Powerpitt! Was du schreibst ist sehr hilfreich und ich werde es mir bei der nächsten Überarbeitung zu Herzen nehmen.

Das Englisch in der direkten Rede sollte andeuten, dass eine der beiden Personen aus den USA kommt und auch wieder dorthin zurückgeht. Aber du hast recht, vielleicht ist es in dieser Form eher ein Stolperstein als eine sinnvolle Hintergrundinformation.

 

Hi Akvi,

ich finde, dass der Text den Leser in die Welt der beiden Ex-Liebenden hineinzieht und Interesse an den Personen weckt. Der Kritik von Powerpitt kann ich nicht ganz zustimmen, die Stärke liegt meiner Meinung nach gerade darin, dass kein Trennungsgrund genannt wird, außer vielleicht einer nebelhaften Entfremdung oder den Prioritäten des "Weiter-Wollens". Eine weitere Konkretisierung von Gründen würde m. E. den Reiz des Textes zerstören. Auch das Englische störte mich nicht beim Lesen, im Gegenteil, man denkt sich ja, dass einer der beiden Amerikaner ist, auch wegen des Dollarscheines. Ich finde, dass durch das Englische die Floskelhaftigkeit des Gesagten gut verdeutlicht wird.

Als irritierend empfand ich, dass nicht klar wird, ob das erzählerische Ich männlich oder weiblich ist, gleiches gilt für den abreisenden Partner. Mir hätte es vielleicht besser gefallen, wenn anstelle des "Du" ein "Er" oder "Sie" zu lesen gewesen wäre, schließlich ist das Ich ja jetzt wieder alleine.

Formal ist mir aufgefallen: Die beiden ersten Absätze beginnen mit "Schon am Vorabend", das könnte man bestimmt optimieren.

Insgesamt finde ich den Text überall dort, wo er konkret Erlebtes und Beobachtetes schildert, sehr gut. Man erlebt mit, wie beiläufig und alltäglichj ein großer Verlust oft ist.
Der erste Satz fesselt sofort. Allerdings: Wenn die Einsamkeit "eintritt", hat das Bild (zumindest für mich) eine anthropomorphe Anmutung; im nächsten Satz ist sie dann ein Schleier, der "fließt".
Ist ja aber alles - wie stets bei Rezensionen/Kritiken - Geschmackssache.

Ich bin gespannt, was Du ansonsten noch schreibst.

Grüße

erinnye

 
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Hey erinnye,

vielen Dank für's Lesen und Kommentieren meiner Geschichte!! Die Kritik ist sinnvoll und lässt mich nochmal neu über meine Geschichte nachdenken.

Die Wiederholung von "Schon am Vorabend" ist gewollt, sie soll eine Art Betonung sein oder dem Text so etwas wie einen Rhythmus geben. Allerdings kommt das vielleicht nicht wirklich rüber und klingt daher eher nach schlechtem Ausdruck... Evtl. müsste man noch einen dritten Absatz mit "Schon am Vorabend" beginnen um deutlich zu machen, dass das ein stilistisches Mittel sein soll und kein Versehen ist. Oder die Wiederholung aus dem Text streichen, wie von dir angedeutet.

Bezüglich des männlich/weiblich bin ich noch unschlüssig. Ist das wirklich wichtig? Könnten es nicht auch zwei Männer sein oder zwei Frauen oder einfach nur zwei Menschen, egal wie rum? Das meine ich jetzt nicht provokativ sondern als echte Frage. Wie wichtig ist das Geschlecht für den Kontext der Geschichte?

Beim Schreiben hatte ich natürlich Geschlechter im Kopf, das gebe ich zu ;-) Das Erzähler-Ich ist weiblich, der Abreisende männlich. Ich werde mal nach Wegen suchen, das irgendwie anzudeuten.

Danke nochmal für deine Meinung! Sie ist mir sehr viel Wert!

Lg, Akuvi

 

Hallo Akuvi,

eine sehr gute Geschichte. Ich finde auch, dass der Trennungsgrund auf keinen Fall genannt werden sollte, da die Geschichte sonst ihren Reiz verlieren würde. Das Englische stört mich auch nicht, da hier weitere Interpretationsspielräume geschaffen werden. Mir gefällt auch, dass das erzählende Ich keinem Geschlecht zugeordnet wird und dies dem Gefühl des Lesers überlassen wird.
Folgende Textstellen stören mich sprachlich:
"Der Schleier ist zwischen uns." Hier würde ich "Ein Schleier" schreiben, weil vorher noch kein Schleier genannt wurde. "laufe davon, heraus aus dem Bahnhof", hier würde meiner Ansicht nach besser passen: "laufe davon, verlasse den Bahnhof"." Dadurch wird mehr Kürze, Härte erzeugt (Wiederholung des Konsonanten v; das erzählende Ich verlässt ja auch den geliebten Menschen) "Ich bin allein. Es fühlt sich anders an." Der letzte Satz klingt wie aus dem Englischen übertragen "It's different", was einen höheren Bedeutungsgehalt hat als die deutsche Äußerung. Daher würde ich vorschlagen (aber das ist wirklich Geschmackssache): "Ich bin allein. It's different. So fremd." "Wage ich es, in ein Café zu treten": "wage ich, in ein Café zu treten" - mir gefällt "es" stilistisch nicht so gut. "Die Tränen sind wieder getrocknet. Den Abschied sieht man mir..." - warum wieder? Mein Vorschlag: "Die Tränen sind getrocknet. Man sieht mir den Abschied nicht mehr an." Ich würde "Den Abschied" nicht an den Anfang setzen, denn dadurch wird die weiche und melancholische Stimmung gebrochen.
Und: nicht einmal wird nicht zusammengeschrieben, aber das ist wahrscheinlich ein Tippfehler, Komma nach "Als müsste ich diesen Morgen ....für immer in mein Herz einschließen,..."

Insgesamt eine wirklich sehr gute Geschichte, inhaltlich und sprachlich (in weiten Teilen).

Ich bin gespannt auf deine nächste Geschichte.
Liebe Grüße
Orchideenfee

 

Schon am Vorabend trat die Einsamkeit ein.
Schon der erste Satz in der Personifizierung der Einsamkeit gefällt mir außerordentlich,

liebe/r/s Akuvi,
und damit ersteinmal herzlich willkommen hierorts!

Der zwote Satz ist nicht minder gelungen und ich finde bisher kein überflüssiges Wort:

Wie ein unsichtbarer Schleier floss sie durch die kleinen Räume unserer Wohnung, floss durch jede Tür und zwischen uns
Man kann (man muss es aber nicht) das fließende Duo durch ein anderes Verb ersetzen, dass es nicht zweimal genannt werde – etwa so
Wie ein unsichtbarer Schleier floss sie durch die kleinen Räume unserer Wohnung, [strömte/flutete o. a.] durch jede Tür und zwischen uns.

Und doch wirft sich am Ende des ersten Absatzes die Frage nach dem Gezeitenwechsel (bisher Präteritum, schließlich Präsens)
… wird gegangen. Wir wollen es so. Wir wollen weiter, auch wenn es uns das Herz zerreißt. Was gibt es da noch zu sagen?
Da würd ich keineswegs die Rückkehr zum Präteritum, sondern den Fortschritt zum Konjunktiv vorschlagen (den Du übrigens gut beherrscht im weiteren Verlauf!), denn ein Wollen ist noch lange keine Tatsache, die des Inidikativs bedürfte. Das sähe etwa so aus:
… weiter, auch wenn es uns das Herz zerr[risse]. Was [gebe/gäbe] es da noch zu sagen?

Zwomal ist ein Komma nachzutragen, sinnigerweise immer, wenn der Nebensatz zuerst auftritt:
Als müsste ich diesen Morgen mit allen Einzelheiten in mich aufnehmen und für immer in mein Herz einschließen[,] schaue ich aus dem Fenster.
(evtl., weil der Hauptsatz dagegen kurz ist???, was beim nächsten eben nicht gelten kann)
Als wir den Bahnsteig betreten[,] fährt der Zug gerade ein.

Einmal findet zusammen, was auseinandergehört
Nichteinmal
Besser auseinander!

Nicht nur wegen der vernachlässigbaren Anzahl von Schnitzern ist das ein gelungenes Debüt. Warum sollte die Trennung zweier Menschen/Liebenden als Geschlechtertrennung dargestellt werden? Insofern sogar ein schönes Stück für den herbistmanoth (ahd., nhd: Herbstmonat) in seinem Wechsel zwischen Betrübnis, Trauer (und vorgestern und heute hier) Licht.

Gruß und ein schönes Wochenende vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Wow, Leute, ihr seid großartig!! Vagant, Orchideenfee und Friedrichard, besten Dank für eure Kommentare!

Ich habe die Geschichte eben entsprechend der Anmerkungen nochmal durchgearbeitet. Zu den Sachen, die ich nicht übernommen habe, eine kurze Erklärung:

@ Orchideenfee:

"Der Schleier ist zwischen uns." -> "Ein Schleier"
Ich würde hier nach meinem Gefühl bei "Der Schleier" bleiben, weil er Bezug nimmt auf die eingangs erwähnte Einsamkeit, die "wie ein unsichtbarer Schleier" fließt.

"laufe davon, heraus aus dem Bahnhof" -> "laufe davon, verlasse den Bahnhof".
"heraus" soll das Gefühl widerspiegeln, das man hat wenn man eine Situation nicht erträgt und unbedingt heraus will. Diesen Drang davonzulaufen. "verlassen" klingt mir da fast etwas zu überlegt...

"Ich bin allein. Es fühlt sich anders an." -> "Ich bin allein. It's different. So fremd."
Kann mich noch nicht so recht damit anfreunden ;-), denke aber weiter drüber nach "Ich bin allein. It's different." zu übernehmen. Den Hinweis zum unterschiedlichen Bedeutungsgehalt des Wortes "different" finde ich sehr aufschlussreich und ich wäre selber nicht drauf gekommen. Ich zögere momentan nur wegen des deutlich anderen Klangs...

@ Friedel:

Ich hab das "fließende Duo" jetzt mal mit "drang" aufgebrochen.

Mit dem Konjunktiv im ersten Absatz bin ich noch nicht recht warm geworden, auch wenn ich den Hinweis sehr gut verstehe. Generell will ich die Sprache eher einfach halten und der Konjunktiv klingt schnell komplex und "dem Alltag enthoben". Statt "zerrisse" wäre vielleicht auch "zerreißen würde" denkbar, das werde ich mir noch ein bisschen durch den Kopf gehen lassen.
Das "gibt" aus dem letzten Satz habe ich durch "gab" ersetzt, da der Konjunktiv zu sehr nach Möglichkeit klingt und letztendlich bedeuten würde "in dem Moment, in dem es uns das Herz zerreißt, gibt es nichts mehr zu sagen." Ich will aber ausdrücken, dass es "schon am Vorabend nichts mehr zu sagen gab", aufgrund der Trauer, der mangelnden Zukunftsperspektiven etc. Also folgendermaßen:
Und wir wussten: [der nächste Schritt wird gegangen. Wir wollen es so. Wir wollen weiter, auch wenn es uns das Herz zerreißt.] Was gab es da noch zu sagen?

Alles andere ist eingearbeitet. Ich danke euch nochmal ganz herzlich!

Liebe Grüße,

Akuvi

 

"Schöne Brücke, hast mich oft getragen, / Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen / ... //// Schöne Brücke, magst du ewig stehen, / Ewig aber wird es nie geschehen, / Daß ein bessres Weib hinüberwallt!" Gottfried Keller: Alte Brücke - auch eine Trennungsgeschichte

Da bin ich nochmals, Akuvi, es ist gut, sich eigene Gedanken zu machen und dann auch den eigenen Kopf zu behalten. So muss es sein, das gefällt mir. Aber ein Schnitzeer ist doch noch zu korrigieren - vielleicht hab ich den sogar im ersten Durchgang übersehn. Ein Komma ist nachzutragen und eines eher entbehrlich, das erste ist ne ist-, das zwote ne kann-Regelung (manchmal sind rechtliche Kategorien sogar treffend). Hier kütte Zoch:

„Hast du Geld?“KOMMA fragst du,* und ich habe keins.
*kann, muss aber nicht.

Schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

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