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Abflug
Ein blondes Mädchen rennt an uns vorbei, es lacht und zeigt auf die Flugzeuge vor dem Fenster. Immer wieder winkt sie nach ihren Eltern, die eilig den Gepäckwagen vor sich her schieben und die Kleine ermahnen, nicht zu weit wegzulaufen. Zwischen ihnen schlängelt sich ein Geschäftsmann hindurch, er drückt ein Handy ans Ohr und zischt abgehackte Kommentare in den Hörer. Ich sehe an ihm vorbei in den Zeitschriftenladen und beobachte eine Reisegruppe in gelben T-Shirts, die sich kurz vor Abflug noch mit Lesestoff und Kaugummis ausstattet. Es liegt eine Anspannung in der Luft, ein Flimmern, das mich an heißen Asphalt erinnert, eine kaum greifbare Mischung aus Vorfreude und Nervosität.
Die Geräusche erreichen mich nur gedämpft. Um uns herum spannt sich eine unsichtbare Blase, in der er und ich abgeschottet von den anderen Schutz finden. Meine Hand liegt in seiner, wir sehen uns an, in meinem Bauch breitet sich Wärme aus, als habe jemand eine Kerze in meinem Innern angezündet. Ich schließe die Augen und sauge seinen Geruch in mir auf. Es gibt nur ihn und mich, nur mich und …
Die Stimme der Stewardess schneidet ein Loch in unsere Schutzhülle. Sie bittet Familien mit Kindern nach vorne, bevor das Boarding für alle anderen beginnt. Der Mann und die Frau von vorhin rufen nach ihrer Tochter und schnallen ihr den bunten Rucksack auf den Rücken. Das Gesicht der Kleinen wird ernst, als sie versteht, dass sie gleich in das Flugzeug steigen wird, und sie greift nach der Hand der Mutter. Die drei gehen zum Schalter, während sich hinter ihnen eine Schlange derer bildet, die ungeduldig darauf warten, endlich einsteigen zu können.
Ich beobachte das Geschehen gelassen, wir gehen immer erst an Bord, wenn das Gewusel vorbei ist. Doch plötzlich steht er auf. Ich greife nach seinem Arm, halte ihn fest.
„Wo willst du denn hin?“, frage ich. Meine Stimme zittert.
„Nur kurz auf die Toilette, bin gleich wieder da.“
Er beugt sich zu mir herunter und küsst mich auf die Stirn.
Ich spüre seine Lippen auf der Haut, ein Kribbeln überzieht mein Gesicht, wandert zum Nacken und verliert sich zwischen den Schultern. Bevor er sich umdreht, sieht er mich noch einmal an und ich schlucke. Da ist eine Nuance in seinem Blick, die es früher nicht gab, die mir in diesem Moment die Kehle zuschnürt. Am liebsten will ich aufspringen, ihm hinterherrennen, mich an ihn krallen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Doch ich lächle, winke ihm zu und sehe ihm nach. Ich beobachte jeden seiner Schritte, die geschmeidige Art, mit der er den Raum durchquert, und atme tief ein und aus.
Die Schlange vor unserem Gate bewegt sich stetig vorwärts und ich hole die kleine Reisemappe mit unseren Unterlagen aus dem Rucksack. Sie fühlt sich dünner an als sonst.
Die Lautsprecherdurchsagen durchströmen die Wartehalle, ein Herr wird ausgerufen, eine Flugverspätung angekündigt, ich versuche, sie auseinanderzuhalten, aber in meinem Kopf verschwimmen die nasalen Stimmen miteinander, bilden Sätze, die keinen Sinn ergeben.
Ich reibe mir die Augen und halte nach ihm Ausschau. Mit jedem Fremden, der die Toilette verlässt, schlägt mein Herz ein wenig schneller. Mein Blick springt zurück zu unserem Gate, die Schlange wird kürzer, aber ein paar Minuten haben wir noch.
Ich lehne mich zurück und schüttle den Kopf. Beruhige mich damit, dass auf der Toilette sicher viel los ist, völlig normal bei so vielen Menschen. Ich lege unsere Unterlagen zur Seite und wische meine Hände an der Hose ab. Erneut sehe ich zu den Toiletten, dann auf die Uhr. Zehn Minuten ist er schon weg.
Die vielen Menschen machen mich nervös, ihr Gemurmel scheint plötzlich lauter zu sein als vor ein paar Minuten, ihre Schritte gehetzter. Schließlich stehe ich auf, greife nach meinem Rucksack und gehe auf die Toiletten zu. Ich bleibe stehen und trete von einem Fuß auf den anderen. Ein paar der Männer mustern mich irritiert, als ich versuche, einen Blick hineinzuwerfen.
Die Stewardess fertigt gerade die letzten Passagiere ab, nicht mehr lange und sie wird uns ausrufen. Ich spüre meinen Herzschlag in der Kehle, der Magen verknotet sich, mir wird übel. Mein Blick huscht durch die Wartehalle, hastet über all die wartenden Menschen in der leisen Hoffnung, ihn beim Verlassen der Toilette verpasst zu haben. Doch da sind nur Fremde, die gedankenverloren auf das Rollfeld starren oder sich mit ihren Mitreisenden unterhalten. Unter meinen Füßen fängt der Boden an zu schwanken. Mein T-Shirt klebt am Rücken, ich bekomme nur mühsam Luft und stütze mich an der Wand ab. Plötzlich starren sie mich an, sie tuscheln miteinander, reden über mich. Bestimmt machen sie sich über mich lustig, über meine Panik, nur weil mein Mann ein paar Minuten länger braucht als üblich.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ich zucke zusammen, als mich eine Hand am Ellenbogen berührt. Ein älterer Herr mit warmen Augen steht neben mir, er runzelt die Stirn und beugt sich ein Stück vor.
„Geht’s Ihnen nicht gut?“
„Nein, ich … Alles okay, es ist nur …“ Ich wische mir mit der Hand über’s Gesicht. „Mein Mann.“
„Was ist mit ihm?“
„Er ist schon eine ganze Weile da drin und … Unser Flug – wir müssen jetzt eigentlich los und ich weiß nicht, wo er ist, und ich kann ja nicht einfach …“ Ich deute auf die Toilette.
„Wie heißt er denn?“
„Tom.“ Als ich seinen Namen ausspreche, fährt mir ein Stich ins Herz. Ich halte die Luft an und schließe die Augen.
„Beruhigen Sie sich, ich hole ihn“, sagt der Mann und verschwindet.
Ein paar Minuten später steht er wieder vor mir und zuckt mit den Schultern. Niemand habe auf den Namen Tom reagiert, auch nicht in den Kabinen.
Ich starre ihn an. Er fragt, ob er mich irgendwohin bringen solle, aber ich bekomme keinen Ton heraus.
Um mich herum verschwimmen die Menschen zu Farbflecken, mein Körper fühlt sich schwer an. Ich drehe mich um und gehe auf die Stewardess zu. Sie lächelt mich an und fragt nach meiner Boardkarte.
„Ist Tom Keller schon in der Maschine?“, presse ich hervor.
Sie hebt die Augenbrauen und mustert mich.
„Das … das ist mein Mann“, stammle ich. „Ich kann ihn nirgendwo finden.“
Sie holt eine Liste hervor, schüttelt mit dem Kopf. „Tut mir leid, ein Tom Keller ist für diesen Flug gar nicht eingecheckt worden.“
„Aber ich habe doch hier seine Papiere“, sage ich und ziehe Pass und Ticket aus der Reisemappe.
Sie nimmt die Dokumente an sich, wirft mir einen misstrauischen Blick zu. „Frau Keller, das ist nur Ihre Boardkarte.“
Ich reiße ihr den Zettel aus der Hand. „Nein, das stimmt nicht, das …“ Nur mein Name, nur mein Ticket. „Das kann nicht sein. Er war doch … Eben, da war er noch …“
Ich zeige zu den Männertoiletten, mein Blick springt zwischen der Boardkarte und den blauen Augen der Stewardess hin und her. Tom ist nicht da, er ist weg. Die Abflughalle fängt an, sich zu drehen.
Das Gesicht der Flugbegleiterin verändert sich plötzlich, sie reißt die Augen auf und greift nach mir, führt mich zu einer der Sitzbänke in der Nähe.
„Was haben Sie denn, brauchen Sie einen Arzt?“
„Nein, das ist nur … Zu wenig getrunken heute.“ Zitternd ziehe ich mein Handy aus der Tasche. „Einen Moment noch“, bitte ich die Stewardess, die mir zunickt und zu ihrer Kollegin zurückgeht. Die beiden mustern mich und flüstern sich etwas zu.
Ich muss ihn anrufen, sofort. Als ich mein Handy entsperre, leuchtet der kleine Briefumschlag auf. Ich öffne die Nachricht. Sie ist von Tom.
Hab gehört, du fliegst für eine Weile weg. Ich hoffe, du hasst mich danach weniger. Tut mir leid, wirklich, ich wollte dir nie wehtun. Aber gegen meine Gefühle kann ich nichts machen. Pass auf dich auf.
Benommen stecke ich das Handy in die Hosentasche und sehe mich um. Die gläserne Kuppel der Abflughalle scheint höher in den Himmel zu ragen als zuvor, ich fühle mich klein unter ihr, spüre den Druck der Glasplatten auf den Schultern.
„Entschuldigen Sie, wir müssen das Gate nun wirklich schließen …“
Die Stewardess beugt sich zu mir hinunter und sieht mich fragend an. Ich nicke, stehe auf und halte ihr mein Ticket hin.