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Abschied vom Bruder

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20.10.2002
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Abschied vom Bruder

Abschied vom Bruder


Ich arbeite in einer Kneipe, und ich arbeite da gern. Wir haben viele Stammgäste, ätzende und nette, die ganze Welt ist eine Kneipe. Einer von den Gästen gefällt mir ganz gut.
Er ist Architekturstudent, hat kurze, braune Haare, Rehaugen, er ist immer braungebrannt, er hat ein liebes Lächeln und viele weiße Zähne. Schön.
Ich sehe ihn nur in der Kneipe und wir flirten ein bißchen.
Einmal treffe ich ihn auf der Straße, ich bin gerade mit meinem kleinen Bruder unterwegs.
Mein kleiner Bruder ist fünf Jahre alt, er hat caramelfarbene Haut und goldenes Haar, er ist immer fröhlich und lacht den ganzen Tag, es ist Sommer, ich halte ihn an der Hand.
Ich liebe meinen Bruder sehr, er ist das wundervollste Kind der Welt.
Ich und mein Bruder an der Hand, wir treffen den netten Stammgast und wir beschließen etwas zusammen zu unternehmen, jetzt, zu dritt. Vielleicht zum Baden.
Er muß nur noch schnell seine Sachen holen von zuhause, ist ganz nah, gleich hier,
"Kommt ihr mit rauf?"
Wir kommen mit rauf, ich und mein Bruder an der Hand, wir gehen rauf in die Wohnung, wir stehen im Wohnzimmer, der süße Kerl sucht seine Sachen.
Ich lasse meinen Bruder los und sehe mich um. Ich gehe den Gang entlang, sehe mir die Bilder an. Hier geht`s ins Badezimmer, nett, dort hängt eine Collage aus Fotos in einem häßlichen Holzrahmen, hm. Wer wohl das Mädchen im Bikini ist?
Und plötzlich höre ich einen gellenden Schrei, hoch und entsetzlich, mein Bruder schreit. Ich renne ins Wohnzimmer, und ich starre auf das Bild, dieses Bild das ich niemals vergessen kann, niemals. Seit zwanzig Jahren nicht.
Dort steht mein Bruder, nackt und blaß, die Augen geschlossen und schreit. Seit zwanzig Jahren sehe ich ihn dort stehen und schreien.
Jede Nacht.
Sein goldenes Haar ist nur noch strohgelb, auf einem seiner geschlossenen Augen klebt etwas Braunes, da, noch mehr auf seinem rundlichen Kinderbauch.
Braun ist der Haufen Scheiße der auf dem Teppich liegt, der Kerl dahinter, er zieht sich gerade die Hosen hoch. Erschöpft sieht er aus und häßlich, befriedigt, die Augen halb zu. Er wendet sich ab, langsam, erschrickt nicht, sein Moment ist vorbei und mein Bruder schreit.
Nie mehr wird es wie vorher sein, das Vorher gibt es nicht mehr.
Warum habe ich deine Hand losgelassen, habe zugelassen daß er dir das Lachen raubt. Tot ist von nun an das Kind das du warst, schreist du und schreist.
Kann ich nichts tun als vor dir knien und mein Entsetzen hält mich mit eiserner Klaue,
leb wohl geliebter Bruder, leb wohl.

 

so, nun aber ich mal. zur verteidigung von rabenschwarz:
also, dass dies eine traumaufzeichung ist, philosophische ratte, dass ist keine entschuldigung für den stil! beiweitem nicht! auch authentizität in der literatur bedient sich gewisser mittel, die literarisch sind...

alexandra erwähnte bereits, dass sie diese Handlung geträumt hat! (hast du vielleicht übersehen)
In Bezug auf diesen Traum ist diese Erzählung somit "authentisch",

das zeigt noch gar nicht, dass diese sogenannte kurzgeschichte, wirklich sich der mittel der literarischen authentizität bedient! dies muss man gewiss reflektieren!

und ich finde diese authentizitätsmittel nicht besonders gut. das ganze kann so im tagebuch stehen - als traumaufzeichnung, aber nicht als kurzgeschichte...

gruß,
nikto

 
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Hallo Alexandra!

Ich denke schon geraume Zeit nach, was ich zu Deiner Geschichte schreiben soll, nun bin ich mir klar darüber.
Die Aussage, die Dein Text für mich hat, ist die, daß Kindesmißbrauch meistens dann geschieht, wenn man nicht damit rechnet und daß wir auf unsere Kinder viel besser aufpassen müssen, als wir es üblicherweise tun.
Stilistisch finde ich ihn nicht besonders gelungen, Du könntest tatsächlich dem Text wesentlich mehr Tiefe geben.

Ich möchte jetzt mal nur zum Ende Deiner Geschichte sagen, daß es mir so überhaupt nicht gefällt.
Wenn Du das Thema "vorbei die Kindheit" derart oberflächlich behandelst, wäre es besser, Du laßt es ganz weg.
Zwar stört mich auch schon die ständige Wiederholung von "mein Bruder schreit" - weil es nichtssagend ist, (wie schreit er, was schreit er?) und warum überhaupt kann er stehen, nach dem, was ihm gerade widerfahren ist? Müßte er nicht am Boden liegen und sich krümmen?

Am Schluß würde ich an Deiner Stelle einiges weglassen (oder Du gehst näher drauf ein) und eine kleine Änderung vornehmen, etwa so (Kursives stammt von mir):

Er wendet sich ab, langsam, erschrickt nicht, sein Moment ist vorbei und mein Bruder schreit.

Auch heute, zwanzig Jahre später, schreit er immer noch, innerlich.
Warum habe ich deine Hand losgelassen, habe zugelassen daß er dir das Lachen raubt?

Alles liebe,
Susi

 

Moin Susi, dein Vorschlag gefällt mir :) (Der Satz, den du da eingebaut hast)
Den Erzählstil find ich für eine Nacherzähung oder eine Traumerzählung in Ordnung, eine literarische Meisterleisung ist es zwar nicht, aber es hat so eine andere Aussage als wenn es eine perfekt erzählte Geschichte wäre. So finde ich, dass es glaubwürdiger rüberkommt... Aber ein neuer Text zum Vergleich wäre mal interessant ;)

 

Hallo Alexandra,

ich bin nicht so sehr für diese Schockeffekte. Sie sollen zwar aufrütteln, aber ich denke insgesamt, verbunden mit anderen Effekten, stumpfen sie nur ab. Man sollte doch auch ohne durch Schock animiert zu sein, für Kinderrechte etc. eintreten. Ich finde es schlimm, wenn unsere Gesellschaft erst durch Katastrophen aufgerüttelt wird.
Trotzdem – die Geschichte ist gut erzählt, die Ruhe vor dem unerwarteten Sturm ist ein gutes Spiegelbild alltäglichen Lebens. Fazit: Wir können nie vor dem Bösen im Menschen sicher sein, so harmlos eine Situation auch ist. Es ist war, aber grausam.

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 
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hallo alle zusammen,

das wird ja noch richtig lustig hier! und jetzt sag ich auch mal wieder was dazu:

@ Rabenschwarz: du hast sehr stark auf den Text reagiert, ich danke dir für deine ausführliche Kritik- und wollte sagen:

1. INTENTION Ich will nicht zum Nachdenken anregen, kein Mitleid oder Ekel erregen, ich will was erzählen, was meiner Meinung nach eine echt gute Intention ist eine Geschichte zu schreiben.Daß ich mich freue wenn es die Lesefrösche schüttelt, dann deswegen weil es eine Gefühlsregung ist, es hat sie etwas erreicht, das macht mich froh und scheppig.

2. STILPOLIZEI, Die gute, alte. Ich hielt das kühle, beobachtende Erzählen in diesem Fall für fantastisch aus zwei Gründen:
- Zum einen finde ich den extremen Gegensatz von Stil und Thema prima, z.B. Gefühlskatastrophen distanziert zu beschreiben, das macht Spannung, ist eigenartig.
- Zum anderen scheint es mir angemessen da Menschen in Extremsituationen oft das Geschehen erleben ´als ständen sie neben sich`, als sähen sie von außen zu, z.B. wenn man einen Schock erlebt.
Daß du längst über dieses Stilmittel hinaus bist, ist schön und freut mich natürlich für dich.
Es bleibt auch zu überlegen ob es wirklich nötig ist dem Leser jede Gefühlsregung vorzukauen,ich meine manchmal ist weniger mehr. Wenn ich dir nur einen Handlungsablauf erzähle und wie sich der Prot verhält, ist meiner Meinung nach ganz klar was in demjenigen abläuft, klarer noch als wenn ich das Gefühl beschreibe, da es der Leser selbst ist der es für sich, persönlich, mischt.

3. UND ÜBERHAUPT Wie schon bemerkt wurde geht es in diesem Text nicht um ausgefeilte Charaktere, sondern um einen Moment, einen sehr intimen. Natürlich könnte man diese Geschichte ganz anders schreiben, nur dann wäre sie nicht mehr-
so.

liebe Grüße, alex.

 
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und:

@Nikto: auch dir wollte ich eine ellenlange Antwort schreiben, aber das meiste davon steht in der Antwort an San, frecherweise verweise ich dich da einfach hin, ok? in der Tat hat die kg Tagebuch- oder Traumcharakter, war ja ein Traum. aber ohne das zuzugeben- darf eine kg denn das? oder nicht?


@Häferl: liebe Häferl, "..auf die Kinder besser aufpassen..."
ja, natürlich sollten man besser auf seine Kinder aufpassen, war aber nicht so daß ich mir dachte: so, jetzt schreibe ich einen Text der darauf hinweisen soll, daß man besser...etc. die Intention habe ich unter Anklagepunkt eins von Rabenschwarz beantwortet. dein Satz gefällt mir sehr gut, werde ihn da jetzt so ähnlich reinmogeln, danke.

@hastdunmotto: und weißt du was? die nächste Geschichte wird richtig anders, dann kannst du lustige Vergleiche anstellen, hihi.

@Wolto: hast ja recht, das mit den Schockeffekten ist irgendwann nicht mehr der Bringer, ich stehe nur so entsetzlich drauf. vertrackt, vertrackt.

@Insomnia: freut mich daß es dir gefallen hat. wenn du nicht mehr einschlafen kannst mußt du nur ein bißchen an Milch denken, oder Schafe trinken :)

@Philo: ;)

 

Hallo Kristin.

Danke für deine Kritik, ist sehr konstruktiv.
Die Handlung überstürzt sich tatsächlich, ich wollte gerne daß alles schnell geschieht, damit dieser vermaledeite Schockeffekt größer ist.
Allerdings hast du recht daß der Kerl sehr wenig Zeit hat für seinen Mißbrauch. Das, und daß sie sich im Wohnzimmer aufhalten sind Logikfehler, lustig daß bisher niemand darauf gekommen ist. Ich auch nicht.

Was tatsächlich passiert ist ( die Sache mit de Scheiße) wollte ich nicht detailliert beschreiben, ich dachte daß die jeweilige persönliche schlimmstmögliche Vorstellung jedes Lesers schrecklicher ist, als etwas was ich ihm vorsetze. Es sollte nur klar sein daß etwas entsetzliches passiert ist.

Liebe Grüße, alex.

 

hi alexandra,
war neugierig,was du so schreibst, und siehe da. Schöne Geschichte. Das Ende hast du gut beschrieben. Die Schreie, sein Blick, seine geisterhafte Gestalt, ...
Kritik, wie gesagt, mach ich eigentlich nur, wenn ich ein Besserungsvorschlag machen kann. Kann aber nicht, weil ich weiß nicht wie. Vielleicht den Erzählstil flüssig lassen, weil der Leserhythmus hinkte ein wenig.
Aber da bin ich noch selbst Laie auf dem Gebiet.
Grüße
Daigoro

 

Hi Daigoro,

egal ob man Verbesserungsvorschläge macht oder nicht, ich freue mich immer wenn gelesen und kritisiert wird und etwas hast du ja gesagt. Interessant zu dem Them übrigens Barde´s Diskussion `Kritik an uns Kritikern`im Diskussionsforum,

liene Grüße, alex.

 

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