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Abschied
Ich würde diese Welt nicht verlassen. Nicht einmal unser Schöpfer könnte mich von hier entfernen, bevor ich sie nicht ein letztes Mal gesehen hätte. Ich würde kämpfen, am Leben bleiben solange es gehen würde und durchhalten, denn mein Wille würde stärker sein, als dieser beißende Parasit der mich beherbergt. Meine Realität war auf ein kleines Fensterchen zusammen geschrumpft. Ich hatte mich verabschiedet von langen Reisen, von einem Gang zur Toilette oder überhaupt von jeglicher normaler Bewegung. Nun kannte ich die Hydraulik meines Krankenbettes, die ich kaum mehr bedienen konnte und die Bettpfannen, die mir gebracht wurden und die ich unkontrolliert füllte. Ich war ein Gefesselter, der frei sein wollte, aber der es sich nicht erlauben würde frei zu sein. Nicht bevor ich mich nicht von ihr verabschiedet haben würde. Ich wusste nicht wo sie sich befand, denn ihre Spur hatte sich schon vor einiger Zeit verloren. Seit mein Einkommen zurückgegangen war, also seit dieser Krebs meinen Körper betreten hatte, hatte ich mir den Privatdetektiv nicht mehr leisten können. Vielleicht wusste sie nicht einmal, dass ich hier lag. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es erfahren hatte war vermutlich sehr gering, aber ich war mir sicher, dass ich dieses letzte Abenteuer wagen musste. Durchhalten um etwas zu erhalten, was ich nicht wirklich verdienen würde. Ich hatte die letzten dreizehn Jahre in Einsamkeit mit mir selbst verbracht. Hatte in der Ecke gekauert und alles über mich ergehen lassen, mich nichts mehr getraut. Doch nun hatte ich mit einem Mal Vertrauen entwickelt. Vertrauen, dass ich ein glückliches Ende geschenkt bekommen würde. Das sie kommen würde und ich frei sein würde. Bis dahin würde ich hier, in meinem Krankenzimmer im dritten Stock, ganz am hinteren Ende des letzten Ganges, liegen und niemand würde mich dazu bewegen können wegzugehen.
"Wild horses couldn't drag me away."
Ich war noch jünger gewesen, als ich ihr diese Zeile zum aller ersten Mal ins Ohr geflüstert hatte. Sie muss ungefähr drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Meine Erinnerung hebt mich aus meinem schwachen Körper und bringt mich in ihr damaliges Kinderzimmer. Vor ihrem Fenster war es dunkel geworden und ihr kleines Bettchen wurde nur noch von einer funzeligen, kleinen Leuchte erhellt. Ich hatte meinen Kopf neben ihren kleinen Kopf gelegt, während uns die massiven Schränke und die schwebenden Mobiles mit gierigen Augen zu beobachten schienen. Fast jeden Tag wartete ich damals auf diese Art an ihrem Bett darauf, dass sich ihr Atem entspannen würde und sie sich ganz ihren Träumen überlassen würde. Als Kind ist die ganze Welt wesentlich fantastischer und fantasievoller. Schränke und Schatten werden lebendig und zu außergewöhnlichen Fabelwesen, die sich dann in Herrscharen um kleine Betten tummeln. Später habe ich oft versucht meine Arbeiten aus einem solchen Blickwinkel auszuführen. "Papa? Siehst du den Drachen? Siehst du ihn, da in der Ecke?" Unsere Gespräche waren die Besten, die ich je führte und ihre Worte besaßen stets eine entwaffnende Ehrlichkeit, die mich ihr Vertrauen schenken ließ. "Ich sehe sie. Dort drüben ist Bernie, den haben wir schließlich gestern schon beobachtet und dahinten, an der Ecke von deinem Schrank, ist das nicht der große Federschweif?" Die Schatten tanzten im leichten Licht der Lampe und regten meine kleine Tochter weiter an. "Hast du keine Angst, Papa? Ich grusel mich immer vor dem Federschweif. Der ist SO riesig!" Damals konnte ich die Drachen noch auf Anhieb erkennen. "Nein, ich habe doch eine starke Bogenschützin an meiner Seite." Sie griff mir mit ihren kleinen Händen an die Ohren und gluckste stolz. "Können wir uns gegenseitig beschützen, falls einer von Denen heute keine Lust mehr hat ein Pflanzenfresser zu sein?" "Machst du Witze?", antwortete Ich, "natürlich können wir das, dass müssen wir sogar, denn nur zusammen können wir überleben und stark sein. Nur zusammen sind wir wirklich wir. Ich sag dir noch etwas: Wild horses couldn't drag me away." Mit feiner, glasklarer Stimme sagte sie: "Papa was heißt das?"
Von einem Geräusch an der Tür wachte ich auf. Ich war immernoch am Leben und nur kurz eingenickt. Ich war immer noch 59 Jahre alt und hatte nicht mehr viel Zeit. Ich schaute erwartungsvoll zur Tür, doch die Schwester kam nur herein und ging nach einem kurzen, schweifenden Blick wieder. Was für eine Enttäuschung, wenn die Erinnerungen Hoffnung geben und die Gegenwart diese vernichtet. Aber ich war noch da.
Ich war immer da gewesen, nur war das früher oder später niemandem mehr aufgefallen. Ich versuchte zu verarbeiten, was in jüngeren Jahren geschehen war und begann darüber zu schreiben. Schriftsteller war ich schon zuvor von Beruf gewesen und hatte ein paar einigermaßen erfolgreiche Spannungsromane verfasst. Meine Charaktere konfrontierten mich dabei immer wieder mit mir selbst. Manchmal frage ich mich ob sie irgendeins meiner späteren Bücher gelesen hat. Mit achtzehn Jahren hatte sie eine Wahrheit aufgedeckt, die sie weglaufen ließ. Sie musste jetzt 31 Jahre alt sein und das Schlimmste an dieser Feststellung ist, nicht zu wissen ob sie überhaupt ihren 30. Geburtstag erlebt hat. Ich erinnere mich an meinen Schreibtisch und meinen mit Tintenpatronen bestückten Füllfederhalter. Ich kann hören wie die Mine präzise über das Papier kratzte um Worte aneinander zu reihen. Mit Worten skizzierte ich die Umrisse eines Autos und entfachte den Zündungsfunken in seinem Motor. Die Verwendung rasender Adjektive trieb die Geschwindigkeit des Autos in die Höhe und betäubte den Fahrer. Schließlich ließen die Begriffe Zerstörung zurück und ein Meer von Flammen und Verzweiflung. Klackernd und klickernd vereinten sich die Worte auf dem Computerbildschirm und ließen warme Hoffnung in der Ferne auftauchen. Ein rotgoldener Sonnenuntergang, der das Ziel war und in dem ich mich durch meine Worte verlieren konnte, entstand. In einigen Besprechungen wurde dieser Teil des Buches zu langatmig und kitschig genannt, doch ich mochte ihn immer sehr gerne. Ich muss dieses, letzte Kapitel meines Romans "Abschied" hunderte Male gelesen haben. Auch jetzt fuhr mein inneres Auge ein weiteres Mal über die feuchten Seiten und die Worte flogen wild durch meinen Kopf.
Die Linien zwischen Traum und Wirklichkeit vereinten sich in meinem Geist immer weiter und eine Unterscheidung fiel mir unglaublich schwer. Das Buch war ein Erfolg gewesen. Zumindest war es das erfolgreichste Werk, welches mich seinen Autor nennt. Es hatte mich immer angewidert, dass gerade "Abschied" mein bekanntestes und meist gelesenes Buch sein sollte. Mein Krankenbett war unverändert und meine Wahrnehmung verabschiedete sich in langsamen aber kontinuierlichen Schritten. Jetzt müsste schnellstmöglich etwas passieren, doch sie kam nicht. Draußen strahlte die Sonne gleißend hell wie das Licht, das mich wohl am Ende meines Tunnels erwarten würde. All die Worte, die ich an meinem Schreibtisch zu Papier gebracht hatte, trieben mich tiefer in die Welt der Erinnerungen. Ich fand mich im Alter von Mitte dreißig, in einem großen Raum wieder. Verschwommen erkannte ich eine Partygesellschaft meines damaligen Verlags. Ein Glas Sekt wurde mir gereicht und im nächsten Moment war es in mir verschwunden. Ich stand an einem Tisch, mit Menschen, die mich nicht interessierten, aber die ununterbrochen auf mich einredeten. Währenddessen flog mein Blick durch den Raum, bis er zwischen all den anderen Gästen meine beiden Damen erkannte. Ich lächelte und stürzte ein weiteres Glas Sekt hinunter, um ihm einen Kräuterlikör folgen zu lassen. Ich war auf dieser Verlagsparty, doch hatte ich seit mehr als einem Jahr nichts mehr geschrieben. Der gelegentliche Rausch am Abend war heute stärker und lässt Löcher in meiner Erinnerung klaffen. Ich bin an der Bar. Ich bin im Flur. Ich diskutiere mit ihr. Ich nehme sie in den Arm. Zusammen sind wir draußen vor dem Gebäude, als ich nach meinem Autoschlüssel forsche. Wenig später habe ich ihn gefunden, während meine Frau weiter in mein taubes Ohr redet. Wir sitzen im Auto und ich am Steuer. Die Landstraße wird von dem Lichtkegel ausgehölt, doch die nächste Kurve nicht. Sie ist scharf und plötzlich dreht sich alles. Mein Kopf rotiert wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. Ich höre sie schreien. Beide schreien so laut und grell und ich weiß, dass diese Schreie für immer bleiben werden. Es ist nichts mehr zu tun. Ich kann es nicht mehr verhindern. Der Baum ist hart wie Beton, aber die Beifahrertür nur wie ein zartes Stück Butter. Alles in mir wird schwarz wie die Nacht um uns, bevor ich im Krankenhaus ein totes Licht sehe. Ich weine dort und hämmere mit meinen Fäusten auf meinen Kopf ein und mit diesem gegen die Wand. Wieder wird alles schwarz und meine Erinnerung findet sich in einem Hausflur wieder. Ihr Bild hängt an der Wand und Tränen laufen weiter über mein Gesicht. Das letzte Bild ihrer Mutter ist vor zehn Jahren aufgenommen worden, als ich einer Flasche Whiskey Aufmerksamkeit schenkte. Sie verschwindet leise, ohne ein weiteres Wort zu sagen, doch ihre zehn Jahre alten Schreie hallen stets in meiner leeren Hülle nach.
Zurück in meinem Hydraulikbett heule ich auf und versuche mein Leben aus mir heraus zu schreien. Schließlich ist es nur ein lahmes Röcheln, dass meine Kehle verlässt. Ich schäume und winsele vor Verzweiflung. Innerlich zerreißen die Schmerzen meiner Seele mich schneller, als die zersetzende Wirkung des Krebs ihre Arbeit tun kann. Schwach von all der Verborgenheit und von meinem Leben lechze ich einsam nach Vergebung. Mit einem Mal ist keine Träne mehr in mir und als die Schmerzen versiegen merke ich, dass es zu Ende gehen wird. In weiter Ferne höre ich, wie sich meine Zimmertür öffnet. Eine weibliche Stimme versucht gegen den Nebel meines Geistes anzukommen. Langsam hebe ich den Arm und in Zeitlupe wendet sich auch mein Blick dem Eingang zu. Plötzlich kommt eine junge Frau in mein kleines Blickfeld und sie steht da, wie die Ausgeburt eines wundersamen Traumes. Meine schwachen Augen identifizieren sie als meine Tochter, bevor sie sich endgültig schließen. Es war vollbracht, dachte ich während meiner letzten Atemzüge, denn ich konnte mich nicht mehr am Leben halten. Ich hätte ihr gerne gesagt wie sehr ich sie erwartet hatte und das mir alles Leid tat und wie viel ihre Anwesenheit mir bedeutete. Doch ich konnte ihr nichts mehr sagen. Ich konnte nur noch spüren wie eine weiche Hand meine raue Hand umfasste, bevor ich durch meine nächste Reise umarmt wurde.