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Abschied

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23.05.2008
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Abschied

„Geh mir aus dem Weg, du Saftsack!“ schrie Henry. Tom erwiderte nichts, stand auf die Seite und wartete bis Henry in seinem Abteil verschwand. Dann murmelte Tom etwas, so dass eigentlich nur er es hören sollte. „Hey Henry, Tom denkt du bist ein blöder Hund“ rief Joe laut aus seinem Abteil während er seinen Kopf aus dem Vorhang steckte und schadenfreudig grinste. Tom wusste, was ihm nun blühen würde: Henry würde nochmals aus seinem Abteil steigen, würde ihm mit Schlägen drohen und sie würden sich gegenseitig verprügeln. So wie immer. Doch nichts geschah. Henry kam nicht. Joe rief noch einmal kurz nach ihm, wartete einen Augenblick, zuckte dann mit den Achseln und zog sich zurück.
Kurz darauf fand sich Tom im Bett liegend an den Boden des nächsten Schlafabteils starrend. Tom war 13 und seit drei Jahren hier unten. Er hatte sich noch immer nicht an die Enge gewöhnt. Früher lebte er mit seinen Eltern auf dem Land und verbrachte jede freie Minute draussen. Hier schlug er sich jeden Morgen beim Aufstehen den Kopf an und lebte mit 18 weiteren Jungen in einem Zimmer der gleichen Grösse wie er es früher mit seinem Bruder Alex geteilt hatte. Tom vermisste Alex. Seit einem Jahr hatte er ihn nicht mehr gesehen, aber es gab noch keine Todesmeldung. Ausserdem wusste Tom, dass sein grosser Bruder noch lebte.

Als am nächsten Morgen um 05.30 Uhr die Sirene heulte und eine halbe Minute später das Licht anging, hatte Tom das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein. „In 15 Minuten habt ihr gefrühstückt, wir treffen uns dann um 06.00 in der Haupthalle! Nehmt die Grundausrüstung mit!“ schrie der Ausbildner. Tom stand auf, zog sich seine Klamotten an, schlüpfte in die ausgelatschten Lederstiefel und schlurfte zur Toilette. Nachdem er gepinkelt, sich die Hände und das Gesicht gewaschen hatte, setzte er sich an den Tisch im Aufenthaltsraum. Auf dem Tisch standen zwei Kisten, eine mit Brot und eine mit etwas Butter, einem grossen Glas Brotaufstrich und ein etwas kleineres Glas mit den Nahrungsergänzungspillen. Tom war früh heute und konnte deshalb noch ein Brot streichen, welches er anschliessend in seinen Mund stopfte. Essen war zwar kein Spass mehr seit sie hier leben mussten, dennoch bevorzugte er etwas zum beissen. Die Pillen vermittelten kein Sättigungsgefühl. Sein Sackmesser wischte er anschliessen an seinem Anzug ab und steckte es zurück in seine Ärmeltasche. 5.39 Uhr, noch sechs Minuten bis zum Antreten. Tom ging zurück in den Massenschlag zu seinem Stauraum, wo er sich die Grundtrageeinheit umschnallte und den Schlagstock schnappte. Er wühlte etwas in einer Tasche seiner Trageeinheit um seine Wasserflasche zu kontrollieren. Sie war leer, er ging zurück in den Waschraum und füllte sie mit dem stark chlorhaltigen Wasser. Anschliessend verliess er die Unterkunft und ging zum Treffpunkt in der Vorhalle.
Das allmorgendliche Ritual des fünften Zuges begann um 05.45 Uhr als sich die Knaben in einer Zweierreihe sammelten und, sobald der letzte aus ihrer Unterkunft aufschloss und „komplett“ rief, anschliessend im Gleichschritt zur grossen Haupthalle verschob. Es war noch dunkel, die Lampen in den kleinen Verzweigungen des Höhlensystems wurden erst um kurz nach 6 angeworfen, manchmal. Während sie marschierten überlegte sich Kenny, der kleinste und damit der letzte in der Reihe, warum er denn heute alleine in seinem Glied der Zweierreihe stand. Auch wenn er erst vor ein paar Wochen zu diesem Zug gestossen war, hatte er inzwischen gelernt, dass man nicht allzu viel hinterfragen sollte. Ausserdem war sprechen während der Verschiebung zum Hauptverlesen verboten.
Als die Gruppe schliesslich in der beleuchteten Haupthalle ankam und sich dort zwischen zwei Gruppen ebenfalls in einer Vierrerkolonne aufstellte, bemerkten schliesslich auch die anderen Jungen des fünften Zugs, das Henry nicht hier war. Henry war der älteste und damit auch Zugführer wenn kein anderer Vorgesetzter bei der Gruppe war. Sie liessen den Platz rechts vorne frei, Henry würde ihn einnehmen sobald er da war. Es war nichts aussergewöhnliches, dass der Zugführer eine halbe Stunde vor den anderen aufstehen musste und erst beim Hauptverlesen zu ihnen stiess.

Doch Henry kam nicht. Um 05.59, als alle zehn Gruppen sauber in Vierrerkolonnen dastanden, schrie der Komandant „Zugführer, Bestände!“ woraufhin alle Zugführer die vordere rechte Ecke verliessen und nach vorne rannten. Alle ausser derjenige vom fünften Zug: Henry war nicht da. „Wer ist Henry’s Stellvertreter?“ fragte Steve über seine Schulter. Steve war der grösste Junge und stand damit normalerweise direkt neben dem Zugführer. „Tom, das bist du!“ antwortete Joe darauf. Tom wehrte sich vehement dagegen Zugführer-Stellvertreter zu sein: „Kurt ist älter als ich, er soll gehen!“. Inzwischen hatte der Kommandant gemerkt, dass im fünften Zug etwas nicht stimmte. „Ruhe!“ schrie er den ganzen Trupp an und augenblicklich standen alle Jungen ruhig da und schauten wieder geradeaus. Der Kommandant öffnete seine Beintasche, zog einige Papiere hervor und las nach was da los war. „Tom Brechter, zu den Zugführern vortreten“ rief der Kommandant und Tom hatte keine Wahl mehr. Er rannte nach vorne und stellte sich an fünfter Stelle in die Linie der anderen Zugführer. Nach und nach meldete jeder von ihnen aus wie vielen Rekruten die Gruppe bestand und ob alle gesund und anwesend waren. Tom versank kurz in Gedanken und stempelte die Bestandesaufnahme als Alibiübung ab. Wohin hätten sie auch verschwinden können, sie waren eingesperrt, unter der Erde! „Zug fünf, Bestand 18, komplett!“ hörte sich Tom im Halbschlaf sagen als er an der Reihe war. Der Kommandant notierte etwas, blickte auf und zog dann erneut die Liste von vorher hervor. Tom ekelte sich kurzzeitig vor den eitrigen Pickeln im Gesicht des Kommandanten, schob den Gedanken aber beiseite. „Tom Brechter! Sie sind wohl zu gar nichts zu gebrauchen! Ihr Bestand ist neu 17 und sie sind heute mit Sicherheit nicht komplett, Henry Kingler wurde letzte Nacht zum Soldaten befördert und musste in den Einsatz. Sie sind der neue Zugführer. Wie viele Rekruten sind in ihrem Zug?“ schrie ihn der Kommandant an während sein Gesicht rot anlief und die Narben der Pickel noch hässlicher anschwollen. Tom antwortete nach kurzem sammeln: „Wir sind 17“. „Reissen sie sich zusammen, Rekrut!“ schrie der Kommandant und fuhr mit der Bestandesaufnahme des sechsten Zuges fort.
Zwei Minuten später liess der Kommandant die Zugführer zu ihren Gruppen zurücktreten und fuhr mit dem Tagesprogramm fort. Aus Gewohnheit nahm Tom beinahe seinen alten Platz in der zweiten Reihe ein, wurde allerdings von Steve darauf aufmerksam gemacht, dass er nun vorne rechts stehen müsse. „Wo ist Henry?“ wollte Steve von Tom wissen als dieser neben ihm stand. „Später!“, antwortete Tom.

„Schon wieder ein Monat vorbei, Retablierungsaufnahme“ schrie der Kommandant. „Sind jemandem die Schuhe zu klein oder zwickt es sonst irgendwo?“. Ein Junge aus dem zweiten Zug hielt die Hand auf und rief „Ausbildner, Rekrut Jakob“. Seine Stimme versagte, vermutlich wegen dem Stimmbruch. Er versuchte es erneut, diesmal auch hörbar und fügte an „Mein rechter Schuh hat ein Loch in der Sohle“. Der Ausbildner nahm sich Notizen, blickte auf und rief „Heute Abend nach der Ausbildung in die Retablierungsstelle!“. Einem anderen Jungen waren die Hosen zu klein weil er schnell gewachsen war und ein weiterer hatte ebenfalls ein Problem mit den Schuhen. Tom hatte einen Teil seiner Chemieschutzausrüstung verloren und überlegte sich ob er dies melden sollte, doch die Ereignisse der letzten Minuten und die Erinnerung an die letzte Bestrafung als er sein Sackmesser nicht mehr finden konnte, liess ihn schaudern und auf seinen Mund hocken. Damals musste er die ganze Nacht durch die Unterirdischen Gänge rennen und sein Messer suchen. Nach rund 6 Stunden Suche wurde ihm eröffnet er könne mit Suchen aufhören und sein Messer beim Feldweibel abholen. Ein anderer Rekrut hatte es gefunden und abgegeben.
Während Tom so dastand, in bequemer Stellung an der Position des Zugführers, schossen ihm Bilder von Henry durch den Kopf. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er nun früher aufstehen musste als alle andern und dass er der nächste sein würde der sich verabschieden müsste. In etwas mehr als drei Wochen hatte er Geburtstag und er würde zum Soldaten befördert werden. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er in den Krieg ziehen würde.

 
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Hallo!

Zugeben, anfangs war ich irritiert. Du erwähnst häufig Abteile und Zugführer, sodass ich auch oft an einen Zug, als solchen denken musste.

Das Problem an der Sache ist, dass mir generelle Infos über die Welt ansich fehlen. Was geht da überhaupt vor sich? Befinden wir uns in der Endzeit? Wer lauert da draußen? Aliens, oder eine Maschinenintelligenz? Die Jungen werden ja offensichtlich zu Soldaten herangezüchtet. Gehe darauf doch ein wenig mehr ein. Vielleicht wäre hier und da ein bisschen Bedrohung nicht schlecht. Wie wäre es denn, wenn wir ein heimliches Gespräch belauschen könnten, wo wir erfahren, wie groß und entsetzlich die Gefahr durch den Krieg wirklich ist. Und, was der Hauptfigur bestimmt auch nicht schaden könnte, wäre ein wenig aufbegehren, gegen das ganze Unterfangen, oder zumindest einen anderen Konflikt. (Mal Richtung Titel schielen:)). Möglicherweise will er das Spiel nicht mehr mitspielen... Okay, ich arte aus. Mir kommen nur viele Ideen in den Sinn, aber es ist ja Deine Geschichte:)!

Gruß,
Satyricon.

P.S. Noch eine kleine Randnotiz: Schreibe doch statt "Abteil", lieber "Parzelle", oder etwas in dieser Art. Klingt vielleicht ein wenig SciFi-mässiger:).

 

Hallo Satyricon

Zuest mal danke fürs Durchlesen und Kritik schreiben.
Bezüglich "Abteile und Zugführern": Die Kombination ist wohl etwas unglücklich, die Zugführer und den Zug gibts halt im Militär, wo ich auch die Idee herhab. Ich bin nicht auf die Bedrohung ausserhalb eingegangen (keine Aliens, Maschinen etc) weil dies eigentlich nicht im Zentrum stehen sollte. Zentral wäre, so meine Absicht, der Gehorsam der Soldaten trotz Ahnungslosigkeit. Die Stumpfheit die aufgezwungen wird und der Verlust der Menschlichkeit.

Und schon rutscht man in die Erklärung ab. Mir ist durchaus bewusst, dass eine Geschichte die eine Erklärung braucht, noch keine gute Geschichte sein kann. Ich hatte übrigens auch überlegt die Geschichte in einer anderen Rubrik (Gesellschaft) zu veröffentlichen.

Deine Idee mit dem heimlichen Gespräch finde ich interessant. Ich überlege ob ich am Anfang einen Dialog zwischen Henry und dem Kommandanten einführe, in dem Henry gesagt wird, dass er am nächsten Morgen in den Krieg zieht.

Danke und Gruss
parandroid

 

Hallo Satyricon

Zuest mal danke fürs Durchlesen und Kritik schreiben.
Bezüglich "Abteile und Zugführern": Die Kombination ist wohl etwas unglücklich, die Zugführer und den Zug gibts halt im Militär, wo ich auch die Idee herhab. Ich bin nicht auf die Bedrohung ausserhalb eingegangen (keine Aliens, Maschinen etc) weil dies eigentlich nicht im Zentrum stehen sollte. Zentral wäre, so meine Absicht, der Gehorsam der Soldaten trotz Ahnungslosigkeit. Die Stumpfheit die aufgezwungen wird und der Verlust der Menschlichkeit.

Und schon rutscht man in die Erklärung ab. Mir ist durchaus bewusst, dass eine Geschichte die eine Erklärung braucht, noch keine gute Geschichte sein kann. Ich hatte übrigens auch überlegt die Geschichte in einer anderen Rubrik (Gesellschaft) zu veröffentlichen.

Deine Idee mit dem heimlichen Gespräch finde ich interessant. Ich überlege ob ich am Anfang einen Dialog zwischen Henry und dem Kommandanten einführe, in dem Henry gesagt wird, dass er am nächsten Morgen in den Krieg zieht.

Danke und Gruss
parandroid


Hey!

Okay, ich dachte auch nicht an eine lange, detaillierte Erklärung, sondern eher an so kleinere Hinweise, die man hier und da einstreuen könnte, sodass eine Ahnung von etwas entsteht. Ich kann Deine Absicht nachvollziehen, aber der Kontrast zu einer Bedrohung, die auch irgendwie (und sei es nur schemmenhaft) wahrnehmbar ist, würde dem Ganzen - so denke ich - mehr Würze geben. Stell Dir mal eine historische Geschichte vor, die über die Hitlerjugend (um mal ganz speziell bei Jugendlichen zu bleiben) erzählt, nur ohne Krieg. Das dieser Vergleich ein wenig hinkt, ist schon richtig, aber ich halte dennoch daran fest.

Aber es ist und bleibt es Deine Geschichte:D. Und noch mal zum Thema Protagonisten: Auch wenn in dem Lager Gehorsam gedrillt wird, wären ein paar Widerstände bestimmt nicht verkehrt.

Gruß,
Satyricon

 

Das ß ist nicht völlig abgeschafft worden. Oder benutzt du keine deutsche Tastatur? Die Kommasetzung scheint dir auch Probleme zu bereiten.

Ansonsten finde ich die Geschichte gut geschrieben. Sie liest sich flüssig.
Eines verstehe ich nur nicht. Alex wurde bereits eingezogen. Tom weiß, dass er noch lebt. Also wusste der Junge um die Gefahr, die auf ihn wartet. Dass die Kinder alle so ahnungslos sind ... wird der Krieg vor der Weltbevölkerung verheimlicht?

 

@Schusterjunge: Laut Profil kommt der Autor aus der Schweiz. Daher ist es ok, dass er kein ß benutzt.

 

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