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Abgrund
Endspiel
Der Wind blies eiskalt in mein Gesicht, als ich das Haus verlies. Ich schloss die Tür hinter mir zu, dann zog ich den Kragen meiner Jacke fester zusammen und weiter nach oben. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass sich die kleinen Haare in meinem Nacken aufrichteten. Aber das hatte wohl eh andere Gründe... Zu frisch war noch die Wunde in meinem Herzen, die durch die Trennung von Franzi aufgerissen wurde.
Das alles spielte für mich in diesem Moment keine Rolle. Nicht mehr… Grau schien mir alles, nichts mehr von Bedeutung.
Es begann zu regnen, als ich fort ging. Ich drehte mich nur noch ein einziges Mal um, sah durch den Regen und den Nebel die Haustür nur verschwommen, aber genau genommen war das auch egal, meine Entscheidung stand fest, und ich war mehr als nur entschlossen, es durchzuziehen, ich wollte nicht wieder als Verlierer enden. Nicht dieses Mal, und ein weiters sollte es nie geben.
Ich lief seit 10 Minuten, und hatte etwa noch einmal diese Strecke zu laufen. Inzwischen war meine Jacke vom Regen völlig durchweicht, und entsprechend fror und zitterte ich. „Du wirst mir noch krank werden!“, würde meine Mutter sagen. „Unbedeutend!“, dachte ich. Die Nacht war kalt, nass und dunkel, der Mond war nicht zu sehen. Ein gespenstisches Szenarium, an einem ganz besonderen Tag. Denn dieser sollte mein letzter auf dieser Welt werden. Ich habe mich nie gefragt, was wohl danach kommen würde, aber das erschien mir eigentlich auch nicht wichtig, ich wollte nur noch raus, fort von hier, und das endlich die Schmerzen und die Gedanken aufhören, die sich so tief in mich eingebrannt haben…
Endlich war ich angekommen. Die großen, blauen und teilweise vom Rost bedeckten Stahlträger der Brücke glänzten, der Mond war wie aus dem nichts erschienen. Die ganze Zeit über war ich fest entschlossen und hielt meinen Willen für stark genug, das ganze zu schaffen. Jetzt zitterte mein ganzer Körper, und diesmal war es nicht von der Kälte. Ich versuchte, die Zweifel in meinem Kopf zu verdrängen, denn ich wusste, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte, die Situation länger zu ertragen. Eine solch starke Liebe war mir noch nie begegnet, und eine so tiefe Bindung an einen Menschen erlebt man wohl nur ein Mal im Leben. Ich hatte meine Chance, und ich konnte sie nicht nutzen. Game Over…
So tief ich konnte holte ich Luft, denn durch das erneute Nachdenken über Franzi kam in mir der Wille und die Kraft wieder auf, heute der Welt “Good Bye“ zu sagen. Ich zog meine Handschuhe aus und stieg, nachdem ich mich ein letztes Mal versichert hatte, dass niemand in der Nähe war, auf das Brückengeländer. Der Wind blies hier oben noch stärker als in der von den vielen Häusern geschützten Stadt.
„Vater Unser, der Du bist im Himmel, unser täglich Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unser’n Schuldigern.“
Als ich diese Worte schließlich ausgesprochen hatte, breitete ich die Arme aus, schloss meine Augen und lies mich fallen. Langsam kippte ich nach vorn, und für einen Moment fühlte ich eine wahnsinnig tiefe Befreiung in mir, einen Moment des puren Glückes, wie ich es zuletzt fühlte, als ich das erste Mal in Franzis Armen lag. In der Realität dauerte das ganze nur Sekunden, mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Dann schlug ich auf.
Ein verdammt starker Schmerz, dann war alles vorbei. Ich sank ins Nichts, in endlose Leere, fühlte die Dunkelheit und eine Schwere, die mich zu erdrücken versuchte. Vielleicht hätte ich mir vorher Gedanken machen sollen, über das, was danach kommt, aber auch dann wäre ich sicher nie auf so etwas gekommen… Es war ein unbeschreiblicher Zustand, mein Geist existierte, aber ich fühlte nichts, zumindest nichts, was man auf der Erde spüren könnte. Leere, egal wie sehr ich auch versuchte, mit und in meinen Gedanken etwas zu erschaffen. Auch die Zeit schien hier keine Bedeutung mehr zu haben, denn ich konnte in keinem Moment feststellen, wie lange ich schon “hier“ war.
Dann sah ich einen Funken von Licht. Mein Verstand fürchtete sich davor, aber mein Herz wollte zu ihm. Es wurde heller und heller, und kam mir immer näher. Nicht ich erreichte es, es kam zu mir, Als das Licht mich berührte, war alles so wahnsinnig hell, wie ich noch nie in meinem Leben etwas gesehen hatte. Ich schlug die Augen auf. In einem Krankenhaus. An mir waren Schläuche, wohin ich auch blickte. Neben mir zwei Stühle, auf dem einen meine Mutter, auf dem anderen saß meine Franzi. Sie sah zuerst, dass ich erwacht war, und es rollte eine Träne aus ihren wunderschönen, blau-grauen Augen über ihre Wange. Wie in Zeitlupe sah ich den Tropfen fallen, und als er aufschlug, begriff ich.
Ich weiß nicht, wem es gebührt, aber danke! Danke für die Einsicht, danke für eine zweite Chance…
© 17.02.2003