- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Abschied.
Safak öffnete die Tür und lief auf die Straße. Morgen war es also so weit, er würde nach nun über 38 Jahren in Deutschland zurück in die Türkei kehren. Es war ein schöner Vormittag, und er wollte ein letztes Mal durch das Viertel spazieren gehen, so wie er es tagtäglich getan hatte, nachdem er rund ein Jahr zuvor nach fast drei Jahrzehnten Fabrikarbeit in Rente gegangen war.
Seine Wohnung befand sich in einem dieser türkisch geprägten Problemviertel, die in den Jahren zuvor mehr und mehr in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit getreten waren. Die Menschen, die Sprache, die Läden, die Werbeplakate, die aus den umherfahrenden Autos dröhnende Musik, alles schien hier türkisch zu sein. Auf eine Wand hatte jemand in roter Farbe „Little Istanbul“ gesprüht, auf einem weiteren Graffiti hieß es dagegen „Scheiß Türkenghetto“. Nicht selten fuhren Kamerateams vor, befragten deutsche Passanten über ihren Alltag im Bezirk und filmten die zahlreichen türkischen Jugendgangs, die sich dann schnell um die Reporter versammelten, mit ihren Taschenmessern hantierten und voller Stolz in die Kameras grölten.
Safak ächzte. Der Schmerz in seinem Rücken wurde immer stärker, seine Schritte wurden kürzer und langsamer, der Gehstock tappte immer stärker auf den Boden. Er blieb einen Moment stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Dabei bemerkte er, dass eine Gruppe Jugendlicher, die vor einem Supermarkt lungerte, ihn stumm beobachtete. Sie waren in der Gegend und in den TV-Dokumentationen berüchtigt dafür, den ganzen Tag nicht viel mehr zu tun als auf der Straße ältere Passanten anzupöbeln oder Gleichaltrige „abzuziehen“. Als ihre Blicke sich mit seinem kreuzten, begrüßten die Jugendlichen ihn freundlich. Sie sprachen ihn mit „amca“ an, der türkischen Bezeichnung für „Onkel“, und erkundigten sich nach seinem Befinden. Safak bedankte sich bei ihnen dafür und lief langsam weiter.
Als er beim örtlichen Wettbüro ankam, dem Haupttreffpunkt der männlichen Anwohner des Viertels, sah er drei Bekannte in seinem Alter, die sich wie so oft bei schönem Wetter vor dem Laden zusammengefunden hatten. Wie jedes Jahr hatte ihnen der Besitzer des Büros einen großen Tisch draußen aufgestellt und ihnen Tee gemacht, den sie nicht bezahlen mussten. Da sie die ältesten Bewohner der Gegend waren, genossen sie Respekt. Safak war einer von ihnen, er begrüßte sie und setzte sich dazu. Die drei wussten, was ihm am nächsten Tag bevorstand.
„Morgen ist es so weit", sagte einer von ihnen und klopfte auf Safaks Schulter.
„Du gehst also zurück in die Heimat“, meinte der Zweite, „möge Allah sie uns allen noch einmal zeigen.“
Safak zwirbelte seinen langen weißen Bart und entgegnete nichts.
„Wirst du etwas vermissen, alter Freund?“, fragte ihn der Dritte.
Safak überlegte eine Weile, bis er antwortete: „Ich weiß es nicht.“
Die drei Bekannten nickten.
Nachdem er sich von ihnen verabschiedet hatte und sich auf den Rückweg gemacht hatte, ging Safak in einen Gemüseladen, der sich in der Nähe seiner Wohnung befand und dessen Ladenbesitzer er kannte. Der Ladenbesitzer war ein lebhafter und redseliger Mann, der seine Worte stets mit ausladenden Gesten unterstrich und der jung genug war, um Safaks Sohn zu sein. Der Laden war so gut wie leer, und als der Besitzer Safak eintreten sah, sprang er auf und begrüßte ihn, indem er seine Hand küsste und gegen seine Stirn drückte.
„Wie geht es dir, Safak amca?“
„Mir geht es gut, mein Sohn“, entgegnete Safak. „Zwar bin ich alt und fühle mich auch so, alles tut mir weh, doch morgen fahre ich endlich zurück in die Heimat.“
„Das freut mich sehr für dich, du hast es dir verdient. Eines Tages werde ich es dir gleich tun, so Gott will.“
„Warum willst du denn nicht hier bleiben?“
„Na, warum gehst du denn weg?“
„Ich gehe, weil ich dort hin gehöre. Weil mein Dorf, in dem ich die ersten dreißig Jahre meines Lebens verbracht habe, meine Heimat ist. Weil die Menschen, die Berge, die Natur, die Felder, die ich dort zurückgelassen habe, für immer ein Teil von mir sind. Weil meine Frau dort auf mich wartet, wie sie es seit dreißig Jahren tut.“
„Genau deswegen will ich eines Tages das Gleiche tun. Jeder Mensch möchte in seiner Heimat leben, oder nicht?“
„Ich denke nicht, dass man deine Situation mit meiner vergleichen kann. Ich kam als erwachsener und einsamer Mann in eine fremde Welt, und als solcher verlasse ich sie nun. Du aber bist doch hier geboren, mein Sohn. Du hast hier deine Frau und deine zwei Söhne, du hast diesen Laden. Du beherrschst ihre Sprache. Du und alle anderen in deinem Alter solltet versuchen, dieses Land als eure Heimat zu akteptieren.“
„Safak amca, du bist ein ehrenwerter, guter Mann. Jeder hier im Viertel schätzt dich, und du hast nie jemandem etwas Schlechtes getan. Also frage ich dich: wenn ein Mann wie du in all den Jahren in einem Land nicht heimisch wird, ist das nicht ein Zeichen dafür, dass etwas mit diesem Land nicht stimmt? Ich werde mich wohl nie an dieses Land und seine Menschen gewöhnen, und ich bin mir sicher, dass denen das ganz recht ist. Wie sehr ich auch versuchen würde, es als meine Heimat anzusehen, ich würde daran scheitern. An euch Alten sehen wir doch, dass es keinen Sinn hat.“
„Wir aber haben es nie versucht, mein Sohn“, sagte Safak.
Daraufhin sagte der Ladenbesitzer nichts mehr, und kurz darauf verabschiedete sich Safak von ihm. Den Versuch seines Gegenübers, erneut seine Hand zu küssen, wehrte er ab und umarmte ihn stattdessen. Als er den Laden verließ, merkte Safak, dass ihn das Gespräch bedrückt hatte.
Safak kam zu Hause an und lief die Treppen des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnte, mühsam hinauf. Er schloss seine Tür auf und wollte gerade in seine Wohnung treten, als er hörte, dass sich hinter ihm die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete. Er drehte sich um und sah seine Nachbarin. Sie musste wohl so um die vierzig Jahre alt sein und war eine allein erziehende Mutter. Hin und wieder bekam sie spätabends Besuch von immer wechselnden männlichen Gestalten. Mehr wusste Safak nicht über sie, er hatte so gut wie noch nie mit ihr geredet und sie auch nicht mit ihm, obwohl sie nun schon viele Jahre Tür an Tür lebten. Jetzt aber sahen sie sich an und er hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.
„Morge zurück gehe in Türkei“, sagte er verlegen auf Deutsch und lächelte.
„Ach“, sagte die Frau mit einer Mischung aus Höflich- und Gleichgültigkeit. Danach murmelte sie etwas davon, dass das aber schade sei und sie ihm dann mal alles Gute wünsche, und lief dann die Treppen hinunter.
Safak drehte sich wieder um, ging in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich zu.