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Abgesessene Zeit
Absolute Ruhe. 25 Köpfe beugen sich über verschiedenfarbige Blätter. Mathematikabitur. Ich trage meinen Namen, mein Geburtsdatum und meine Chiffre in das abtrennbare Feld ein und weiß insgeheim schon, dass ich damit den größten Teil meiner Arbeit geleistet habe. Viel mehr wird nicht hinzuschreiben sein.
Ich schaue mich um. Nebenan lächelt mir meine Freundin aufmunternd zu, Daumen nach oben. Wahrscheinlich glaubt sie mehr an mich als ich das tue.
Die erste Aufgabe ist eine Ableitung. Das geht gerade noch so. Bei der nächsten ist schon Endstation.
Um mich herum lauer ernste Mienen, Stirne in Falten gelegt. Bonbonpapierchen rascheln, Schraubverschlüsse an Sprudelflaschen werden auf- und zugedreht. Die Lehrer vorne langweilen sich sichtlich.
Ist eigentlich noch genügend Tinte im Füller?
Den Pflichteil, der ohne Hilfsmittel zu bearbeiten ist, hätten sie auch in Altgriechisch drucken können, ich hätte nicht mehr verstanden. Sehnsüchtig schaue ich zu meinem Taschenrechner hinüber, die blöden Funktionen hätte er für mich zeichnen können.
Mein Vordermann rutscht auf dem Stuhl hin und her. Verstohlener Blick zum Nebenmann, der allerdings auch noch nicht viel zuwege gebracht haben scheint, zumindest findet er wohl nicht viel, das es sich abzuschreiben lohnt.
Ein Blick auf die Uhr. Erst eine Stunde vergangen! Ich lege meine Blätter ordentlich in meine Mappe und gebe sie vorne ab, um erst einmal gemütlich auf die Toilette zu gehen.
„Viel Glück beim Mathe-Abi!“, hat jemand an den Spiegel geschmiert und drunter die binomischen Formeln, die mir leider keinen Schritt weiterhelfen.
Endlich gibt der erste den Pflichtteil ab! Natürlich der Klassenbeste in Mathe, aber jetzt gebe ich auch ab, natürlich aus anderen Gründen.
Im Wahlteil sehe ich auch nicht mehr Land als vorher, da helfen mir zwei Taschenrechner und die Formelsammlung auch nicht viel weiter.
Ich werfe einen gelangweilten Blick aus dem Fenster. Der Himmel draußen ist grau, auf dem Parkdeck stehen ein paar Sechzehnjährige bewundernd um einen neuen Roller herum und rauchen.
Der vor mir benutzt doch tatsächlich den Taschenrechner, obwohl der im Pflichtteil verboten ist und er denselben noch nicht abgegeben hat! Ist dem eigentlich klar, dass er bei so einem „Täuschungsversuch“ sein gesamtes Abitur aufs Spiel setzt? Aber die Lehrer vorne rascheln nur mit der Zeitung.
Ich bekomme Hunger. Während ich die Haare eines Mitschülers betrachte (expansiver Spliss bis auf halbe Höhe!) esse ich genüsslich einen Müsliriegel.
Ich starte einen letzten, verzweifelten Versuch, doch ich begreife nicht, was in der Aufgabe überhaupt gefragt ist und stelle noch in aller Ruhe die Zeit- und Datumsangaben in meinem Taschenrechner um. Muss ja schließlich auch einmal gemacht werden.
„Schon fertig?“, fragt mich die Lehrerin vorne verdutzt, als ich ihr meine „Aufschriebe“ in die Hand drücke.
„Gar nicht erst angefangen“, antworte ich und gehe.