- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Abends im Sozialamt
Lea fand es schade, dass die Amtfeier nur in der Betriebskantine statt fand. Wie gern hätte sie ein nettes Restaurant kennen gelernt. Sie kannte sich in Baden noch nicht gut aus, immerhin war es erst ihre dritte Praktikumwoche. Langsam vermisste sie sogar Floh in Deutschland, obwohl sie es gewesen war, die mit ihm Schluss gemacht hatte. Sie wollte keine Fernbeziehung, auch wenn es nur für ein halbes Jahr gewesen wäre.
Lea hielt Ausschau nach der anderen Praktikantin, aber die hatte sich wohl was Besseres für den Abend vorgenommen. Lea bereute inzwischen gekommen zu sein, aber sie hatte sich nicht getraut, gegenüber ihrer Anleiterin abzulehnen. Die alte Kollegin hatte sich so viel Mühe bei ihrer Einarbeitung gegeben.
Lea fühlte den Stoff der Tischdecken. Papier. Das gab´s als Meterware im Gastronomiebedarf. Sie erinnerte sich an einen Mensaball, für den sie mit ihrer Kollegin Endlosbahnen auf dem Boden zugeschnitten hatte. Auch in Österreich hielt man so etwas für schick. Gedankenverloren machte Lea ein paar Eselsohren ins Papier. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die Resopaltische keine Verzierung gebraucht. Alles nur Verschwendung. Unökologisch. Gemütlicher wurde es dadurch auch nicht.
Hoffentlich gab´s wenigstens was Nettes zu essen. Und genug zu Saufen. War vielleicht interessant, die Sachbearbeiter betrunken zu sehen.
Da vorn hockten die Klatschweiber vom Mittag, der Gutaussehende von der ersten Etage saß in ihrer Ecke, einen Platz hatte er freigelassen. Lea wunderte sich, warum er so oft allein aß. Manchmal gesellten sich noch zwei Kollegen zu ihm. Trotz seiner leicht arroganten Art hatte er etwas rührend Braves an sich. Allein sein ordentlich gezogener Seitenscheitel… Wie er wohl morgens im Bett aussah? Schlaftrunkene Augen, verwegen abstehende Haare, sie würde gern seine Locken durchfahren, während -. Lea ermahnte sich, aufzuhören. Was ging sie dieser Typ an? Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Aber trotzdem wüsste sie gern, ob er morgens auch immer so viel Lust hatte wie sie.
„Das Buffet ist eröffnet!"
Alle stürzten nach vorn. Lea beobachtete, dass der Hübsche zurückblieb. War er immer so rücksichtsvoll?
„Ist eh nur das, was es schon Mittags gibt."
Lea zuckte zusammen, als sie plötzlich seine Stimme hörte. Sie hatte nicht sofort begriffen, dass er mit ihr sprach. Seine schmalen Augen hatten an ihr vorbeigeschaut und mit einem Blick das Angebot registriert.
„Sie mögen wohl nicht so gern ihre eigene Küche?"
„Durchaus, aber es gibt es noch andere Dinge als Tafelspitz und Topfenkolatsche."
„Mich kann man mit alldem noch glücklich machen." Lea entdeckte am liebsten jeden Nachmittag nach Dienstschluss neue Gerichte. Und wenn es keine unbekannten Rezepte waren, freute sie sich zumindest an den fremden Namen für Altvertrautes. Über Erd-Äpfel-Salat konnte sie sich immer noch amüsieren, auch wenn es den jeden zweiten Tag in der Sozialamtskantine gab.
Lea versuchte inmitten der aufgetürmten Wurstplatten etwas Vegetarisches zu entdecken. Notfalls würde sie die Weintrauben von der Garnitur aufessen.
„Entdecken Sie hier etwas ohne Fleisch?", wandte sie sich an ihren neuen Begleiter. Aber bevor der etwas sagen konnte, antwortete schon der glatzköpfige Kellnerhelfer hinter dem Buffet.
„A vegetarisch Schmankerl für die Dame?" und hob den Deckel einer Terrine. Aber das Blaukraut sah wenig verlockend aus. Der Jungkellner schien Leas enttäuschten Blick bemerkt zu haben: „Heit hamma noch etwas Besonderes. A scheen Gemüsestrudel, noch haß."
„Wie bitte?"
„Er meint heiß", flüsterte Leas Kollege ihr unauffällig ins Ohr, sie spürte das leichte Pieksen seiner Bartstoppel. Er war wohl zwischendurch nicht zu Hause gewesen, um sich zu rasieren.
„Und was ist das dort in der Schüssel?" Lea lächelte verstohlen. Sie wusste den Namen selbst, aber sie wollte so gern noch mal die Bartstoppeln spüren.
„Des san Nockerln", erklärte der Glatzkopf eifrig, aber als er Leas Grinsen bemerkte, beugte er sich beleidigt mit rotem Gesicht nach vorn:
„Pass amoi auf - ." Aber Lea fiel ihm gleich ins Wort: „Und wos ist do drin?" Sie sah nicht ein, sich von diesem Kellnerhelfer duzen zu lassen.
„Wir nehmen jeder einen Streifen Strudel mit etwas Soße", versuchte Leas Kollege das Gespräch schnell zu beenden. Lea ärgerte sich. Sie hätte es gern auf einen amüsanten Zank angelegt. Aber leider schien ihr schöner Begleiter Streitereien abzulehnen. Typisch Sachbearbeiter, dachte Lea, immer förmlich. Er nahm die Teller entgegen und eilte voraus zu einem Tisch am Rand, ohne Lea zu fragen, ob sie noch Salat oder etwas anderes haben wollte. Ihr blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Hoffentlich hatte sie es sich nicht mit ihm verdorben.
„Woher können Sie eigentlich Wienerisch?" fragte er sie, als sie saßen.
„Och, kleiner Crashkurs im Internet", verriet ihm Lea zwinkernd, erleichtert, dass er nicht böse auf sie war. Sie wunderte sich, warum er selbst dialektfrei sprach. „Das Unglaubliche an der Seite ist, dass ein Kalifornier sie betreibt, weil er sich in Wien verliebt hat."
„In Wien kann man sich verlieben."
Und in die Wiener Männer, hätte Lea am liebsten hinzugefügt. Dabei wohnte er nur bei Wien.
Aus der Nähe sah er noch besser aus. Kleinjungenaugen. Wimpern, auf die sie neidisch werden konnte und die für einen Mann zu schön waren. Sie gaben ihm ein leicht kitschiges Aussehen. Wenn da nicht die Narbe wäre neben seinem linken Auge. Sie hätte gern gewusst, woher sie rührte. Die Narbe war verblasst, als hätte er sie schon als Kind besessen. Lea hatte Lust, darüber zu streicheln.
Schöne Männer schüchterten sie oft ein, aber er war sich seines guten Aussehens scheinbar gar nicht bewusst. Lea hätte viel darauf gegeben, wenn sie eine so klare Haut wie er besäße.
„Es tut mir leid, wegen vorhin. Aber ich mag keinen Streit. Ich heiße übrigens Paul Neumann." Fürchterlicher Name, dachte Lea. Auf englisch klang er allerdings geil.
„Lea Starke, ich bin aus Köln", stellte sie sich ebenfalls vor. „Ich mache hier ein kleines Schnupperpraktikum."
„Und warum in Österreich und nicht bei Ihnen zu Hause?"
„Das fragen viele." Es gab viele Antworten. Wien ein paar Monate kennen lernen und dafür noch ein kleines Taschengeld erhalten. Berufserfahrung sammeln. Der Hauptgrund war aber wohl Abstand zu Floh bekommen.
"Wo sind Sie eingesetzt?," versuchte sich Paul nach ihrem Praktikumort zu erkundigen.
„Im Referat für Behinderte. Bei Frau Standerl. Barrierefreies Wohnen."
„Da habe ich auch angefangen, als ich neu war. Nette Dame. Gefällt´s Ihnen bei uns?"
„Das wird sich noch herausstellen." Lea lächelte ihn an.
Paul aß hastig, fast pedantisch. War er in allen Dingen so rastlos?
„Essen sie immer so schnell?", fragte Lea ihn und fand sich selbst etwas unverschämt.
„Das ist mir gar nicht aufgefallen. Wenn ich zu Hause esse, bin ich ein richtiger Genießer", sagte Paul. „ Janine kocht gern besondere Sachen. Thailändisch oder koreanisch."
„Sie lassen sich bekochen?"
„Ich kann nicht kochen", gab Paul zu. „ Meine Mutter hat immer für uns gekocht."
„An meiner Grundschule gab es Kochkurse, auch für die Jungs", erfand Lea spontan, um ihn zu provozieren. Dabei hatte sie nicht einmal gelogen: An der Schule, wo ihre Mutter unterrichtete, gab es so etwas. Wenn auch erst zwanzig Jahre später.
„ Es gibt zum Glück auch Kurse für große Jungs", entgegnete Paul. „Vielleicht melde ich mich für einen in der VHS an. Halloumi braten oder polynesisches Obstkranzbasteln." Er grinste Lea an. Lea lächelte müde zurück. Männer, die Kochen nicht lernen wollten, mochte sie normalerweise nicht. War es bei ihm reine Faulheit? Oder hielt er Dinge wie Kartoffeln schälen für Frauenarbeit? Sie selbst hatte darauf auch keine Lust. Kartoffeln warf sie ungeputzt aufs Backblech und wartete bis die ganze Küche duftete.
Lea wollte gern wissen, wie Pauls Küchenfee aussah. Janine. Das hörte sich schon nach Mäuschen an. Das drei Stunden in Töpfen rührte und später selbst am wenigsten probierte.
„Die Kantine sieht heut Abend richtig gemütlich aus", versuchte Paul das Thema zu wechseln. „Allein die netten Tulpensträuße, haben sie schon einmal Tulpen in dieser Farbe gesehen?" Lea wunderte sich. In welcher Welt lebte der Kerl eigentlich? Wohnte bestimmt in irgendeinem Provinznest, noch kleiner als Baden, das er nur zum Arbeiten verließ. Aber die Tulpen sahen tatsächlich schön aus. Bevor sie nach Hause ging, würde sie heimlich ein paar mitnehmen.
„Wenigstens ein paar Kerzen hätte man aufstellen können", meinte Lea. „Dieses grelle Deckenlicht ist wie bei einem Pfarrgemeindeabend."
Paul schien beleidigt. Was hatte sie nur falsch gemacht?
„Meine schönsten Feste habe ich als Kind in der Gemeinde erlebt", sagte Paul. „Ich war fast mehr im
Gemeindezentrum als zu Hause. Meine Mutter engagierte sich überall. Kinderchor. Bibelgesprächskreis. Eineweltkreis."
„Da war ich auch drin", sagte Lea.
„Tatsächlich?" Pauls Augen leuchteten auf.
„Ja, bis ich 24 war. Danach hatte ich leider keine Zeit mehr, weil ich mein Abi nachholte." Paul schaute sie interessiert an. „Wissen Sie was? Ich werde noch mal zum Buffet eilen", fügte Lea schnell hinzu. Sie hatte keine Lust, über ihr spätes Abi zu reden und satt war sie nach der Scheibe Strudel auch nicht.
„Gute Idee. Die tollen Speisen wollen wir doch nicht den Klatschweibern überlassen." Paul zeigte auf die laut lachende Damenrunde, die schon zum dritten Mal ihre Teller vollgehäuft hatte.
Lea lächelte. Hatte sie sich verhört? Hatte er wirklich Klatschweiber gesagt?
„Schauen Sie mal. Da vorn gibt´s sogar ein Dessertbuffet", rief Lea begeistert.
„Köstlich. Mein Bauch platzt gleich", sagte Lea später zufrieden. Aber vielleicht würde sie sich später noch ein Tellerchen Strudel nehmen. Paul stand auf.
„Was darf Ich ihnen mitbringen, einen kleinen Braunen vielleicht zum Abschluss?"
„Das wäre fein, vielleicht noch mit einem Extraschuss Sahne, pardon Schlagobers."
Sie wünschte sich, dass es nach der Kaffeerunde noch einen Likör gäbe oder eine mitternächtliche Sektrunde. Aber die Kollegen dachten mittlerweile ans Aufbrechen. Niemand wollte wohl morgen verkatert im Amt erscheinen. Lea fand es schade, sich von Paul verabschieden zu müssen. Sie hatten sich so nett unterhalten, obwohl in jedem zweiten Satz Janine auftauchte und in jedem dritten Frau Mama. Aber hinter der Fassade des Gewohnheitstierchen steckte allerlei Fantasie. Das spürte sie.
"Soll ich Sie nach Hause fahren?", fragte Lea ihn spontan. Sie hatte beobachtet, dass er mit der Straßenbahn gekommen war. „Ich bin mit dem Auto da. Es macht mir keine Umstände." Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt fragen konnte. Immerhin war sie nur Praktikantin und warf die Hierarchie durcheinander. Aber er schien erleichtert.
„Gern", sagte er einfach. Sie mussten nur noch ihre Mäntel holen und sich verabschieden. Im Aufzug betrachtete sie heimlich sein Profil. Er hatte so etwas Stolzes an sich, gleichzeitig wirkte sein Mund so sanft, die Lippen leicht geöffnet. Das war ihr schon öfters aufgefallen. Man sah immer ein bißchen seine Zähne. Lea hatte Lust, ihn zu küssen. Aber er hatte ja seine Janine und sie hatten sich nicht einmal geduzt.
Im Auto wirkte er plötzlich angespannt, dabei fuhr sie für ihre sonstigen Verhältnisse eher vorsichtig.
„Sie kommen oft mit der Straßenbahn zur Arbeit", versuchte Lea das Gespräch wieder aufzunehmen. „Besitzen Sie kein Auto?"
„Doch, aber diese Woche benötigt meine Mutter den Wagen." Lea überlegte sich, ob sie mit Pauls Auto in Urlaub gefahren war. Warum besaß sie kein eigenes?
„Wo muss ich abbiegen?", fragte sie ihn, um sich nicht auf den letzten Metern noch zu verfahren.
„Die Nächste. Wir sind gleich da." Lea wunderte sich über die schöne, baumbestandene Straße mit den kleinen Arbeiterhäuschen. So etwas hatte sie nicht erwartet.
„Da vorn ist schon unser Haus." Pauls begeisterter Ausruf gab Lea einen Stich.
„Wohnen Sie mit Janine zusammen?"
„Nein, aber mit meiner Mutter." Lea stöhnte leise. Das war ja noch schlimmer.
„Sie reden immer nur von Ihrer Mutter."
„Mein Vater ist bei einem Autounfall gestorben, als ich noch ein Kind war", unterbrach Paul sie schnell.
„Das tut mir leid."
„Das muss Ihnen nicht leid tun. Es ist schon zwanzig Jahre her."
Lea stellte sich Paul als kleinen Jungen vor. Er hatte bestimmt niedlich ausgesehen.
„Wenn es MacDonalds nicht gäbe, würde mein Vater noch leben.", sagte Paul.
„Wie?"
„Wir waren nachmittags in Linz gewesen und wollten schnell nach Hause, weil für den Abend heftiger Regen angesagt war", fing Paul an zu erklären. „Mein Vater ist gerast, wie oft und ich habe von der Rückbank genörgelt, dass ich unbedingt einen Burger wollte. Bis sich mein Vater nach hinten drehte, um mir eine zu scheuern."
„Und?" Lea mochte es nicht, wenn Eltern ihre Kinder ohrfeigten.
„Der Moment hatte ausgereicht. Plötzlich war der Lastwagen da und wir krachten frontal in ihn rein."
Pauls Vater war auf der Stelle tot gewesen. Paul selbst nahezu unverletzt, bis auf die kleine Narbe neben seinem Auge.
„Es war nicht Ihre Schuld", sagte Lea.
„Nein natürlich nicht."
„Aber ein bißchen empfinden Sie es immer noch so. Sie trauen sich nicht, Ihre Mutter allein zu lassen."
„Vielleicht." Paul schwieg.
Morgen würde Lea bereuen, was sie gesagt hatte. Pauls Leben ging sie nichts an.
„Jetzt verstehe ich auch, warum Sie heute lieber besondere Gerichte mögen", versuchte Lea etwas Unbeschwertes zu sagen.
Paul lächelte. „Wenn Sie möchten, würde ich Sie gern zu etwas Besonderem einladen, in den nächsten Tagen natürlich", und strich sich über den Bauch. „Wenn wieder etwas Platz ist."