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Abschied
Schon am Vorabend trat die Einsamkeit ein. Wie ein unsichtbarer Schleier floss sie durch die kleinen Räume unserer Wohnung, drang durch jede Tür und zwischen uns. Jedes Wort war überflüssig. Bedeutungslos. Wir standen an der Schwelle, an zwei Schwellen, jede in eine andere Welt. Und wir wussten, der nächste Schritt wird gegangen. Wir wollen es so. Wir wollen weiter, auch wenn es uns das Herz zerreißt. Was gab es da noch zu sagen?
Schon am Vorabend wurde jede Berührung unerträglich. Ein Schatten nur, eine Erinnerung aus der verblassenden, so glücklichen gemeinsamen Zeit.
Der Morgen des Aufbruchs beginnt früh. Das Gepäck wartet griffbereit. Schnell etwas essen, die Zähne putzen, an letzte Kleinigkeiten denken. Keiner von uns sagt ein Wort. Wir nehmen ein Taxi. „Hast du Geld?“, fragst du, und ich habe keins. Also gehe ich zurück. Das Taxi wartet drei Straßen weiter. Die Stadt ist noch menschenleer.
Schweigend fahren wir zum Bahnhof. Im Auto riecht es nach Leder und Herrenparfüm, das Radio spielt Telemann und ich bin verwundert über den Weg, den der Fahrer nimmt. Als müsste ich diesen Morgen mit allen Einzelheiten in mich aufnehmen und für immer in mein Herz einschließen, schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel ist mit einer hellgrauen, fleckigen Wolkenschicht bedeckt, es ist warm, eine junge Frau in violetter Bluse läuft auf dem Trottoir und liest in einem Manuskript. Alles ist wichtig. Dabei weiß ich im selben Augenblick, dass ich alles wieder vergessen werde. Schon morgen vielleicht. Von welchem Abschied bleiben einem schon die Einzelheiten?
Das ist der große, schreckliche Moment, auf den wir so lange gewartet haben, ohne ihn herbeizusehnen. Er zieht vorbei wie ein Film. Ich sitze regungslos, sehe dich nicht einmal an. Deine Hand liegt in meiner – und doch sind wir uns fern. Der Schleier ist zwischen uns. Ist dichter geworden über Nacht.
Am Bahnhof haben wir noch etwas Zeit. Ich hole mir einen Milchkaffee für einsfünfzig. Wenigstens die Verkäuferin hat gute Laune, denke ich. Wir sitzen nebeneinander in der Bahnhofshalle, ich trinke meinen Kaffee und erzähle dir etwas, das ich im nächsten Moment schon wieder vergesse. Dann wieder Schweigen. Als wir den Bahnsteig betreten, fährt der Zug gerade ein. Ich steige mit ein und helfe dir mit dem Gepäck. Sechs Gepäckstücke sind es, drei große und drei kleine. Dann umarmen wir uns und geben uns flüchtige Küsse. Du sagst „See you soon“, „Do well at the test“ und „I love you“. Meine Stimme findet den Weg durch die Tränen nicht. Vor der Türe sagst du noch einmal „I love you“. „I love you too“, sage ich und laufe davon, heraus aus dem Bahnhof so schnell ich kann. Der Zug ist noch nicht abgefahren, die Uhr zeigt 06:55. Noch eine Minute.
Draußen fühle ich mich besser. Ich öffne meinen Geldbeutel und nehme den Zweidollarschein heraus, den du am Vorabend hineingesteckt hast. Ich lese „The hardest thing I'll ever do...“ Eine letzte Nachricht aus unserer Welt.
Ich laufe durch die sich langsam bevölkernde Innenstadt und wünsche mir, es wäre eine Großstadt, die um diese Zeit schon zu tosen anfinge. Noch immer drängen sich mir Einzelheiten auf. Im ersten Stock des Eiscafés Fontana an der Alten Brücke steht eine Frau und wedelt grotesk mit einem Putzlappen in der Luft herum. Ich überquere die Brücke, um mich herum viel Platz, kaum ein Mensch zu sehen. Ich bin allein. Es fühlt sich anders an.
Erst kurz vor der Haustür wage ich, in ein Café zu gehen. Ich kaufe mir ein Croissant. Die Tränen sind getrocknet, man sieht mir den Abschied nicht mehr an.
Der Rest des Tages hüllt sich in hellgraue, fleckige Wolken.