- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Abschied
Café Uhrlaub, in der Hamburger Langen Reihe, St. Georg. Szeneviertel, nah am Hauptbahnhof. Im Moment viel zu nah für meinen Geschmack. Ich hasse den Hauptbahnhof.
Der Kellner wirft mir die ganze Zeit neidische Blicke zu. Er ist schwul. Der Mann in meiner Begleitung nicht, was mich zu einem glücklichen Mädchen macht.
Wir haben das "Spezial" bestellt. Der Name ist unglücklich gewählt, denn er klingt verdächtig. Was genau ist so speziell an vier Brötchen, zwei Scheiben Schwarzbrot, zwei Scheiben Graubrot, einer Aufschnitt-Platte und einem kleinen Korb mit Nutella, Honig und Butter? Vielleicht das Rührei auf der Aufschnitt-Platte? Der Schnittlauch?
Ich bin nicht oft hier, aber dafür gern. Einmal hatten wir hier ein Firmen-Meeting, die Fachhochschule ist ganz in der Nähe. Manchmal komme ich mit meiner Mutter her.
Mit meinem Freund war ich hier noch nie.
Worüber redet man, wenn man weiß, dass es zwölf Uhr ist und dass um 15:51 die Bahn fährt und man sich dann ein Vierteljahr nicht sieht?
An den Wänden hängen haufenweise Uhren, beim Namen des Cafés ist das irgendwie naheliegend. Die Uhren sind so freundlich, mich nicht daran zu erinnern, wie spät es gerade ist. Jede zeigt eine andere Zeit an. An irgendeinem Ort der Welt geht jede von ihnen richtig. Ich will nirgendwo anders sein als hier, ich will nirgendwann anders sein als jetzt. Kann die Zeit nicht stehenbleiben?
Ich hasse die Uhren.
"Du fehlst mir jetzt schon", sage ich. "Du mir auch", sagt mein Freund. Wir schauen uns an und lächeln beide.
Wenn er mich so ansieht, fühle ich mich wie ein anderer Mensch. Ich bin jemand Besonderes. Eine strahlende Flamme, die die Blicke aller anderen Menschen auf sich zieht. Der die Leute zulächeln, weil sie so viel Lebendigkeit ausstrahlt. Die die Kraft hat, auch dunkle Tage zu ertragen. In deren Leben es aber keine wirklich dunklen Tage gibt, weil sie genau weiß, dass die Sonne morgen wieder scheinen wird. Und weil sie von innen heraus leuchtet.
Ich fühle mich beinahe fiebrig. Vielleicht ist es der Espresso. Mein Herz schlägt so schnell, als würde es möglichst viele Schläge in die Stunden pressen wollen, die uns noch bleiben. Sie haben hier keine Sojamilch.
Wie bekommt man einen Film von einem Mac auf einen Windows-PC, dessen Bluetooth-Schnittstelle nicht funktioniert, wenn es kein funktionierendes öffentliches WLAN gibt und der Mac keinen SD-Kartenleser hat? Die Lösung dieses Problems frisst unsere Minuten. Obwohl die Uhren für andere Zeitzonen ticken, schlagen die Pendel unerbittlich Sekunde um Sekunde von der Zeit ab, die wir noch haben.
Er schafft es, gleichzeitig meine Hand zu halten und seinen Koffer hinter sich herzuschleifen, obwohl der Gehweg so gut wie unpassierbar ist vom Gemisch aus Schnee, Streugut und Dreck. Wir gehen zwei Häuser weiter zu einer der großen Kaffee-Ketten, wo sie auf Laktose-Allergiker eingestellt sind und ich nicht noch einen Espresso trinken muss, der mir ein Loch in den Magen brennt. Wenn wir schnell gingen, könnten wir in 10 Minuten bei meinem Lieblingscafé sein, aber in diesen 10 Minuten könnten wir uns nicht an beiden Händen halten und uns nicht in die Augen sehen und den Koffer müssten wir auch tragen.
Wir bestellen einen Latte Macchiato und einen Mokka mit Sojamilch für mich. Vanillesoja, schlägt der Mann hinter dem Tresen vor und wirft meinem Freund einen neidischen Blick zu, woraus ich schließe, dass er nicht schwul ist. Ich nicke. Wenn ich jetzt noch anstatt eines normalen Mokkas die White Chocolate-Variante nehme, wird mich der Zuckerschock wahrscheinlich umbringen, die süßeste Art zu sterben, und der beste Moment dafür.
Wir setzen uns auf zwei riesige weiche Sessel, die so wirken, als würden sie unzufriedene Kunden einfach fressen.
Er hat meine Hände zwischen seine genommen, um sie zu wärmen, weil sie eiskalt sind, das ist bei Frauen normal, draußen ist ja auch Winter. Mit dem Daumen streichelt er meine Finger.
Der Mokka ist widerlich süß, genauso wie immer. Ich weiß das, obwohl ich ihn nicht schmecke.
Ich schaue mich um, versuche, diesen Augenblick für immer in meinem Gedächtnis zu halten. Wir reden. Die Zeit vergeht wie im Flug. Irgendwann lässt er mich los.
"Ich bin kurz Kaffee wegbringen", sagt er. "Passt du auf, dass keiner den Koffer klaut?"
"Keiner außer mir, meinst du?"
Mit einem Lächeln verschwindet er Richtung Toiletten. Ich ziehe den Koffer etwas näher heran. Nehme die leere Kaffeetasse in meine leeren Hände. Wenn ich die Augen schließe, kann ich diesen Moment vielleicht speichern.
Wenn ich die Augen schließe und meine beiden Hände um einen dieser riesigen Kaffeebecher schließe, kann ich mir jetzt immer vorstellen, dass er gleich wiederkommt. Dass er mich anlächelt und dass ich nur die Tasse wegstellen muss, um ihn berühren zu können.
Ich hasse die Kaffeetasse.
Vielleicht funktioniert es auch anders herum. Vielleicht schlage ich die Augen wieder auf, und der Koffer ist fort, und die letzten Tage haben niemals stattgefunden.
Ich merke, dass er zurückkommt, obwohl ich es nicht sehe. Als ich die Augen öffne, sehe ich sein Lächeln. Ein Stein fällt mir vom Herzen - er ist wirklich hier.
"Träumst du?"
"Von dir."
"Ich bin bei dir."
"Das bist du." Ein Blick auf die Uhr. Diese Uhr zeigt die richtige Zeit an, aber die richtige Zeit ist die falsche Zeit, weil sie sagt, dass wir zum Bahnhof müssen. "Wenn der Zug pünktlich ist, wache ich in zwanzig Minuten auf."
Es gibt nichts dazu zu sagen. Wir gehen. "Wie findest du meinen neuen Koffer?", frage ich. Er lacht. "Soll ich ihn für dich tragen?"
Der Zug ist nicht pünktlich. Er wird nur wenige Minuten halten. Während wir warten, lasse ich ihn nicht los. Meine Haut soll sich an seine Berührung erinnern. Als der ICE angekündigt wird, umarmen wir uns. Ich lege die Stirn an seinen Hals und atme seinen Duft ein. Der raue Stoff seines Pullis kratzt an meiner Wange. Er hat sich seit ein paar Tagen nicht rasiert, ein wundervolles Gefühl auf meiner Haut. So real.
"Also", sagt er.
Geh nicht weg. "Komm bald wieder."
"So bald ich kann." Drei Monate. Eine Ewigkeit.
Ich liebe dich. "Du wirst mir fehlen."
"Du mir auch. Ich rufe dich an, bevor ich losfliege… ja?"
Flieg nicht los. "Mach das. Ich traue der Bahn nicht."
Er dreht sich halb um, betrachtet den ICE, lächelt mich an. Wenn er lächelt, ist es, als ginge die Sonne auf, obwohl sie sich dieses Mal hinter Wolken versteckt.
"Ich bin nicht traurig, weil du gehst", erkläre ich ihm. "Ich bin glücklich, weil du hier warst."
Mit dem Daumen wischt er mir eine Schneeflocke von der Wange, ich spüre die Feuchtigkeit. "Ich bin glücklich, dass ich hier sein durfte."
Ich halte ihn ganz fest. "Du kommst doch wieder?" Bitte, sag mir, dass du wiederkommst!
"Sobald ich kann."
Dann küssen wir uns, lösen uns voneinander, sagen Tschüss und er steigt ein. In dem Moment, in dem wir uns nicht mehr berühren, schwindet die Realität schon, wird weniger deutlich. Ich sehe ihm hinterher, wie er sich in der Schlange der Leute anstellt, die ihr Gepäck verstauen, ihre reservierten Sitze suchen und sich in die Stuhlreihen quetschen. Irgendwann kann ich ihn nicht mehr sehen. Er muss sich hingesetzt haben.
Er hat sich nicht noch einmal umgedreht.
Das Geräusch, mit dem ein Herz bricht, klingt genau wie das Geräusch, mit dem sich die Türen eines ICE schließen. Das habe ich bisher nicht gewusst. Meine Sicht ist unscharf, aber das liegt nur daran, dass es so verdammt kalt ist und meine Augen deswegen natürlich tränen. Mir ist schlecht vom Schokovanillesojamokka.
Blind fummle ich den Ipod Shuffle aus der Handtasche, befestige ihn am Kragen und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Meine Hände sind noch warm von seiner Berührung, aber ich merke, wie sie auskühlen.
Unsere Körper haben einander berührt, wir haben nebeneinandergelegen und einander gestreichelt, bis jeder Zentimeter meiner Haut mit seiner Berührung erfüllt war. Wenn ich morgen unter der Dusche stehe, wird es sein, als würde ich all das abwaschen. Ich werde die Bettwäsche eine Weile nicht wechseln. Trotzdem wird sie irgendwann aufhören, nach ihm zu riechen, bald schon.
Ich habe einen seiner Pullover geklaut. Wenn ich ihn anhabe, wird es sein, als würde er mich im Arm halten, nur, dass es nicht so sein wird.
Wenn ich schnell genug Musik anmache, laut genug, dann höre ich den Zug nicht abfahren.
Und in diesem Moment spricht Gott zu mir durch meinen MP3-Player. "Rock'n'Roll children, alone again. Rock'n'Roll children, without a friend they still have Rock'n'Roll."
Ich hasse dich, Gott.