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Abgang
Die drei Portionen auf dem Tisch könnten von außen so aussehen, als würde gleich eine Familie zusammen essen aber hinter dem dritten Teller voller Bratkartoffeln verbirgt sich - nichts (mehr). Der Ehemann und ich gucken uns an. Mein Fehler. Da habe ich wohl, ohne nachzudenken, ihr Lieblingsgericht gekocht, nämlich Bratkartoffeln ohne Speck, wobei, eigentlich habe ich viel nachgedacht, auch über sie, bloß nicht über das Essen oder eher die Anzahl der Kartoffeln, die ich gekocht habe. Der Ehemann und ich schauen uns kurz an, weil da drei Portionen auf dem Tisch stehen, aber wir nur noch zwei Personen sind. Da ist also ein Essen zu viel auf dem Tisch, ein Tisch, der mal für eine Familie gedacht war, aber jetzt sitzen nur wir beide daran, und ich fange an zu weinen, weine wie eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, und der Ehemann stimmt mit ein und weint wie ein Vater, der seine Tochter verloren hat. Wir weinen noch eine Weile weiter, um die Tochter, die wir verloren haben, die wir nicht kannten aber irgendwie schon, wir hatten uns sogar schon fast auf einen Namen geeinigt und den (seinen) Träumen einer Familie weinen wir auch hinterher.
Am Anfang haben wir versucht, uns zu trösten, es aber dann auch sein lassen. Wir haben uns die Trauer nicht verdient aber wir werden sie akzeptieren und weitermachen. Deshalb fangen wir an, immer noch unter Tränen, den ersten Bissen zu nehmen. Das Essen ist versalzt, das weiß ich, aber der Ehemann sagt nichts dazu und dafür bin ich ihm dankbar. Ihre Portion habe ich danach in den Kühlschrank gepackt, wir werden es zwar nicht essen können, aber es einfach wegzuschmeißen, wäre einfach zu viel, OK?
Den Ehemann habe ich im Rausch kennengelernt. Um genauer zu sein, kann ich mich nicht mehr an unsere erste Begegnung erinnern, sondern erst an den Moment, als ich nackt neben ihm mit einem Kater aufwachte. Darauf war ich mal wieder nicht stolz, aber an die Situation war ich gewöhnt. Woran ich nicht gewöhnt war, war das fehlende Kondom, das ich nirgendwo finden konnte. Der jetzige Ehemann konnte es auch nicht finden, aber alles war gut, weil ich ja, wie VERANTWORTUNGSVOLL ich bin, die Pille nehme. Nun gut, kein Kondom? Kein Problem, ich hatte ja vorgesorgt. Es wurde dann leider doch zum Thema, als ich fünf Wochen später bei einem Date, jemand anderes als der Ehemann, mich übergeben musste. Damals hatte ich sogar ein Kondom dabei.
Meine Eltern waren fast SUPPORTIVE. Ich freue mich schon auf mein Enkelkind, hatte Mama gesagt. Wenigstens eine, die positiv war. Papa hatte kaum etwas gesagt, uns eher dazu gezwungen, zu heiraten. Er würde keinen BASTARD akzeptieren oder, was eigentlich wichtiger war, finanziell unterstützen. Der (fast) Ehemann hatte nichts dagegen, er war Musiker und wartete auf seinen Durchbruch, der garantiert mit dem nächsten Gig in der Kneipe kam, aber um auf Nummer sicher zu gehen, war die finanzielle Unterstützung von Papa wichtig. Die Hochzeit, bezahlt von Papa, war klein, aber trotzdem fast so, wie ich es mir als kleines Mädchen vorgestellt hatte. Halt ohne all meine Freunde oder den Sonnenuntergang an einem Strand in Bali oder meinen TRAUMPRINZEN. Dafür war das Hochzeitskleid genau das, was ich mir schon immer gewünscht hatte. Ja, die Hochzeit war beschissen, aber das Babybuch, das mir Mama gekauft hatte, meinte, dass man immer positiv denken soll, weil das Kind im Bauch spürt, wenn die Mama gestresst ist und weil ich eine gute Mama sein wollte, dachte ich positiv. Ich dachte nicht nur positiv, sondern ernährte mich auch positiv und gesund, viel Obst, viel Gemüse, wenig Alkohol, keine Drogen und viele Bratkartoffeln, weil das das Kind mag. Das weiß ich, weil ich ja eine gute Mama war und so etwas spürte.
Das Kind hat sich dann im siebten Monat von uns verabschiedet. Vielleicht hat es meine wirklichen Gedanken gespürt, dass ich den Ehemann überhaupt nicht leiden konnte, oder den Stress um meine eigene Zukunft, weil ich ja meine Ausbildung zur Buchhändlerin abbrechen musste, oder die UNTERDRÜCKTEN Tränen von der (scheiß) Hochzeit, die sich die ganze Zeit angestaut hatten. Vielleicht ist es ja daran ertrunken? Oder an den Gläsern Wein, die ich heimlich abends alleine und unter dem Schnarchen des Ehemanns getrunken habe. Vielleicht wollte es mir einfach einen Gefallen tun und mich aus der Situation befreien. Wer weiß? Ich auf jeden Fall nicht, und ich will es, glaube ich, auch nicht wissen. Was ich aber weiß, ist, dass ich ab sofort keine drei Portionen mehr kochen muss, sondern nur noch eine.