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Abendmahl
Es war früher Abend, als er durch die Altstadt ging. Geschäftig liefen Menschen durch die Straßen und hofften, dass es in den Läden noch ein paar besondere Dinge gab, mit denen man die Feiertage noch besonderer machen konnte. Es waren die einfachsten Sachen, von denen man in diesen Tagen träumte, Apfelsinen oder echtes Marzipan, auf Schokolade hoffte kaum einer mehr.
Seit zwei Monaten war er nicht mehr zuhause gewesen. Im Oktober kam der Marschbefehl, der ihn an den Flughafen nach Quakenbrück verschlug, an dem er als Flakjunge dienen musste. Aufregend fand er das mit seinen fünfzehn Jahren, doch in den vergangenen Wochen, in denen er fast Nacht für Nacht aus dem Bett musste um die feindlichen Bomber zu beschießen, hatte der Krieg seinen abenteuerlichen Charakter verloren und war zu dem geworden, was er wirklich war: Ein Greuel.
Auch an Düsseldorf waren die immer stärker werdenden Angriffe der amerikanischen und der englischen Bomber nicht spurlos vorbei gegangen. Seit Ostern hatte es über 800-mal Fliegeralarm gegeben, sowohl am Tag als auch in der Nacht. Die Stadt lag in Trümmern, wie fast alle Städte in Deutschland. Wilhelm ging vorbei an den Bierlokalen und Kneipen und bog in die Straße ein, in der sein Elternhaus stand, als ihm der Atem stockte. Nicht ein Haus stand mehr so, wie es vor acht Wochen noch gestanden hatte. Langsam ging er vorbei an Trümmerbergen, in denen Daheimgebliebene vergeblich Ordnung zu schaffen versuchten, indem sie Steine stapelten. And stehen gebliebenen Fassaden waren mit Kreide Nachrichten für suchende Verwandte geschrieben, „Müller jetzt bei Cölln, Friedrichstraße 14“ beispielsweise. Nur am Haus seiner Eltern fehlte eine solche Anschrift.
Langsam betrat er das Gebäude, dessen Fassade noch stand. Das gesamte Hinterhaus fehlte, nicht eine Scheibe hatte den Angriff überlebt und Schutt türmte sich in den Zimmern. „Mama? Papa?“ rufend stieg er vorsichtig die stabil wirkende Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben angekommen blickte er in den freien Himmel, der mittlerweile dunkel geworden war. Es war ein sternenklarer Abend, doch was ihn sonst zum Suchen des großen Bären oder anderer Sternbilder animiert hätte, erfüllte ihn nun mit noch größerer Einsamkeit.
Er ging zurück ins Erdgeschoss und dann in den Keller. Auch dort sah es nicht besser aus. Eingekochtes Obst war auf dem Boden verteilt, nachdem die Weckgläser wohl aus den Regalen gefallen waren. Er fand nur zwei Kartoffeln, die er sich in seine Uniformjacke steckte und mit ins Wohnzimmer nahm. Der kleine Ofen in der Ecke schien noch intakt, auch wenn das Rohr aus der Wand gerissen war. Er nahm ein paar Stuhlbeine und anderes Holz, dass herumlag, und brach es so zurecht, dass es als Brennholz dienen konnte. Ein Kissen, das er unter Trümmern der Decke hervorzog, legte er gleich neben den Ofen und setzte sich darauf.
Mit seinem Taschenmesser hebelte er die mittlerweile heiße Klappe auf und legte die Kartoffeln an den Rand der Glut, zusammen mit einer dünnen Scheibe Fleischwurst, die ihm von seiner Wehrration geblieben war. Er weinte, als er sein abendliches Mahl zu sich nahm und schlief wenig später unter Tränen ein, am Heiligen Abend 1944.