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Abi '87
Nadine nahm ihr Zeugnis. Sie lächelte, aber zu interessieren schien es sie nicht. In T-Shirt und zerrissenen Jeans stand sie vorn. Die anderen hatten sich angezogen, als wären sie im Theater. Irgendwie war es das ja auch, dachte Andreas. Das alles. Theater. Sie weinten, die Eltern und Onkels und Tanten. Immer wieder hörte Andreas das klebrige Ritschratsch von Taschentücherpackungen und einmal auch die Bitte: „Mensch, jetzt reiß dich mal zusammen.“
Seine Tochter winkte ihm. Alle hatten kurz der Familie gewinkt. Sie fand es albern, er sah es. Ihre Augen winkten nicht mit. In ein paar Monaten würde sie nach England gehen, um sich endgültig nur noch mit Integralen und Variablen und Ellipsen zu beschäftigen. Andreas dachte an die Greatest Hits seiner eigenen Mathearbeiten, ein einziger Zettel mit einem leeren Koordinatensystem darauf. Daneben hatte der Lehrer eine Ermutigung gekritzelt: „Das KS ist richtig!“
Nadine hatte in der achten Klasse Übungsaufgaben für das erste Halbjahr ausgerechnet, um zwei verregnete Nachmittage rumzubringen. Alle Übungsaufgaben für das erste Halbjahr. Da hatte Behmann, der Schulleiter, Corinna und ihn das erste Mal in die Schule gebeten. Andreas hatte gefürchtet, es ginge um Hasch. Zum Geburtstag hatte Nadine sich die neue Platte ihrer Lieblingsband gewünscht. Motörhead. Als Mädchen! Stattdessen erfuhren Corinna und er von ihren Superkräften. Wer auch immer sie ihr verliehen hatte, er war es nicht gewesen. Das KS ist richtig!
Andreas war entschlossen gewesen, Nadine nicht über Gebühr zu blamieren und loszuheulen wie die Waschweiber um ihn herum. Aber die Tränen kamen. Dinge passierten eben. Sie scherten sich nicht um seine Pläne. Witwer mit Ende dreißig, das hatte er auch nicht geplant. Und dann, eine Tages, sagte Corinna: Ich gehe jetzt mal zum Arzt, die Magenschmerzen gehen irgendwie gar nicht mehr weg.
Jemand packte ihn an der Schulter und drückte zu. Hinter ihm saß Mario Krause, mit dem er selbst zusammen zur Schule gegangen war. Marios Sohn war in Nadines Jahrgangsstufe. Andreas legte seine Hand auf die des Freundes, der eigentlich längst nur noch so ein Gesicht war, das man eben grüßte.
Was Mario nicht wusste: Andreas weinte auch vor Erleichterung. Wenn Nadine sich im Herbst an der elitären Insel-Uni einschrieb, dann würde auch sein eigenes Leben einen entscheidenden Schritt voranmachen. Julia würde einziehen, um bei Nadines erstem Besuch, wahrscheinlich um Weihnachten herum, einfach da zu sein. Fünfmal in der Woche, hatte er Nadine zuletzt erzählt, ging er abends zum Trauertreff, nach all den Jahren noch. „Sind so viele dabei, da war's auch Krebs“, hatte er gesagt. „Kann man sich gar nicht vorstellen.“ Nadine hatte sich gewundert über die vielen Termine und er war ins Stottern geraten, es sei eine lose Gruppe, nicht mehr die offizielle Sache im Gemeindehaus wie am Anfang. Vielleicht war es naiv von ihm zu glauben, seine Genie-Tochter hätte nicht längst gewusst, was Sache war. Andererseits waren die Formeln ihre Welt, nicht die Menschen. Soweit er wusste, hatte sie noch nie einen Freund gehabt.
Eine Tür oben auf der Bühne öffnete sich, rechts in der Ecke. Ein Junge trat hindurch, einer von Nadines Mitschülern. Nein. Der Mitschüler. Dieses Arschloch. Dennis. Weiß, dünn, viel zu groß. Wie ein Gespenst. Bei der Matheolympiade hatte er die Führung Stück für Stück und schließlich unwiederbringlich an Nadine verloren. In den Wochen danach hatte er vor allem auf ihrer Akne herumgeritten. Irgendwann stichelte sie zurück und konzentrierte sich dabei auf Dennis' Mundgeruch. Die Eskalationsspirale mündete in Du hässliche Pickelfotze und einer Backpfeife, die Dennis wiederum mit Fäusten quittierte. So in der Art jedenfalls hatte Behmann es Andreas geschildert. Nadine verlor zwei Zähne und ihre Nase würde nie wieder richtig gerade sein. Behmann sagte zu Andreas, es tue ihm leid, Dennis stamme aus ungeordneten Verhältnissen und sei bereits länger auffällig gewesen. „Nur das, was jetzt passiert ist, hat sicherlich keiner kommen sehen“, sagte er. „Aber es ergibt Sinn. Der Junge ist ein Einzelgänger. Der hat nur Mathematik. Da konnte er es allen zeigen.“ Andreas hatte genickt, natürlich verstand er, er war ein erwachsener Mann, aber gewünscht hatte er sich jemanden, der es Dennis zurückgab in der Jugendklapse, ein anderer Einzelgänger aus ungeordneten Verhältnissen oder ein übereifriger Pfleger. Zahn um Zahn.
Zunächst bemerkte niemand den Neuankömmling auf der Bühne. Die Abiturienten standen mit dem Rücken zu ihm, Behmann applaudierte wie die Eltern und die Aufmerksamkeit aller in der Aula galt Nadine. Ausgerechnet er, Andreas, der stolze Vater, hörte als erster auf zu klatschen. „Was will der denn?“, sagte er. Seine Worte gingen unter im Applaus. Als nächstes wurde Behmann aufmerksam auf den Überraschungsgast. Es war zu laut und er war zu weit weg, aber Andreas sah, wie die Lippen des Schulleiters den Namen des gedemütigten Mathemeisters formten.
In dieser Aula gaben die Bläserklassen ihre Konzerte. Weihnachten, Frühling, Schuljahresbeginn. Im Lokalblatt lobte immer wieder derselbe Reporter, ein Lehrer im Ruhestand, stets die „hervorragende Akustik des Saales“. Wie die Klänge sich darin verteilten, sodass Zuhörer jedes Detail wahrnähmen, das sei schon einzigartig im Landkreis.
Details hörte Andreas nicht, als der Schuss fiel. Aber er war sicher, ihm würde gleich Blut aus den Ohren laufen. Irgendetwas in seinem Kopf musste geplatzt sein. Alles nach dem Knall hörte sich an, als wäre er ein Käfer, den ein Kind unter einem Glas festgesetzt hat.
Wahrscheinlich war das besser so. Viele schrien. Die Mamas und Papas und Omas und Opas sprangen von ihren Sitzen auf, als wollten sie der Darbietung auf der Bühne stehenden Beifall zollen. Söhne und Töchter liefen zu Eltern, die ihre Namen schrien. Auch Andreas rief den Namen seiner Tochter, die dort vorn auf die Knie sank. Behmann packte sie an den Schultern und riss sie ganz zu Boden. Ebenso rabiat stieß er ein paar auf der Bühne verbliebene Abiturienten zur Seite, die vom Schock erstarrt waren, und stellte sich vor sie.
„Was machst du?“, schrie der Schulleiter. „Was ...“
Er wurde unterbrochen vom zweiten Schuss. Neben Behmanns Nase klaffte jetzt ein kleines Loch wie für ein drittes Auge. Sein Blick kreuzte kurz den von Andreas. Was war das denn gerade?, schien er sich zu fragen.
„Nadine!“ Andreas war nicht der einzige, der einen Namen rief. Eltern und Geschwister und Lehrer und Abiturienten stürmten zum Ausgang. Das Geschrei wurde lauter, weil jemand die beiden großen Türen von außen verrammelt hatte. Ein Vater nahm seinen Mut zusammen und stapfte mit geballten Fäusten auf Dennis zu. Die Kugel, die in seinen Hals einschlug, ließ seinen Kampfschrei zum feuchten Krächzen verkümmern.
Andreas sah, wie Boedecke, der Philosophielehrer, der ihm mit seinem rasierten Kopf und den Muskeln immer wie ein Mittelgewichtsboxer vorgekommen war, einen kleinen dicken Mann mit hoher Stirn am Sakko packte und zur Seite schmiss wie einen Zementsack. Andere taten bei ihrem Fluchtversuch dasselbe mit Kindern, den kleinen Brüdern und Schwestern der jungen Leute, um die sich heute eigentlich alles hatte drehen sollen. Jetzt drehte sich alles nur noch um einen jungen Mann, der die drei Stufen von der Bühne hinabstieg und auf den Pulk zuging, der sich vor dem Ausgang gebildet hatte.
„Papa!“
Nadines Stimme wie ein Wunder. Wie in einem Traum. Nicht nur, weil er sie in dem Getöse überhaupt hörte, ihre zierliche Stimme, die die letzten Jahre in solchem Kontrast gestanden hatte zu ihren T-Shirts mit den Monstern und Meuchelmördern darauf. Nein, vor allem war es ein Wunder, weil er endlose Sekunden lang davon ausgegangen war, Nadines Stimme genau wie die ihrer Mutter nie wieder zu hören.
Er nahm die drei Stufen mit einem Satz und war schnell bei ihr, denn anders als der Ausgang war der Weg zur Bühne frei. Während Andreas seiner Tochter hochhalf, sah er, wie Dennis einer Referendarin in den Rücken schoss, mit der er Nadine oft hatte reden sehen.
„Hat er dich getroffen?“
Als wäre das die Antwort, griff seine Tochter ihn am Handgelenk. „Komm mit!“, sagte sie.
Nadine zog ihn auf die Tür zu, durch die der Tod in die Aula gekommen war. Dahinter lag ein Treppenhaus, das offenbar als Abstellkammer genutzt wurde. Sie stiegen über die Dekorationen für das Jim-Knopf-Musical der fünften und sechsten Klassen und veraltete Karten aus dem Erdkundeunterricht mit deutschen Grenzen aus Zeiten der Omas und Opas im Saal. Unten führte eine Tür in einen Klassenraum. Nadine zeigte darauf.
„So ist er reingekommen“, sagte sie. „Hier waren wir in der Siebten.“
Andreas wollte entgegnen, das sei doch jetzt nicht wichtig, doch Dennis' Stimme hallte durch das Treppenhaus und schnitt ihm das Wort ab.
„Wo willst du hin, Pickelfotze?“, rief er vom oberen Ende der Treppe. „Ich bin noch nicht fertig!“
Andreas sah nach oben. Dennis klopfte mit dem Lauf seiner Waffe einen Takt auf dem Geländer. Er grinste von oben runter wie ein Balg, das gleich jemandem auf den Kopf spucken würde.
„Wenn du ...“ ... ihr was tust, wollte Andreas sagen, aber schon blickte er nicht mehr in Dennis' Gesicht, sondern in den Lauf der Waffe. Wieder ein Schuss, noch lauter als die oben. Sollten sie überleben, würde er ein Hörgerät brauchen, mit gerade mal dreiundvierzig. Panik musste der Grund sein, warum ihm solcher Unsinn durchs Hirn ging. Synapsen durchgeschmort von dem, was er gesehen und gehört hatte. Eine am Boden liegende Frau hatte ihn mit einem Glotzauge angesehen. Durch die vielen Tritte auf den Kopf war es halb aus dem Schädel getreten.
„Papa, komm!“ Nadine zog ihn aus dem Treppenhaus und zur anderen Seite des Klassenraums. Hinter der Tür dort ging es auf den Flur des Erdgeschosses. Andreas hörte schnelle Schritte auf den Stufen, die sie kurz zuvor selbst hinabgestiegen waren. „Los!“, rief Nadine.
Sie liefen am Eingang zur Turnhalle vorbei, die unter der Aula lag. Aus dem Klassenraum hörte Andreas, wie die Tür zum Abstell-Treppenhaus so aufgestoßen wurde, dass sie gegen die Wand knallte. Hinter der Turnhalle hasteten sie durch den Seiteneingang nach draußen. Andreas sah über die Schulter zurück. Dennis schoss aus dem Klassenraum wie eine der Kugeln aus seiner Waffe und riss den Kopf nach links und rechts. Dann traf sein Blick den von Andreas.
Pickelfotze!
„Kommen Sie!“
Sie liefen auf die Sprintbahn zu, an deren Ende die Weitsprunggrube lag. Vor der Grube parkte der schrägste Bulli, den Andreas jemals gesehen hatte. Ein Gefährt wie aus dem letzten Film, den er im Kino gesehen hatte vor ein paar Jahren. Blade Runner. Das Ding musste ein Japaner sein.
„Kommen Sie!“, wiederholte der Mann darin. Er winkte sie aus dem hinteren Teil des Bullis heran. Die Schiebetür war aufgezogen. Neben dem Mann stand eine Frau, eine junge Frau, Nadines Alter, die die ganze Zeit nickte und sie ebenfalls heranwinkte. Wie hatten es die beiden hier runtergeschafft?
„Komm!“, rief Nadine. Seine Lungen brannten. Seit Corinnas Tod war er von einer halben auf fast zwei Schachteln am Tag hoch. Julia war keine Hilfe, sie rauchte selbst wie ein Schlot.
Endspurt. Hände, die sich ihnen entgegenreckten. Ein Schuss, der in seinem Rücken fiel, aber offenbar daneben ging. Der Mann und die Frau halfen ihnen in den Transporter. Draußen sah Andreas Dennis auf sie zustapfen. Zum zweiten Mal blickte er in den Lauf der Waffe.
„Ziehen Sie die Tür zu!“, schrie er. Doch sie schloss sich von selbst, als er sich gerade vorbeugte. Eine automatische Schiebetür. Definitiv ein Japaner, schoss es ihm durch den Kopf. Aber niemand saß am Steuer. Wenn die Kiste nicht auch von allein losfuhr, hätten sie ein Problem.
Die Fahrertür wurde geöffnet. Andreas ballte die Fäuste, bereit, mit allem auf Dennis einzudreschen, was ihm geblieben war. Viel mochte es nicht sein nach der Hatz durchs Treppenhaus, aber der Geisteskranke hatte auch ... wie oft geschossen? War überhaupt noch Munition in der Waffe?
Doch es war nicht Dennis, der einstieg. Es war ein erwachsener Mann mit grauen Flecken im braunen Haar. Er schob sich gerade den letzten Rest eines Schokoriegels in den Mund.
„Wer sind sie?“, fragte Andreas, aber der Mann ließ sich nicht von seiner Schokolade ablenken.
„Hey!“ Andreas klopfte ihm auf die Schulter. Der Mann zuckte kurz. „Draußen“, sagte Andreas. „Haben Sie den Jungen mit der Waffe nicht gesehen?“
„Er fährt“, sagte der Mann, der Andreas und Nadine herangewunken hatte. Jetzt erst bemerkte Andreas, wie krank er aussah. Eingefallene Wangen und Augen, die so tief in dunkel umrandeten Höhlen lagen, als hätte sie jemand mit einer Zwille in das Gesicht geschossen. Er trug einen Anzug wie fast alle Männer an diesem Tag, die jungen und die alten, aber er schien seinen aus dem Museum geklaut zu haben. Das galt auch für das Mädchen in ihrem schlammbespritzten Kleid und den Schuhen, die eigentlich nur Lappen waren, die sie sich um die Füße gewickelt hatte. Jemand hatte ihr ein Seil um den Hals geknotet. Sie lächelte Andreas an.
„Wer ist das?“, fragte er. „Ist das eine Kamera?“ Das Gerät, das er meinte, lag zwischen anderem technischen Schnickschnack auf dem Boden und hätte in einer Faust verschwinden können. Genau wie der Bulli konnte das Ding nur aus Japan stammen. Wie weit genau waren die wahnsinnigen Schlitzaugen ihnen bei solchen Sachen eigentlich voraus?
„Papa?“
Nadine. Sie sah so verwirrt aus, wie er sich fühlte. Er legte den Arm um sie. Sie war warm und nass. Neben dem Totenkopf mit Sonnenbrille klaffte ein Loch wie in Behmanns Gesicht, dabei war das T-Shirt ganz neu. Es war ihre Art, sich für die Zeugnisübergabe etwas Schickes zu kaufen.
Das Adrenalin musste sie auf den Beinen gehalten haben. Die ganze Zeit hatte seine Tochter eine Kugel in der Brust gehabt.
„Hey!“ Wieder klopfte er auf der Schulter des Fahrers herum, nahm schließlich sogar die Faust. „Ins Krankenhaus, hören Sie?“, rief Andreas. Der Fahrer zerknüllte das Schokopapier und steckte es in die Hosentasche. „Sind Sie verrückt?“, schrie Andreas. „Meine Tochter stirbt, fahren Sie ins Krankenhaus, Mann!“
Kopas kaute auf dem Stück des Snickers-Riegels, das Walmann ihm abgegeben hatte.
„Danke.“
Walmann nickte. Er tastete auf dem Beifahrersitz und der Ablage herum. Der Mann wollte sichergehen, nichts vergessen zu haben, schätzte Kopas. In der Provinz. War ein weiter Weg hierher von Hamburg. Wäre sicher ärgerlich gewesen, nach der Hälfte der Heimwegs wieder umdrehen zu müssen. Aber der ganze teure Kram lag hinten im Bulli verstaut. Kopas hatte selbst geholfen, es einzuladen.
Er stand draußen vor der Fahrertür. Walmann hatte ihm das Snickers durch das offene Fenster gereicht. Kopas drehte sich um, sah hoch am Gebäudetrakt mit Turnhalle und Aula.
„Also gar nichts, nein?“, fragte er und wandte sich wieder Walmann zu.
Der nickte. „Wie erwartet. Ich schicke Ihnen die Aufnahmen und Auswertungen zu. Das ist natürlich im Preis enthalten.“
Walmanns Preis war in Ordnung. Er sagte, er bekomme sein eigentliches Geld von der Universität. Als Hausmeister konnte Kopas ihn sich leisten. Ein bisschen sparen für zwei oder drei Monate, dann war das wieder drin. Er musste Walmann aus eigener Tasche zahlen. Ein paar der Lehrer hatten selbst Schiss dort oben, aber niemals hätte die Stadt Teile des Schulbudgets hierfür abgezwackt. Das Feuer angeheizt. Mehr als dreißig Jahre und noch immer sagten viele Eltern: Das Kind macht Abitur, aber auf keinen Fall in der Schießbude. Niemand nannte es Helmholtz-Gymnasium. Jedenfalls nicht die Leute von hier.
„Kein Zweifel?“
Walmann schüttelte den Kopf. „Absolut nicht, nein. Aber ich habe auch, das sagte ich ja, in zwölf Jahren noch nicht einmal erlebt, dass es anders war.“
Kopas schnaufte. Das hatte Walmann gesagt, ja. Ich bin Wissenschaftler, kein Geisterjäger. Walmann schien seine Unzufriedenheit zu bemerken.
„Hören Sie“, sagte er. „Ich könnte Ihnen auch das Fünffache dafür berechnen, dass ich da oben irgendeinen Hokuspokus veranstalte. Jemand anderes würde das tun, also seien Sie froh, dass Sie mich gefunden haben.“
Kopas drehte sich wieder zur Schule um, in der er den größten Teil seines Berufslebens verbracht hatte. Jetzt, in den Sommerferien, gehörte sie ihm. Mit der scheiß Aula. Als hätte er ein Haus geerbt, das keiner haben wollte. Neun Tote mit sechs Schuss, weil der kleine Wahnsinnige die Tür verrammelt hatte. Getroffen hat er nur vier, den Rest haben die Leute selbst besorgt. Sich gegenseitig zu Toder getrampelt und gequetscht. Musste für die Überlebenden blöd sein, sich beim Bäcker zu begegnen. Und das sollte keine Spuren hinterlassen haben?
„Die Geräusche hören wie gesagt fast alle“, sagte Kopas.
„Wie gesagt“, erwiderte Walmann. In seiner Stimme lag jetzt der überlegene Ton, den auch ein paar der Lehrer ihm gegenüber so gut drauf hatten. „Alle hören Geräusche, in großen und verwinkelten Gebäuden. Da sind ja auch überall Geräusche. Darum spukt es auch in jedem Schloss. Also, tut es nicht, aber das ist der Grund, warum das alle glauben. Und der Junge, von dem Sie erzählt haben, den sie neulich aus dem Treppenhaus tragen mussten, der dürfte eher deswegen in der Psychiatrie gelandet sein.“ Er machte eine Geste, als würde er an einer Zigarette ziehen. „Das hochgezüchtete Zeug von heute hat nichts mehr mit dem braven Kraut zu tun, das unsere Eltern geraucht haben.“
Er legte die Hand auf die Schulter und zog ein Gesicht, als hätte jemand da drin in seinem Bulli gefurzt.
„Alles gut?“, fragte Kopas.
„Bin verspannt“, sagte Walmann. "Irgendwas zwickt die ganze Zeit in meiner Schulter. Heiße Wanne wird helfen.“
Kopas sagte etwas, nahm die eigenen Worte aber selbst kaum wahr. Ihm war eingefallen, dass er gleich noch oben abschließen musste.
Walmann startete den Bulli. „Ich schicke Ihnen alles per Mail“, sagte er.
Kopas nickte. „Gute Besserung da mit Ihrer Schulter.“
„Ach.“ Walmann winkte ab. „So schlimm ist es auch nicht.“
Kopas dirigierte den Bulli rückwärts an der Sprunggrube vorbei. Walmann wendete, hupte und bog rechts ab Richtung Hauptstraße. Kopas winkte. Als der Motor des Bullis nicht mehr zu hören war, blieb er noch eine ganze Weile stehen.