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Abrechnung
Blicktest du jetzt nach oben, könntest du mich entdecken. Ihr alle könntet es möglicherweise, mich erspähen, mich ersehen. Wie ich zwischen den grauen, grausig grollenden Wolkenfetzen dahintreibe, mein Ich nur noch ein winziges Scheiß-Quäntchen an verbliebenen Neuronenspritzern und Synapsenballungen, der Rest von dem, was man Seele nennt; eine transparent schimmernde Silhouette, ganz so, wie sie sorg- und ahnungslose Kinder imaginieren.
Überrumpelt, möglicherweise paralysiert oder gar zutiefst ins kindlich unschuldige Staunen versetzt würdet ihr meine Wenigkeit ziehen sehen, diesen von Furien und Schicksalsgeistern willig durchtrennten Lebensfaden, Repräsentant eures frohlockend zerstäubenden Herrn Papa, Schatz oder Chefs…
Doch das alles tut ihr nicht! Stiert nur umher mit euren Tieraugen, grapscht nach Häppchen auf glitzernden Platten mit euren fleischlichen Greifwerkzeugen. Auf dieser Feier, deren Sinn mir entging, frönt euren Gelüsten, deren Notwendigkeit mir entfleucht. Verliert nicht einen Gedanken an mich, noch nicht, noch nicht…
Schweig, wehleidiges Individuum, welches mir aus dem letzten Loch meiner Hirnwindungen hinterher pfeift, der Tod sollte nun wirklich keinen Anlass für Trauer oder weitere Ärgernisse bieten!
Denn ihr könnt mir rein gar nichts mehr, haha, und ich euch ebenfalls nicht. Ist auch gut so.
Denn schon bald, sehr bald werdet ihr nach mir Ausschau halten, wenn euch weitere Verlangen, immer neue kleine Suchtgefühle von emsig ackernden Enzymen (und woraus nicht noch alles dieses Körper genannte müllige Gewicht besteht) ins Gehirn gesetzt werden. Verwundert werdet ihr euch umschauen, und das kleine, schreiende Kind in eurem Innern wird ansetzen zu brüllen. Ja, ihr alle seid wie eine Schar Kleinwüchsige, die quengelnd in einem Erdloch sitzen und ich (!), ich war der Einzige, der euch daraus hervorholen konnte! Aber jetzt bin ich fort, und euch beschleicht eine ganz miese Vorahnung.
Die Rechnung bitte:
Als Vorstehender taugte ich nichts, war nie zum Führen gemacht. Punkt. Die schleimige Furie, meine Frau genannt, das non plus Ultra an Wehleidigkeit, für sie empfand ich… nichts.
Von anderen Menschen ganz zu schweigen, ach woher denn, wer hätte schon an die gedacht? Na ich ganz bestimmt nicht!
Doch meine Kinder, meine Engel, meine Guten! Wie konnte ich nur schlecht über sie reden? Sie waren so wunderbar, so voller Lebensmut, den ich nicht besaß, zauberten mir immer ungeniert und ganz von selbst ein Lachen in die müden Augen, spritzten es mir in Wangen und Mundwinkel wie einem anderen Botox. Und auch… alle anderen liebten sie… Alle verdammten anderen, die verfluchten, nicht mir gehörten meine Kinder, mein Ein und Alles, sondern der Öffentlichkeit, die Bezeichnung „Allgemeingut“ wäre angemessen; wie prächtig sie sich entwickelten, meinten die Anderen immer, wie herausragende Noten sie immer schrieben, und ach, wie artig sie doch immerzu waren und ihre Zimmer aufräumten und beim Spielen nicht störten. Dass sie sich zu ganz anständigen Menschen entwickelten und dass sie bestimmt eine wahre Wohltat für die Gesellschaft sein würden. Und dann kam ich Blödmann und fuhr ihnen durchs Haar und wie immer brannte sich mir die Trauer in die Augen. Wann sollten sie endlich begreifen, dass man Menschen wie sie, gute Menschen, draußen zerquetschte, setzten sie nur einen Fuß vor die Tür in die Wildnis, denn die Welt da draußen besteht nicht aus „ordentlichen Mitgliedern der Gesellschaft“, für die Bildung das höchste Gut ist und mit denen man „doch über alles reden konnte“. Überall auf der Welt gilt noch immer das Recht des Starken vor allen anderen, Wissen und Anstand sind für die Meisten nur ein Mittel zum Zweck, zum Betrug derjenigen Leute, die wenigstens noch vertrauten und nicht für einen Ring die ganze Hand mitrissen. Aber sie verstanden es einfach nicht!!! Sie waren rot, die Kinder, strahlten im Rot der Sonne. Das Draußen: schwarz. Höchstens Grau. Und ich, ich besaß nicht einmal genug Willensstärke und Mut, als ihnen dies auf eine andere Art mitzuteilen als durch mein unerreichbar weites Entfernen. Als durch einen Metallkörper, ab damit in die sich nach samtenen Schlaf sehnende Schläfe gejagt damit!
Na dann Servus und Tschüss!
Abgedankt hatte ich, und ja, schon bald würdet ihr misstrauisch werden, nach mir suchen, ausspähen. Dann werdet ihr hinaufsteigen in mein Domizil, meine heiligen Hallen, welche ihr einmal in genauso heiliger Zeit aufsucht. Zuerst werdet ihr das Blut sehen, dass direkt aus meinem Zimmer durch den Türrahmen an die Wand des sterilen Flurs gespritzt ist, wie ein eingestochenes Mahnmal, scharf und provokant, öffentlich sichtbar und nicht zu entfernen, denn es ist wahre Kunst, die das Leben schafft. Vielleicht wird mein Lebenssaft schon getrocknet sein, doch stets präsent. Dieses Rot meines Daseins wird euch die Antwort auf euer „Warum?“ ins Gesicht schlagen. Darum! Weil ihr es lernen müsst, ohne mich zu stehen. Wer kann schon seine ganze Existenz auf einen einzigen lahmen Menschen stützen?
Das Rot, welch satter Ton der Unendlichkeit, des ewigen Kreislaufes. Des Blutes, Währung des Lebens, denn das Leben war Bewegung, war Ruhe und Sturm zugleich, Sturm und Drang, ein wirbelnder, schäumender, tobender Sturzbach von Blut, vom Saft der vollen Reben, vom schweren Schein der alten Sonne. Doch nichts mehr heute ist noch von Rot. Alles verliert den Schein, den es einmal besaß, irgendwann einmal. „Es ist nicht alles Leben, was noch zuckt.“ Die Gesamtheit steht still, ruht nicht sondern friert ein, um quälend lahm, ächzend langsam zu zerfallen. Anstatt dass mal einer käme und das Alles zerschlüge, bemüht man sich um Erhaltung und Wahrung dessen, was nicht verdient, gewahrt zu werden. Ja, da würde wenigstens was passieren, ins Rollen kommen. Vernichten, das Heben auf ein nächstes Level. Ganz so, wie ich mein schon längst nicht mehr rotes Hirn zerschlagen habe.
Ja, ihr werdet kreischend um die Ecke spähen, meinen Kadaver brach daliegen sehen, vielleicht werden sich bereits die ersten summenden Fliegen in meinem klotzigen Schädel eingenistet haben und an Aug‘ und Herz zehren, vielleicht auch nicht. Und dann, ja dann, nehmt mein Hirn, wringt mein Cerebrum aus, bis nichts mehr übrig ist. Dann nehmt euch den Rest meiner Existenz vor, meines Körpers, meines Erbes, saugt es leer bis auf den Kern, zerbrecht auch diesen, säubert die Welt von meinen Taten und mir, zieht jeden Tropfen blutig sprießenden Lebensquells aus meiner toten Hülle, bis ihr sie ausgesogen von euch spuckt, dieses Ding, das nichts von mir hatte, auch wenn ich mein unwürdig winziges, nichtiges Dasein für unbedeutend kurze Zeit in seinem Innern gefristet hatte. Tilgt mich vom Antlitz aller Dinge auf diesem weit zu kleinem Erdenrund! Und geht euren Weg. Ich konnte nicht anders. Lebt wohl.
Befreit war ich endlich von dieser saugenden Leere, die gleichzeitig schwer wog wie ein berstender Magen. Ein Würgen und Winden war das gewesen, zum Zerreißen gespannt über einem kreischenden Abgrund, ohne Gehör zu finden, ein Knebel im Maul, das war das Leben, das schillernde, bunte, wunderbar strahlende, jauchzende, ach sprießende Leben. Gewesen.
So stand es aber nicht in der Produktbeschreibung.
Ich war befreit von diesem fremden Mann in meinem Körper, den ich genauso wenig kannte wie alle anderen Menschen. Und mit dem ich schon lange keine rechte Lust mehr hatte, zu leben. Der mich indirekt zu nötigen schien. Den ich einst eintauschte gegen mich selbst. Für die Bedürfnisse, nach denen ihr euch alle sehnt. Und die mir nun unnütz sind. Er, ich, ich, er…
Schweißgebadet schreckte er aus den nächtlichen Machenschaften seines Hirns auf. Sein Oberkörper, an dem der Pyjama hauteng anlag vor Nässe, schnellte im neunzig-Grad-Winkel nach oben. Geschockt streifte er die bleiern schwere Bettdecke beiseite, schwang seine zwei müden Glieder aus dem Bett, über die er sich wage erinnerte, dass sie zum Gehen verwendet wurden. Das Zimmer lag im Dämmerlicht und im mindestens genauso dämmrigen Zustand tapste er im Kreis umher, fuhr sich durch die verklebten, schmerzenden Augen, zerzauste das schon wirre, fettige Haar und säuberte sich mit dem abgestreiften Hemd vom Schweiße. Er hatte geträumt, tot zu sein! Ein Wunschtraum. Eine in sich perfekt abgeschlossene Einbildung war es gewesen, ein trügerischer Seifenfilm, der sich über seine Realität gelegt hatte.
Doch konnte diese Einbildung auch umgesetzt werden? Kann sie in diesem Leben, oder Tod, existieren? Diese Fragen gingen ihm durch den Kopf, als er zu seiner Schlafstätte zurückkehrte und mit elend lautem Schleifen die oberste Nachttischschublade öffnete, in der sein Revolver immer griffbereit lag. Diesen betrachtete er, wie sein weinrot lackiertes Gehäuse das bleiche Mondlicht reflektierte, das fiel durch ein beschlagenes Fenster hinein. „Schatz“ telefonierte unten im zeternden Ton. Aus dem Zimmer der Kinder nebenan drang noch Musik. Rot…
Der wirkliche Traum…