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Abschalten
Es war stickig.
Er öffnete das Fenster einen Spalt, um frische Luft in den Raum zu lassen. Durch die Scheiben sah er einen großen Parkplatz, Autodächer, eine vielbefahrene Straße, Feierabendverkehr, nichts Schönes.
Das Zimmer war in der zwölften Etage. Der Blick aus dem Fenster hatte sich festgebrannt in ihm. Stunden, Tage, dazu ihr regelmäßiges rasselndes Atmen. Das schlechte Gewissen, wenn seine Gedanken sie verließen und in die Ferne flogen.
„Lassen Sie sich Zeit!“
Es war ein langer, quälender Weg gewesen. Endlose Gespräche. Mitgefühl, das ihm begegnet war, manchmal echtes. Unverständnis, Unterschriften. Gutachten. Alles war ihm entgegengewuchert, hatte ihn umschlungen.
„Lassen Sie sich Zeit!“
Die Schwester ließ ihn allein mit ihr. Sie hatte ihm gezeigt, was zu tun war.
Er setzte sich in den Sessel. Schloss die Augen.
Eine junge Frau sitzt ihm gegenüber. Sie liest, den Kopf über ein Taschenbuch gesenkt. Zwischendurch blickt sie auf und ihm ist, als hätte er ein Lächeln erhascht. Dann wendet sie sich wieder Siddharta zu.
Der Rhythmus ist eintönig. Schwellenrumpeln. Noch weit entfernt das geräuschlose Beschleunigen eines ICE. Jahrzehnte. Vor dem Fenster die grün bewachsenen Berge des Inntals. Nicht so hoch und schroff wie die Alpengipfel, die er vor zwei Stunden passiert hatte. Er kam aus Italien, hatte Freunde in Rom besucht. Sie war in Kufstein an der Grenze zugestiegen.
„Darf ich Sie fragen, was Sie lesen?“
Sie konnte ja nicht wissen, dass er den Titel schon erspäht hatte. Jahre später hat er ihr diesen dummen ersten Satz gestanden.
Sie senkt das Buch wieder. Lächelt.
„Siddhartha“, antwortet sie. Haben Sie es gelesen?
Er hat natürlich. Alle hatten sie ihren Hesse gelesen. Es entsteht ein Gespräch über nichts Geringeres als das Leben und der Wunsch nach einem Wiedersehen. Ein mächtiger Wunsch. Er will dieses Lächeln fangen und nicht mehr loslassen. Das weiß er schon vor Rosenheim. Bis München haben sie haben noch eine gemeinsame Stunde.
Der Zug ächzt und schnauft, als er in den Bahnhof einfährt und zum Stillstand kommt.
Sie sind ausgestiegen. Das Geräusch will nicht enden.
Es wird zum Bemühen des Atems, der sich seinen Weg bahnen muss.
Lange kann das nicht gehen, hatte er anfangs gedacht. Wenn es so eine Qual ist. Irgendwann ist ihre Kraft verbraucht. Irgendwann nahm er ihren schweren Atem nicht mehr wahr. Wie das Ticken einer lauten Wanduhr, das man nicht mehr hört. Warum kämpfte ihr Körper so um Leben, wenn es nichts mehr gab, das lebendig war?
Er stand auf und schloss das Fenster wieder. Draußen war ein Frühling, den sie nicht mehr fühlte. Er zog ihre Decke hoch. Als ob das einen Sinn machte!
Die Bilder waren alle da. Alle. Er musste nur die Augen schließen, da begannen sie sich zu bewegen. Die Jahre tanzten. Es waren so viele.
So schüchtern am Anfang. So viele Begegnungen. Gespräche. Kino. Gespräche. Spaziergänge. Gespräche. Ihre Hand in der seinen. Es war ja so viel Zeit.
Sie lehrte ihn, auf den richtigen Augenblick zu warten. Geduldig zu sein. Es wachsen zu lassen. So leicht und wie viel Platz da war für all die Gefühle, von denen er nicht mal geahnt hatte, dass er sie fühlen konnte.
Die richtige Zeit.
Ihre Bluse, die an seinem Hemd knistert. Seine Hände ruhen auf ihren Hüften, tasten, wo sie weich ist und nachgiebig, ziehen sie an sich. An seiner Brust spürt er sie, wie sie ihm entgegen atmet, ihre Hände an seinem Nacken, in seinen Haaren. Sie streicheln, wühlen, verwirren, als ob seine Locken noch gelockt werden müssten, ihre Nasenspitze an seiner, die Augen geschlossen, so nah. Ihre Lippen begegnen seinen, stumm, seine Lippen öffnen ihre oder sind es ihre, die seine teilen? Er will mehr, schmecken, erkunden, Was ist da alles, was schmeckt da alles? Süß, salzig. Alles sie, alles sie.
Alles war wieder da. Wie sie sich anfühlte, roch. Alles weiß er. Erinnert sich. Wie Zärtlichkeit fordernd wird, wie unaufhaltsam, der Griff seiner Hände an ihrem Rücken, ihre Haut, ein dünner feuchter Film, warm. Was ist es, bin es ich, der ihr das macht? Ihre Arme um ihn geschlungen. Ihre Haare kitzeln.
Er weiß noch nichts von all dem, was kommt. Was will, was darf, was soll er? Sie spürt es. Lächelt, lacht. Er kann es jetzt hören. Dieses Lachen, das ihm erklärt, dass er alles darf. Tun, was er möchte. Sein, wie er ist.
So leicht hat sie es ihm gemacht.
Er stand auf. Musste sich bewegen. Konnte nicht mehr sitzen. Er schritt auf und ab im Raum wie Rilkes Panther in seinem Käfig. Als wäre er kräftig, sehnig, gesund wie damals.
Aber es ging nicht um das, was war. Er setzte sich neben sie, schob Schläuche zur Seite, griff nach ihrer Hand. Es ging um das, was sein würde. Was nicht sein durfte. Er hatte es ihr versprochen.
Die Hand war schmal, zerbrechlich wie Porzellan, überzogen mit dünnem fleckigem Pergament. Leblos, aber nicht kalt. Die Maschinen pumpten Blut durch ihren Leib. Unbarmherzig.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Zug aus den Bergen hält er diese Hand immer noch. Er legt sie an seine Wange.
„Wir versprechen uns das. Ja?“
„Ja“, antwortet er.
„Es wird schwer. Es wird für den, der es tun muss, das Schwerste, was er je getan hat. Aber das sind wir uns schuldig.“
„Ja“, antwortet er und küsst die Innenseite ihrer Hand. „Ja. Ich weiß.“