Abends beim Fernsehen
Abends beim Fernsehen
An einem der zahlreichen trostlosen Regentage im November hatte sich erstaunlicherweise die gesamte Familie zwanglos zu einem Fernsehabend zusammengefunden. Die Glotze flimmerte ausgerechnet im kleinsten und hinterstem Zimmer des ganzen Hauses. Angeblich konnten dadurch die davonlaufenden Heizkosten eingespart werden. Der wuchtige Wohnzimmer-
schrank, als einziger Einrichtungsgegenstand erwähnenswert, nahm ein Großteil des Zimmers für sich in Anspruch. Die armselige aufklappbare Schrankbar enthielt nichts außer kitschig bunten Plastikzahnstocher und einer halbleeren Flasche Sprudel. Im eingebauten beleuchtbaren Regal
lehnten wahllos zusammen geschobene Bücher aneinander, die nie jemand gelesen hatte.
Unsere schwerhörige Großmutter, die sich ausschließlich für Fußball interessierte, verfolgte gebannt, ohne auch nur im Entferntesten zu wissen, wer gegen wen spielte, irgendein langweiliges Gekicke. Wenn ich mich recht entsinne, war es ein Länderspiel. Es wurde viel von Deutschland, die Deutschen, dieser unseren Mannschaft kommentiert und von den Fans im Stadion geschrieen.
Meine jüngere und einzige Schwester, die zufällig mal zuhause geblieben war, was bei ihr so selten ist wie Regen in Zentralafrika, versuchte sich, mit geradezu verbissener Leidenschaft in ihren virtuosen Strickkünsten. Ria beim Stricken zuzusehen, konnte aufregender als ein Psychothriller sein. Ein Wirrwarr von Fäden und Wollknäuel, hing oder rollte kreuz und quer, ohne erkennbaren Ursprung durch das ganze Zimmer und sammelte sich auf rätselhafte Weise in einem Labyrinth aus mörderischen Stricknadeln, welche einen Mehrfrontenkrieg zu führen schienen. Mittendrin lag meine Schwester. Im Sitzen wäre ihre beinahe gewalttätige Art, die verschiedenen Nadeln gegen- und auseinander zu führen, gar nicht vorstellbar gewesen. Was Ria strickte, vermochte von uns keiner zu erraten.
Was anfangs wie der Ärmel eines Pullovers auszusehen schien, konnte schon bald die Form einer Mütze annehmen ohne jemals eine zu werden. Mit der Zeit gewöhnten wir es uns ab zu fragen, an was sie denn gerade arbeite.
Das Außergewöhnlichste an ihrer Strickkunst war allerdings die Art und Weise, wie sie Farben zusammenstellte. Die verschiedensten Formen, ja das komplette Farbspektrum gingen oft so ungewöhnlich ineinander über, dass man beim flüchtigen Betrachten, den wirrsten visuellen Täuschungen verfiel.
Mutter bekam wie immer von all dem nichts mit. Sie lag ordinär schnarchend auf ihrem alten, fleckigen Chaiselongue und träumte von überdimensionalen Staubsaugern. Im Fernseher konnte der spannendste Film des Jahres laufen, sobald Mutter in die Waagrechte kam, war ihr Beitrag zum gemütlichen Fernsehabend gehalten.
Am Kopfende des Sofas stand ein hässliches Stehlämpchen mit chinesischen Schriftzeichen auf dem Lampenschirm. Ich erwähne dies nichtsnutzige Ding nur, weil oben auf dem Schirmkranz eine handvoll Wäscheklammer lagen.
Notwendige Instrumente für Mutters uneigennützigen Abendbeitrag.
Von Zeit zu Zeit, wenn ihre nasalen Kehl- und Grunzlaute einfach nicht mehr zu ertragen waren, angelte sich Vater gelangweilt eine Wäscheklammer und steckte sie Mutter auf die Nase. Er stand dabei nie auf, weil er Angst hatte, die Lage seines morbiden Fernsehsessels, mit dem er übrigens bis heute nicht zu Recht kommt, könnte sich durch die Gewichtsverlagerung unvorteilhaft ändern.
Diese ungewöhnliche Art jemanden aufzuwecken, wurde bei Mutters ohnmachtsähnlichen Schlaf, eine geradezu ausschließliche Methode. Der plötzliche Luftentzug bewirkte zunächst, außer einem noch nervtötenderem Geröchel, nichts. Erst nach einer gemütlich gerauchten Zigarette, fing sich
ihre Hautfarbe langsam an zu verändern. Ausgehend von einer normalen Blässe wurde das verschlafene Gesicht allmählich von einer dunkelroten Farbe überzogen. Der ganze Kopf leuchtete wie die Heizspiralen eines Toasters.
Die Wälzphase konnte beginnen.
Fast schon wollüstig stöhnend warf sich Mutter auf dem quietschenden Sofa herum. Ob wir es wollten oder nicht; sooft wir es auch schon miterleben mussten, wir wurden jedes Mal aufs Neue gezwungen hinzustarren, wie sie es diesmal schaffen würde aufzuwachen. Die haarige Decke, in der sie wie in einer eng anliegenden Fangopackung lag, hatte sie mittlerweile mit wilden Tritten weggestrampelt. Ihr Körper bog sich, wie ein zum Zerreißen gespannter Flitzebogen. Mit dem linken Arm fegte sie so ziemlich alles, was auf dem Tisch stand, unter den Tisch. An diesem Abend war es so gut wie nichts.
Nur ein kleines, offen stehendes Schächtelchen Kleinkaliberpatronen gab schlagartig seinen bisherigen Standort auf. Die Patronen flogen bis in die Staubkussel unter dem Heizkörper. Vater, der die Reichweite von Mutters ausholendem Arm offensichtlich unterschätzt hatte, blickte fassungslos den eben erst mit großer Gewissenhaftigkeit eingeordneten Schusskörpern nach. Sie verschwanden auffällig gleichmäßig unter sämtlichen Sitzgelegenheiten, den schon erwähnten Heizkörper und unter das nicht verrückbare Monstrum von Wohnzimmerschrank.
Mutter verlor derweil bei einer der letzten Volldrehungen auf dem Sofa das Gleichgewicht. Sie schlug ziemlich dumpf auf ihren alten Staubfänger. Wahrscheinlich träumte sie noch kurz vorher davon. Immerhin, sie erwachte benommen, rappelte sich unbeholfen hoch und hob dabei mit dem Hinterkopf die Tischplatte an. Leicht schwankend brachte sie ihr verrutschtes Nachtgewand in Ordnung und verließ, immer noch die Wäscheklammer auf der Nase, kommentarlos das Zimmer.
Ohne aufzublicken klebte Vater verkrampft in seinem Sessel und ölte selbstvergessen seinen alten Wehrmachtskarabiner ein, der schon wie eine Speckschwarte glänzte. Mutters spektakulärer Abgang schien spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein. Stattdessen schielte er verstohlen zu einem notdürftig überpinselten Fleck an der Decke.
Vaters nicht gerade ungefährliche Angewohnheit, seine ohnehin blitzblank sauberen Waffen ausgerechnet im Fernsehzimmer zu reinigen, führte vor nicht ganz zwei Jahren dazu, das beim routinemäßigen überprüfen der Funktionstüchtigkeit des alten 98er sich ein Schuss löste, der das morsche Gebälk der Wohnzimmerdecke glatt durchschlug
Damals blieb Mutter die Wälzphase erspart.
Ich weiß auch nicht, aber grundsätzlich nach Mutters Abgang stierte Vater zu dem Fleck an der Decke. So als wäre er noch heute stolz darauf, das er damals ungestraft im Wohnzimmer herumballern durfte.