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Abendessen mit Salz
Mike und Nicky waren nie das perfekte Ehepaar. Sie haben sich selber nie als Vorbild für andere Paare empfunden und auch ihr Freundeskreis war äußerst sparsam mit Einladungen zu Geburtstagen oder Kinoabenden. Die zwei haben sich auch nicht auf besonders spektakuläre Weise kennengelernt, ihre Hochzeit konnte man mit der Atmosphäre eines Leseabends vergleichen und die letzten 17 Jahre wurden lediglich durch die Geburt der kleinen Mary zu etwas Besonderem. Vielleicht gab es diesen einen Moment, in dem das Band zwischen Mike und Nicky angefangen hat Risse zu bekommen, damals als Mary starb.
Mike wollte ein zweites Kind aber Nicky hatte jahrelang mit den Folgen des Verlustes ihrer Tochter zu kämpfen. Herzlos, nannte sie ihren Ehemann, weil er im Laufe der Jahre seine Taktik, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen, perfektionierte. Es ist nicht so, dass er sich zurückgezogen hatte und sich nicht mitteilen wollte. Vielmehr hat er irgendwann entschieden, dieses Thema tief in seinem Herzen zu vergraben und nie wieder danach zu suchen. Nicky wusste das, aber fand selber nie die Kraft mit Mike darüber zu sprechen. Sie wusste um ihre eigenen Gefühle und die verwirrten sie. Irgendwann, es war ein Samstagabend, stand sie schockiert vor dem Badezimmerspiegel und musste sich etwas Verstörendes eingestehen: Zwischen dem Zähneputzen und der Mundspülung wünschte sie sich, dass damals nicht Mary gestorben wäre, sondern Mike. Deshalb fing Nicky an, ihren Ehemann gedanklich von jenem Ort auszusperren, der vor langer Zeit einmal so etwas wie Liebe und Zuneigung empfinden konnte ohne jemals mit irgendjemandem darüber zu sprechen, erst recht nicht ihm.
Und so saßen sie beide am Esstisch vor dem wunderbar duftenden Abendessen und stocherten lieblos im kaltgewordenen Nudelauflauf herum. Schon zwei Mal aufgewärmt, dachte sich Nicky. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihren Mann, der völlig kalt, mit leblosem Blick die kleinen Portionen in den Mund schob. Nicky hatte längst aufgegeben sich zu fragen wieso er sie nachts nicht mehr berührte. Im Grunde genommen war sie froh, dass Mike nicht mehr ihre Nähe suchte; es kostete Kraft sich auf diese Person am Ende des Tisches einzulassen, der ihr so fremd geworden war. Und der Mann, den sie vor langer Zeit gebraucht hätte, ist nicht mehr hier.
Mike dagegen aß den mehrmals aufgewärmten Auflauf und war genervt von seiner Unfähigkeit ein Gesprächsthema anzufangen. Für ihn bedeuteten diese Abende Stress: Alles Spannende, was er am heutigen Tag erlebte, war auf einmal vergessen. Es schien schwer einen klaren Gedanken zu fassen und es war mühsam sich mitzuteilen. Sein Kopf war leer und er fand keine Kraft etwas zu sagen. Er fühlte sich nicht gefangen aber auf eine seltsame Art und Weise seiner Ehefrau hilflos ausgeliefert. Im Gegensatz zu Nicky hat er gelernt seine verstorbene Tochter nicht mehr zu vermissen. Immer wieder sah er in Nickys Augen, dass sie bereit wäre ihre Seele zu verkaufen, nur um Mary noch einmal in den Armen halten zu dürfen. Er fühlte, dass sie glücklicher wäre, wenn Mary noch leben würde und er an ihrer Stelle auf der Wiese blutend in dem kalten Gras neben dem brennenden Autowrack den Tod gefunden hätte.
"Wir sind damals alle drei gestorben", flüsterte er leise. Nicky schaute zu ihm auf und erwiderte: "Tu nicht so, als wenn dich ihr Tod noch kümmern würde."
Sie sprach diesen Satz mit einer Gleichgültigkeit, die Mike verletzte. "Du gibst mir die Schuld". Er sagte das nicht wie eine Frage, sondern eher wie eine schmerzhafte Erkenntnis.
"Mike, du hast das Auto gefahren", erwiderte sie scharf.
Mike kannte diese Diskussion und wusste wie sie enden würde: "Mary hätte nicht gewollt, dass wir so über sie reden".
"Mary ist aber tot", warf Nicky ihrem Ehemann entgegen.
"Ich habe damit abgeschlossen", sagte Mike und legte die Gabel zur Seite, um das Gespräch zu beenden.
Nicky wurde wütend. Wütend über diese Arroganz Ihres Ehemannes. Sie wusste aber zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es niemals wirklich um Mike ging. Irgendwie beneidete sie ihn. Sie wollte auch abschließen können, wollte auch nach vorne blicken und wieder glücklich sein. Es fühlte sich aber leichter an, jemanden zu hassen. Aber was ist Hass schon wert, wenn der andere nicht bereit ist sich verletzen zu lassen?
Mike konnte die tiefen Messerstiche fühlen, die seine Frau ihm zufügte und er glaubte sie würden niemals wieder verheilen. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er das Gefühl langsam auszubluten, langsam an Kraft zu verlieren und ganz langsam aufzuhören ein Mensch zu sein. Mike konnte irgendwie damit leben, dass Nicky ihm den Tod wünschte, ein klein wenig konnte er sie auch verstehen. Immerhin saß er am Steuer und fiel für einen kurzen Moment in den Sekundenschlaf. Schuld? Sicherlich. Seit diesem Tag wusste Mike, dass Schuld das intimste Gefühl überhaupt sein kann. Er konnte Nicky also sehr gut verstehen aber er konnte sich selbst diesen einen Moment der Unachtsamkeit niemals verzeihen. Noch Jahre später wird Mike diese Schuld spüren, sie wird sein Leben weiter beeinflussen und ihn begleiten. Die Schuld ist ein enger Freund geworden, den man nicht mehr loswerden kann. Vielleicht lag darin auch die Erkenntnis: Sie ist nun ein Teil seines Lebens geworden. Aber Mike erkannte auch, dass alle Wunden, die man sich selber zufügt am schwersten heilen.
Für einen Moment blieben beide in ihren Gedanken hängen. Sie versuchten dieses neue Gefühl, welches sich in ihren Köpfen zähflüssig ausbreitete zu greifen, zu spüren.
"Kannst du mir mal das Salz reichen?", fragte Mike und sah Nicky, seine Ehefrau, für einen Bruchteil einer Sekunde etwas zu lange in die Augen, die früher mal geleuchtet und geglänzt haben. "Ich möchte auch", ergänzte sie und wartete bis Mike fertig war.