Abend und Morgen an der Joyce Avenue
Er spürte den Geschmack von Schokoladen–Creme, Glühwein und Zigarettenrauch auf seinem Gaumen, saß in einer Kneipe Ecke Joyce Avenue östlich des Flusses an einem Tresen am Fenster, den Blick unverwandt auf die dunkle, regnerische Straße gerichtet, grübelnd und die vom Licht der Laternen beleuchteten Regentropfen betrachtend.
Junge Paare flanierten unter weiten Regenschirme vereinzelt vorbei den Beobachtenden hinter der Scheibe überblickend.
Er bemerkte sie auch nicht.
Für ihn waren sie einzelne Komponenten des Films der vor seinen Augen ablief. Ein kleiner Teil des Ganzen, ebenso wie die Tropfen, das Licht und die Nacht.
Er schnitt noch ein Stück von dem mit Schokoladen–Creme gefüllten Pfannkuchen ab und die dunkle, flüssige Creme entfaltete ihr süßes Aroma auf seinem Gaumen. Seine Gedanken wanderten zu den Arbeitern, die die Kakaobohnen in den Regenwäldern Südamerikas geerntet hatten. Dann entsann er sich des Samens der vor vielen Jahren in den warmen Boden gelegt worden war, an die ersten Triebe und die zarten Blättchen und das im Zeitenstrom gedeihende Wachsen, die Rinde und dann – der große ausgewachsene Baum mit den Bohnen an den Ästen, die vom Gewicht derer zu Boden geneigt waren.
Die volle Pracht der Natur in einem kleinen Teil des Regenwaldes.
In Gedanken dankte er allen und allem die möglich gemacht hatten, dass er nun die Blüte, das Höchste, was aber doch nur ein Bruchteil des Ganzen war, kosten durfte.
Und er saß dort, ruhig dahinsinnend und von der Außenwelt abgeschottet. Sein Innenleben beschäftigte ihn intensiv.
Er wollte aufs Land – in die Ruhe.
Man muss nur den gesunden Ausgleich zwischen Seelen- und Stadtleben finden, dachte er.
Das Alter schmerzt. Überall.
Und er sah die Jungen vorbeihetzen. Sie jagten ihrer verloren geglaubten Zeit wie lechzende Dämonen hinterher.
Noch einmal jung sein...
Das Feuer spüren.
Aber ihm fielen auch ihre gleichzeitig etwas melancholisch, nachdenklich und traurigen Gesichter ins Auge. Was sie doch noch alles erleben und erfahren würden – und er könnte es ihnen jetzt sagen, doch jeder muss es noch auf seine Weise rausfinden.
Leid und Glück der Jugend.
Doch nicht diese Müdig- und Erschöpftheit des Alters, so wie es ihm jetzt ging. Eine Seelenqual, die das Leben oft im ewig gleichen Trott dahinlaufen ließ.
Wann kam der große oder auch kleine Knall der ihn aus seinem Dornröschenschlaf erwecken würde?
Im Raum erhob sich eine Musik. Eine Gruppe aus alten und jungen Menschen verschiedener Herkunft vermischten die Sounds ihrer Seele mit denen ihrer Heimat in halb improvisierten, halb einstudierten Klängen, die sich in ihrem großen Ganzen zu etwas gemeinsamen entwickelten. Dort standen sie; viel zu viele für die kleine Bühne, davor und daneben und er lauschte und die anderen Leute lauschten und die Instrumente aus den verschiedenen Weltteilen manifestierten sich im Hier, im Raum, der ihm noch kurz zuvor nicht bewusst gewesen war.
Kraftvoll hielten sie ihre Musik in Spannung.
Die Musik, das Ganze, war wie ein eigener Trip in der Welt voller nie endender verschiedener Trips, die manchmal über das ganze Leben dauerten und von denen das Leben selbst ein ganz eigener Trip war. Sozusagen der ultimative Trip mit all den Farben, Tönen, Schattierungen.
Und der alte Großmeister steht am Marimba Xylophon mit wirrem Haar, doch er fühlt die Rhythmen, schüttelt seinen Kopf der auf dem von einem dünnen seidenen Tuch umschlungenen Hals, bebrillt und weise und schön.
Der Eine spielt das Saxophon in unglaubliche Melodien eintauchend mit Hingabe, Liebe und ruf ihm zu es auch zu versuchen, es spielen zu lernen und dann seine eigenen Seelenklänge erklingen zu lassen, denn das Saxophon ist ein Seeleninstrument. So weich, sanft und dramatisch wie ein Windhauch an der Atlantikküste.
Ich sollte es lernen, dachte er bei sich, den Blechblasinstrumentenseelensound in der Herrlichkeit seiner Selbst erkunden (obwohl es allgemeinhin als Holzblasinstrument bezeichnet wird), doch es hat das gewisse Etwas von beiden in sich, das Saxophon, eine Mischung von Posaune und Klarinette.
Une vrai mélange de la nature.
Und der leibhaftige Held der den Dudelsack betätigt, so auf seine ganz eigene Weise, wie es dem Innern des Dudelsacks entspricht.
Wie traurig musste es für einen Musiker sein von diesem gewaltig-schön berauschenden Klangganzem Abschied zu nehmen.
Was wäre das Leben ohne Musik?
Was wäre das Leben ohne das Leben?
Was wäre...? Was wäre...`?
Es war Tag. Frühmorgendliche Nebelschwaden glitten durch die Straßen. Er erwachte mit dem Kopf auf dem Tresen. Er hob den Kopf und die müden Augen suchten Halt im Nebel. Ein Kellner kehrte den Dreck auf dem Bretterboden zusammen, die Augen klein und erschöpft und als er sah, dass er erwacht war, wandte er sich zu ihm und hielt in seiner Arbeit inne:
„Wie geht’s?“
„Ein wenig müde.“
„Ein schöner Tag wird’s heute.“
„Ich hoffe, ich störe sie nicht!“
„Nein.“
„Was werden sie an diesem schönen Tag tun?“
„Ich weiß es nicht.“
„Sind sie glücklich?“
„Gewiss.“ Ein müdes, schönes Lächeln.
„Haben sie die fantastischen Musiker gehört?“
„Aber sicher doch. Tolle Menschen.“
Der Kellner wandte den Blick ab als ob er sich schäme und Tommy blickte auf die von den Bäumen herabfallenden Blätter. Der Herbst ging in den Winter über.
„Wie heißen Sie?“, frage der Kellner.
„Tommy Romero. Und Sie?“
„Mathieu Aubrac. - Freut mich“, und er reichte ihm die Hand.
Er erwiderte den Händedruck, begleitet von einem mit allen Wassern gewaschenen Lächeln und drehte sich dann eine Zigarette.
„Schön, dass ich Sie getroffen habe, Mathieu.“
Und er ging aus der Kneipe heraus, entzündete sich die Zigarette, verschwand um die Ecke in den schönen Morgen hinein.